Berlinale 2025: If I Had Legs I’d Kick You
Linda fällt nicht nur im übertragenen Sinne die Decke auf den Kopf: Als sie eines Tages mit ihrer Tochter nach Hause kommt, reißt ein großes, endlos wirkendes Loch im Apartment auf und macht es unbewohnbar. Die beiden ziehen in ein Motel, von dem aus Linda ihren Job als Therapeutin, das Child Treatment Program ihres an einer unbenannten körperlichen Disposition leidenden Kindes, ihre eigenen Therapiestunden und die Baustelle in ihrem Haus navigiert. Mit ihrem physisch abwesenden Partner steht sie bloß im telefonischen Austausch. Seiner Stimme (Christian Slater) kommt eine dennoch machtvolle Präsenz bei, wenn er tonangebend seine Sätze formuliert. Rose Byrnes Performance trägt einen aufwühlenden, bizarren Film, der visuell und emotional nah, zuweilen sehr nah an seiner Protagonistin bleibt, während ihre Tochter die meiste Zeit der Handlung nur hör- aber nicht zur Gänze sichtbar wird. Mary Bronstein nimmt uns mit ihrem zweiten Spielfilm If I Had Legs I’d Kick You in den fordernden Alltag einer Mutter mit, deren Leben zunehmend aus den Fugen gerät.___STEADY_PAYWALL___

© Logan White / A24
Täglich muss Linda ihre Tochter beim Child Treatment Program absetzen, dessen Leiterin (gespielt von Mary Bronstein selbst) sie mehrfach ermahnt, das Kind müsse das Ziel, ein bestimmtes Maß an Gewicht zuzulegen, schneller erreichen. Mit einem Schlauch wird es künstlich ernährt und bleibt deshalb der Schule fern. Rose folgt den Anweisungen, ist aber auch abgelenkt von den anderen Baustellen ihres privaten und beruflichen Lebens. So verlangen auch ihre eigenen Patient*innen mehr Aufmerksamkeit als vorgesehen: einer fühlt sich offensichtlich von ihr angezogen, eine andere, eine verzweifelte Mutter, verlässt die Session und ihr Säugling bleibt auf der Couch zurück. „Ich bin keine Mutter“, sagt sie noch kurz zuvor, um zu verdeutlichen, dass sie ihr neuer Lebensalltag, in dem der Partner keinen Anteil der Sorgearbeit übernimmt, überfordert. Auch von Linda wird ständig die “perfekte”, alles alleine problem- und sorglos jonglierende Mutterrolle verlangt. Im Motel verbringt sie ihre Zeit auf engem Raum mit der Tochter, hat aber auch das Bedürfnis, mal kurz Luft, oder eine Flasche Wein, zu schnappen oder auf der nicht enden wollenden Baustelle nach dem Rechten zu sehen. Sie sollte aber an der Seite ihres Kindes bleiben. Ihrem Partner lügt Linda deshalb am Telefon vor, Babysitter James (A$AP Rocky) werfe ein Auge auf die schlafende Tochter, während sie mal eben durch die Nacht streift. Doch mit dem kontaktfreudigen James surft sie stattdessen im Dark Web – einer der wenigen Momente, in denen Linda nicht primär Stress oder Erschöpfung ausgesetzt ist.
Bronstein erklärt, dass das Gefühl von Angst und Druck, das eine*n als Eltern eines erkrankten Kindes begleitet, für die Entwicklung der Geschichte ausschlaggebend war. Das mag auch der Grund für die Entscheidung sein, das Kind kaum zu zeigen, um den Fokus noch intensiver auf Linda zu legen. Um welche Form von Krankheit es sich handelt, ist nicht relevant für den Plot, da es um die emotionale Aufmerksamkeit an sich geht, die dadurch von der Versorgerin verlangt wird. Zwar besucht Linda selbst einen Therapeuten, nämlich ihren Kollegen am Ende des Ganges, doch wirken diese Sessions eher kontraproduktiv, da die berufliche Nähe Grenzen überschreitet und eine produktive Gesprächsatmosphäre verhindert. In ihrer Verzweiflung übertritt Linda mehrere Grenzen, die sich nur als Lösungen für den Moment eignen, meist aber umso langwierigere Konsequenzen mit sich ziehen. So verspricht sie etwa ihrer Tochter, einen Hamster zu besorgen, damit sie alleine ins Kinderzentrum geht, weil Linda keinen Parkplatz findet: der Anfang einer Reihe aufwühlender Ereignisse auf der späteren Rückfahrt ins Motel. Solche Szenen verdeutlichen, wie vermeintlich kleine Momente zu großen Anstrengungen im Eltern-Kind-Alltag werden können. Die Sogwirkung der Narration ermöglicht es, dass wir als Publikum mit Linda mitfühlen, ihr Stress überträgt sich auf uns.
Je mehr Tage sie im Motel verbringt, desto mehr scheint Linda am liebsten in dem schwarzen Loch verschwinden zu wollen, das monströs-surreal-schmatzend in der Decke klafft und deutlich ihren inneren Zustand repräsentiert. Auch das Loch im Bauch ihres Kindes scheint endlose Universen von dunklen Seelenlandschaften in sich zu bergen. Wie lassen sich die inneren Löcher füllen, die aufreißen, wenn wir Hilfe brauchen und mit den Nerven am Ende sind, fragt If I Had Legs I’d Kick You indirekt. Wie lässt sich ihre Sogwirkung stoppen und wie kann das für Linda und ihre Tochter bloß enden?
If I Had Legs I’d Kick You wird bei der Berlinale 2025 im Wettbewerb gezeigt.
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