Berlinale 2025: Sorda
Was heißt es, als gehörlose Frau in einer hörenden Mehrheitsgesellschaft Mutter zu sein? Diese Frage stellt sich Protagonistin Ángela (Miriam Garlo) in Eva Libertads Sorda, als sie und ihr hörender Partner Hector (Álvaro Cervantes) gemeinsam ein Kind erwarten. Inspiriert von Gesprächen mit ihrer gehörlosen Schwester Garlo, die auch die Hauptrolle übernimmt, untersucht Libertad die Vereinbarkeit der hörenden und gehörlosen Welt, teils anhand von Bevormundung und Ausgrenzung, die Ángela erfährt, insbesondere aber durch ein nuanciertes und emotionales Porträt einer liebevollen Paar- und Familiendynamik, die zwischen den Welten balanciert.

© Distinto Films, Nexus CreaFilms, A Contracorriente
___STEADY_PAYWALL___Sorda präsentiert Gehörlosigkeit nicht als Defizit, für das wir Ángela bemitleiden sollten, sondern legt einen Fokus darauf, wie die hörende Gesellschaft gehörlose Menschen ausschließt. Dabei meidet Libertad größtenteils die Darstellung eines bewusst böswilligen Ableismus — häufig die einzige Form, die Nicht-Betroffene als Diskriminierung erkennen — und zeigt stattdessen auf, wie hörende Personen gehörlose Menschen oft nicht einmal beabsichtigt diskriminieren, sondern zum Beispiel weil sie sie unterschätzen, insgeheim bemitleiden und deshalb bevormunden, oder aber weil sie sie schlicht nicht mitdenken. So spricht beispielsweise ausgerechnet der Verkäufer im Fachgeschäft für Hörgeräte keine Gebärdensprache und bei der Geburt schickt das Krankenhauspersonal Hector, der für Ángela dolmetscht, aus ihrem Sichtfeld, sodass sie die Anweisungen der Ärztin nicht verstehen kann. Doch auch in der Familie und im Freundeskreis hat Ángela teils mit Ableismus und mangelnder Rücksichtnahme zu kämpfen. Menschen sprechen durcheinander, was das Lippenlesen oder Dolmetschen erschwert; Hector vergisst teils zu übersetzen und antwortet einfach für sie; ihre eigenen (hörenden) Eltern äußern sich besorgt über ihre Schwangerschaft und die Möglichkeit, dass auch das Kind gehörlos sein könnte. Die Frage, was es jeweils für das Kind und ihre Beziehung zueinander bedeuten würde, wenn es gehörlos oder hörend wäre, beschäftigt auch Ángela sehr.

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Insbesondere in ihrer Darstellung von Ángelas und Hectors Beziehung zeigt Libertad einfühlsam und ehrlich, dass auch in liebevollen zwischenmenschlichen Beziehungen gut gemeint nicht immer gut gemacht ist, wie sich mit der Geburt eines Kindes etablierte Beziehungsdynamiken verändern und neue hinzukommen, aber auch, dass tiefe Zuneigung, offene Kommunikation und der Wille, daran zu arbeiten, letztendlich die wichtigsten Bausteine einer funktionierenden Beziehung sind. So beschränkt sich Sorda mit seinem Fokus auf die Gefühlswelt seiner Hauptfigur nicht auf die Darstellung der Schwierigkeiten, denen gehörlose Menschen in einer hörenden Welt begegnen, sondern ist in erster Linie auch ein bewegendes Beziehungs- und Familienporträt.
Zudem legt Libertad stets Wert darauf, Ángela trotz der Hürden, denen sie begegnet, nicht als isoliert und einsam zu präsentieren. In der Töpferei, in der sie arbeitet, ist sie ein geschätzter Teil des Teams, das trotz mangelnder Gebärdensprachkenntnisse ihrer Kolleg*innen Wege zur offenen Kommunikation findet. Zudem hat Ángela einen großen gehörlosen Freundeskreis, mit dem sie gemeinsam ausgeht, in den Urlaub fährt und durch den sowohl sie als auch das Publikum weitere Einblicke in das Leben gehörloser Eltern hörender und gehörloser Kinder bekommen. Für diese Darstellung sprach Libertad während des Drehbuchschreibens mit gehörlosen Müttern, deren Erfahrungen in den Film einflossen, wie sie im Q&A nach einer Filmvorführung verriet. Gehörlos sein, das scheint Libertad wichtig zu sein, bedeutet in erster Linie auch, Teil einer vielfältigen und liebevollen Gemeinschaft zu sein.

© Nuria Jean
Getragen wird Sorda von den schauspielerischen Leistungen der Hauptdarsteller*innen Garlo und Cervantes sowie Libertads Regie und Gina Ferrer Garcías Kameraführung, die deren emotionale Nuancen gekonnt unterstreichen. Auch in Szenen ohne große (gesprochene oder gebärdete) Worte ist Ángelas und Hectors intime Beziehung in jeder Einstellung greifbar, ihre Unsicherheiten, Verletzlichkeit und auch die kleinste Veränderung in ihrer Dynamik spürbar. Libertad macht insbesondere Ángelas Gefühlswelt für das Publikum erlebbar, in dem die Kamera stets nah bei der Protagonistin bleibt, ihren Bewegungen mit der Handkamera folgt, ihre eigene Perspektive einnimmt oder im Close-up auf ihrem Gesicht ruht, sodass sämtliche Nuancen von Garlos Mimik zur Geltung kommen. Deren Schauspiel ist dabei so vielschichtig und beeindruckend, dass kaum zu glauben ist, dass es sich bei Sorda nach Libertads gleichnamigem Kurzfilm erst um Garlos zweite Film-Schauspielrolle handelt.
Sorda lief bei der Berlinale 2025 im Rahmen der Sektion Panorama und erhielt den Panorama Publikums-Preis in der Kategorie Spielfilm.
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