Berlinale 2025: Ari

Der 27-jährige Grundschulreferendar Ari (Andranic Manet) ist ein sensibler und melancholischer junger Mann. Nachdem ihn ein Unterrichtsbesuch an und über seine Grenzen gebracht hat, kommt es auch noch zum Eklat mit seinem Vater, der Ari Faulheit und Passivität vorwirft und ihn auf die Straße setzt. Fortan besucht Ari Freund*innen, schläft in der U-Bahn oder an anderen öffentlichen Plätzen, immer auf der Suche nach einem Ort oder Menschen, bei denen er ankommen könnte.

Ari von Léonor Serraille ist nicht nur das Porträt eines einzelnen jungen Mannes, sondern auch das einer Generation. Die Hauptfigur und ihre Altersgenoss*innen unterscheiden sich zwar in ihren individuellen Lebensentwürfen, sind aber durch eine auffallende Selbstbezogenheit geeint, die sich in Blindheit für die eigenen Privilegien und einer Resignation gegenüber der politischen Weltlage manifestiert. Das spiegelt sich auch in Serrailles Inszenierung, in der Kamera von Sébastien Buchmann, die den Figuren, insbesondere Ari, immer derart nahe ist, dass wir als Zuschauer*innen kaum ein Gefühl für deren Umgebung entwickeln können. 

© Geko Films – Blue Monday Productions – ARTE France – PICTANOVO – Wrong Men – 2025

___STEADY_PAYWALL___Doch im Spiegel dieser limitierten und ichbezogenen Perspektive steckt keine Kritik. Ari ist genährt vom respektvollen Interesse der Regisseurin an ihrer Hauptfigur, die einen durchaus typischen jungen Mann darstellt, auf der Suche nach seiner Identität zu sehr um sich selbst kreisend, als dass er Verantwortung übernehmen, daran wachsen und mit ihrer Hilfe Beziehungen zu anderen Menschen eingehen könnte. Ari ist ein Flaneur, der von Freund*innen zu Freund*innen tingelt, einen Blick in ihr Leben wirft, ohne wirklich in Beziehung zu treten, und gedanklich in der eigenen Vergangenheit lebt. Bis ihn das Aufeinandertreffen mit seiner Ex-Freundin plötzlich dazu bewegt, einen anderen Weg einzuschlagen. 

Eines der zentralen Themen in Aris Entwicklungsgeschichte ist das der Elternschaft. Léonor Serraille leitet ihren Film zunächst mit einer intimen und zärtlichen Szene zwischen Ari und seiner Mutter ein und widmet sich dann auf eine Weise der Vater-Sohn-Beziehung, wie wir es aus dem Kino sonst eher aus Mutter-Tochter-Geschichten kennen. Hier werden keine aggressiven Dialoge über stereotype Männlichkeitsbilder geführt, statt durch körperliche Härte sind die Auseinandersetzungen spürbar von Zärtlichkeit getragen. Nicht zuletzt schläft der sensible Ari auch als erwachsener Mann neben seinem Vater noch immer am besten. Der Generationenkonflikt läuft stattdessen entlang der Einstellung zu Lohnarbeit und Familiengründung, kurz gesagt der Definition und Bedeutung von Verantwortung. Aris Vater, selbst Handwerker und seit dem Tod seiner Frau alleinerziehendes Elternteil, kann nicht verstehen, wie sein Sohn sich diese Phase der Reflexion und Sinnsuche erlauben kann. Seine Position spiegelt eine nur allzu bekannte Skepsis gegenüber Millennials wider, die Selfcare gegenüber Karriere und Hauskauf priorisieren und dafür von der Boomer-Generation als faul deklariert werden.

Léonor Serraille gibt Ari den Raum, den ihm sein Vater nicht zugestehen möchte, lässt ihn flanieren, weinen, lachen, nachdenken. Umso bedauerlicher ist es, dass sie den Weg ihres Helden schließlich doch in konservative Bahnen lenkt. Und obwohl Aris Flucht vor Verantwortung durch das unerwartete Aufeinandertreffen mit seiner Ex-Freundin eine ganze neue Dimension annimmt, die sich auch kritisch hätte hinterfragen lassen, schenkt ihm Serraille schließlich ein ungetrübtes Happy End. Damit gesteht sie ihrer männlichen Hauptfigur allerdings auch umfänglich ihre vorhergehende selbstbezogene Orientierungslosigkeit als legitimen Weg zum Ziel zu, ohne sie auch nur im Ansatz kritisch zu beleuchten. Der weitverbreitete Männertyp „Ich muss mich einfach mal um mich selbst kümmern“ und „ich bin noch nicht bereit, für jemand anderen als mich selbst Verantwortung zu übernehmen“ erfährt ebenso eine zweifelhafte Adelung wie die Idee, dass die Persönlichkeitsentwicklung eines Mannes vor allem durch eine Frau initiiert gehört – obwohl diese Ideen durch ihre sozialen Implikationen durchaus zum Spektrum „toxischer Männlichkeit“ gehören. So schön und von spürbarer Zärtlichkeit getragen Serrailles Porträt von Ari auch ist, so unbefriedigend, weil einen sexistischen Status quo untermauernd, gestaltet sich seine Auflösung. Wie schade.

Ari ist als Weltpremiere bei der Berlinale 2025 zu sehen.

Sophie Charlotte Rieger
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