Berlinale 2025: Mutterschaft auf und jenseits der Leinwand
Es ist nicht mehr zu leugnen – und wer es nicht beobachtet, leidet unter einem ganz besonderen blinden Fleck – dass die Themen Mutterschaft, Reproduktionsarbeit und Vereinbarkeit mehr und mehr ihren Weg auf die Kinoleinwände finden. Das ist erst einmal eine gute Nachricht und sicher auch zum Teil darauf zurückzuführen, dass der aktivistische Kampf für mehr Gleichberechtigung in der Branche erste Erfolge zeigt und wir mehr Geschichte von und über Frauen bzw. FLINTA zu sehen bekommen.
Als alleinerziehende Mutter freue ich mich besonders, wenn sich meine Lebensrealität in Filmen und Serien widerspiegelt, doch allein der Begriff „Mutterschaft“ in der Synopse macht noch keinen guten Film. Im Gegenteil schaue ich natürlich dort ganz genau hin, wo ich mich am stärksten identifiziere oder identifizieren möchte. Zudem existiert Mutterschaft für mich auch abseits der Leinwand, in dem Versuch, Job und Sorgearbeit zu vereinbaren. Es folgt also ein persönlicher Festivalbericht – über Filme, aber auch den Alltag als Mutter auf der Berlinale 2025.
Ich will alles. Hildegard Knef, Beginnings und Das Licht
Die erste Mutter, der ich bei der Berlinale 2025 begegne, ist Hildegard Knef. Ich sehe Ich will alles. Hildegard Knef in der Vorab-Pressevorführung. Dieses Jahr schaffe ich das nur mit drei Filmen. Für mehr ist im Vereinbarkeitsstruggle keine Zeit. Niemand bezahlt mich für das Sichten dieses Films. Aber wenn wir ehrlich sind, selbst wenn ich einen Text dazu verkauft hätte, wäre das Honorar sehr wahrscheinlich immer noch nicht die investierten Arbeitsstunden wert gewesen. Screener, also Sichtungslinks für zu Hause, sind über das Festival kaum noch zu bekommen. Über die jeweiligen Pressevertreter*innen der Filme gelingt dies schon eher, doch wer hat Zeit, die alle einzeln anzuschreiben? Alleinerziehende Mütter, die neben der Filmkritik noch lohnarbeiten, in jedem Fall nicht.

@ Privatarchiv Hildegard Knef
Der insgesamt sehr gelungene Dokumentarfilm über die Chanson-Legende erzählt mir zu wenig über Mutterschaft. Natürlich wäre es sexistisch, die Biografie der Sängerin und Schauspielerin darauf zu reduzieren, doch gleichzeitig möchte ich wissen, wie Knef es geschafft hat, Kind und Karriere unter einen Hut zu kriegen. Ich wünsche mir Inspiration für mich selbst, bekomme sie aber nicht.
Die zweite Mutter ist Ane (Trine Dyrholm), die in Beginnings einen Schlaganfall erleidet und fortan auf Grund körperlicher Behinderungen mit ihrer Fürsorgeverantwortung ringt. Der Film spiegelt meine größte Angst, mir wird fast schlecht dabei. Was ist, wenn mir das passiert? Zu mir kommt kein Ehemann nach Hause, der mich auf dem Boden findet. Wer kümmert sich dann um mein Kind? Würde ich das überhaupt überleben… meine Gedanken drehen unangenehme Kreise. Ich glaube, das spricht für den Film.

Beginnings © Thomas Howalt Andersen, Danni Riddertoft
Der dritten Mutter begegne ich erst beim Festivalauftakt, als ich den misslungenen Eröffnungsfilm Das Licht schaue. Ich werde schier wahnsinnig davon, wie Tom Tykwer hier eine Mutter zeigt, die sich auf Grund ihrer beruflichen Selbstverwirklichung vollkommen von ihren Kindern entfremdet hat – ja, genau, die klassische berufstätige „Rabenmutter“. Immerhin schenkt Tykwer seiner Figur eine Therapiesitzung, in der ich mich mit meinen mütterlichen Minderwertigkeitskomplexen und der daraus resultierenden Scham wiederfinde. Doch kurz darauf sehe ich wieder die in ihren Beruf aufgesogene „Rabenmutter“, wie sie mit dem Handy am Ohr an ihren Kindern vorbeilebt, während der Film ihren mindestens genauso beschäftigten und abgelenkten Ehemann niemals kritisch in seiner Vaterschaft beleuchtet. Danke für nix, Tom Tykwer. Ein Sensitivity Reading hätte Wunder gewirkt. Kannst dich gerne beim nächsten Mal melden!
Mütter jenseits der Leinwand
In den folgenden Tagen begegnen mir viele weitere Mütter. Doch fast ausschließlich auf der Leinwand. Obwohl ich im Zuge der Berlinale 2025 mehrere Veranstaltungen besuche, auf denen ich nahezu ausschließlich mit Frauen ins Gespräch komme, finde ich andere Mütter in erster Linie in den Filmen. Woran liegt das?
Zunächst ist Filmkritik an sich ein sehr männlicher Beruf, der durch seine zunehmend schlechte Bezahlung immer ausschließlicher mehrfach privilegierten Personen zugänglich ist. Das schließt Mütter, insbesondere alleinerziehende, grundsätzlich aus. Zweitens handelt es sich bei den Veranstaltungen, die ich besuche, um Events rund um Diversität und Inklusion. Es tummeln sich dort also vor allem feministische Aktivist*innen. Und wer hat Zeit für unbezahlten feministischen Aktivismus? Exakt.
Frauen bzw. FLINTA, die Kinder bekommen, verlassen – zumindest für begrenzte Zeit, wenn nicht dauerhaft – in der Regel die Filmkritik und auch den Aktivismus, weil sie sich noch mehr unbezahlte Arbeit nicht mehr leisten können (auch in Paarbeziehungen tragen Frauen nach wie vor den Großteil der unbezahlten Care-Arbeit, selbst wenn sie berufstätig sind). Übrig bleiben ältere Frauen/FLINTA mit bereits erwachsenen Kindern oder kinderlose Personen. In der feministischen aktivistischen Sphäre gibt es eine recht große Gruppe von FLINTA, die sehr bewusst auf eine Familiengründung verzichtet haben – zum Teil sicher auch deshalb, weil sie sich der Folgen von Reproduktionsarbeit für ihr Leben besonders bewusst sind.

© Lia Darjes
Ich stehe stets mit gemischten Gefühlen auf diesen Networking-Events. Einerseits freue ich mich, bekannte Gesichter wiederzusehen, ein paar kollaborative Kontakte zu knüpfen. Gleichzeitig habe ich mehrfach personifiziert vor Augen, wo ich beruflich heute stehen könnte, hätte ich mich gegen (m)ein Kind entschieden. Ein kleiner Teil Frauen, mit denen ich früher regelmäßig und intensiv im Gespräch war, meidet mich oder verhält sich im Gespräch merkwürdig gehemmt, scheint keine Gesprächsthemen zu finden. Ich fühle mich, als hätte ich durch die Geburt meines Kindes eine feministische Todsünde begangen, die Bewegung verraten, dem Patriarchat in die Hände gespielt, in dem ich Mutter geworden bin. Irgendwie sowas. Andere wiederum, mit denen ich einst regelmäßig private und persönliche Gespräche geführt habe, erkundigen sich mit keinem Wort nach meinem Kind. Als würde es nicht existieren. Noch niemals – ich wiederhole niemals – wollte eine Person bei einer dieser Veranstaltungen ein Foto von meinem Kind sehen. Echte Kinder, so in Fleisch und Blut, tauchen ebenfalls nicht auf.
Vereinbarkeit – Mother’s Baby und If I Had Legs I’d Kick You
Dieses Phänomen, dass du nach der Geburt eines Kindes einerseits dieselbe und doch eine andere bist und dass – unabhängig davon, wie du dich selbst fühlst – einige Menschen dir grundverändert gegenübertreten werden, war für Johanna Moder Inspiration zu ihrem Film Mother’s Baby. Das weiß ich allerdings nur aus einem Interview mit der Regisseurin, denn aus dem Film konnte ich diese Botschaft nicht entnehmen. Vielmehr witterte ich in dem unausgegoren zwischen Psychodrama und -thriller wabernden Film einen Subtext irgendwo zwischen Wochenbettdepression und Kindstod, konnte die einzelnen narrativen Versatzstücke allerdings weder zu der einen noch zu der anderen Metapher zusammensetzen. Meine Motivation allerdings schrumpft auch von Filmminute zu Filmminute in Anbetracht der in meinen Augen haarsträubend an der Realität vorbei inszenierten Darstellung von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett. Als eine Person, die selbst eine schwierige bis traumatische Geschichte als werdende Mutter hinter sich hat, fühlte ich mich von Mother’s Baby verraten. Ich wollte, dass diese Geschichte richtig erzählt wird, eindeutig, mit Angeboten zur Identifikation, mit einer optimistischen Botschaft der Heilung und/oder Emanzipation. Nichts davon konnte ich in dem Film entdecken.

Mother’s Baby © FreibeuterFilm
Während Moders Heldin dirigiert, als wäre nichts gewesen, stehen mir auf dem Nachhauseweg von meinem letzten Networking-Event die Tränen in den Augen. Es ist der Schmerz über die unmögliche Vereinbarkeit, dazu verdammt zu sein, sich immer wieder zwischen Beruf und Kind entscheiden zu müssen, weil sie in diesem unserem System einen verdammten Gegensatz bilden. Letztlich ist das auch immer eine Entscheidung zwischen meinen eigenen Bedürfnissen und denen, eines anderen Menschen. Ein großer Teil der emotionalen Belastung von Fürsorgearbeit ist der anhaltende Aufschub oder gar Verzicht auf die eigene Bedürfnisbefriedigung. Ein Film, der das dieses Jahr besonders gekonnt zum Ausdruck gebracht hat, ist If I Had Legs I’d Kick You. Obwohl ich keine pflegende Mutter bin, habe ich mich in diesem Film immer wieder selbst entdeckt. In meiner bodenlosen Erschöpfung, mit dem Glas Wein als einzige Form der „erwachsenen Freizeitbeschäftigung“, wenn das Kind endlich schläft. In Gesprächen mit dem Kindsvater, die Mary Bronstein aus meinem Leben abgeschrieben zu haben scheint.
Im Patriarchat ist Elternschaft Anlass zu Diskriminierung
Wären da wenigstens noch andere, mit denen ich darüber sprechen könnte. Und wo sonst wären diese anderen Mütter und Eltern zu finden als bei Veranstaltungen über Diversität und Inklusion, die mehrheitlich von FLINTA besucht werden? Wenn sie dort nicht sind, sind sie nirgendwo. Und genau deshalb ist Vereinbarkeit wohl auch bei den Diversity-Events so auffällig abwesend.
Die Schauspielerin und Bloggerin Belinde Ruth Stieve, treibt seit einigen Jahren das Thema „familienfreundliches Drehen“ voran. Doch jenseits des Filmsets begegne ich dem Thema in der Filmwelt kaum. Auch nicht bei den vielen, vielen Veranstaltungen zum Thema Vielfalt und Gleichberechtigung. Dabei sind Kinder, so traurig es auch ist, ein marginalisierendes Merkmal. Das heißt: Menschen, die Kinder haben, sind in unserer Gesellschaft weniger privilegiert als Menschen ohne Kinder. In meinen Diversity Trainings entzünden sich an der Kategorie „Kinder“ die größten Diskussionen. Den wenigsten Menschen ist klar, wie stark sich Fürsorgeverantwortung – allgemein! Nicht nur für Kinder! – auf die Position im gesellschaftlichen Machtgefüge auswirkt. Gleichzeitig erkennen viele Menschen Elternschaft deshalb nicht als Diskriminierungsdimension an, weil sie selbst gewählt sei. Wie frei Frauen wirklich sind, Kinder zu bekommen, wäre ebenso zu diskutieren, wie die Tatsache, dass auch Religionszugehörigkeit meist einer persönlichen Entscheidung entspringt und dennoch als Marginalisierungsmerkmal anerkannt ist. Dass Eltern und insbesondere Mütter in vielen Aspekten ihres privaten und beruflichen Alltags benachteiligt sind, ist nicht auf individuelles Versagen, sondern die Machtstrukturen des kapitalistischen Patriarchats zurückzuführen. Für ein besseres Verständnis der ökonomischen Faktoren von Sorgearbeit empfehle ich übrigens Jo Lückes Buch Für Sorge.
Kurz gesagt: Vereinbarkeit ist die größte Lüge des kapitalistischen Patriarchats.
Positive Beispiele und wie sie sich vermehren können
An meinem letzten Tag der Berlinale 2025 treffe ich vor dem Kino (Lesbian Space Princess – bester Film dieses Jahr!) die Regisseurin Claudia Rorarius. Sie ist alleinerziehend mit zwei Kindern. Und macht Filme. Am vorherigen Tag hat Kateryna Gornostai, die Regisseurin des ukrainischen Wettbewerbsbeitrag Timestamp, in Berlin ihr Kind entbunden. Einen Tag vor der Weltpremiere ihres Films bei einem der wichtigsten internationalen Festivals der Welt.
Es gibt sie also doch, diese Frauen, diese Mütter. Aber was sagt mir das? Es gibt auch Frauen in den Chefetagen, Professorinnen, Starchirurginnen und so weiter. Sie sind die Ausnahme von der Regel. Ich weiß, ich bin die Ausnahme von der Regel – als alleinerziehende Filmkritikerin und Aktivistin mit einem Kind unter sechs. Aber ich wäre das lieber nicht. Ich wäre lieber eine von vielen. Vielleicht gäbe es dann während der Berlinale mehr Networking-Events und Presse-Vorführungen am Vormittag. Vielleicht liefen dann mehr Kinder auf dem Festival herum. Vielleicht gäbe es dann Finanzierungstöpfe für betreuende Begleitpersonen. Vielleicht würde das Ticket-Kontingent nicht ausgerechnet um die Uhrzeit freigeschaltet, wenn jedes Elternteil gerade Frühstück macht oder die Kinder in die Betreuung bringt.
Zu echter Gleichberechtigung gehört auch echte Vereinbarkeit. Und manchmal habe ich das Gefühl, dieses Thema ist die letzte große Bastion des Patriarchats. Überlegt euch mal, welche Kräfte und Kapazitäten frei würden, wenn Frauen bzw. FLINTA nicht durch Sorgeverantwortung gezwungen wären, in allen Aspekten ihres beruflichen und aktivistischen Lebens kürzerzutreten?
Das wäre doch mal ein Stoff für einen Kinofilm.
- Berlinale 2025: Mutterschaft auf und jenseits der Leinwand - 27. Februar 2025
- Berlinale 2025: Heldin - 22. Februar 2025
- Berlinale 2025: La Tour de glace – Kurzkritik - 20. Februar 2025
Liebe Sophie, herzlichen Dank für den Text, sehr interessante Gedanken!
Passend zur ,Mutterschaft auf der Leinwand‘ möchte ich alle einladen, an meiner Umfrage „Darstellung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie in fiktionalen Filmen und Serien“ teilzunehmen – bei der es allerdings um deutschsprachige Produktionen geht. Ihr findet sie auf meiner Webseite filmfamilie.stieve.com unter Umfragen.
Danke und beste Grüße, Belinde