September & July – Ariane Labed im Interview

Die Schwestern September (Pascale Kann) und July (Mia Tharia) stehen einander sehr nahe, auch wenn sie unterschiedlicher nicht sein könnten. September ist in der Schule eine Außenseiterin, gilt als seltsam und unheimlich und hat sich zum Ziel gemacht, ihre liebenswürdige, aber naive Schwester zu beschützen. Doch der Übergang zwischen beschützen und kontrollieren wollen ist fließend. Als July beginnt, sich von September zu lösen und ihren eigenen Weg zu gehen, gerät die Beziehung der Schwestern ins Wanken.

Ariane Labed

© Yorgos Lanthimos

September & July ist das Langfilm-Regiedebüt der französischen Schauspielerin Ariane Labed (u.a. Alice und das Meer) und feierte 2024 auf den Filmfestspielen Cannes in der Sektion „Un Certain Regard“ Premiere. Im Interview spricht die Regisseurin mit uns über ihre komplexen Frauenfiguren und den female gaze und gibt spannende Einblicke in die Arbeit vor und hinter der Kamera.

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Dein Film ist eine Adaption des Romans Die Schwestern von Daisy Johnson. Darin geht es um die enge, fast schon symbiotische, aber auch verstörende Beziehung der titelgebenden Schwestern September und July. Warum hast du dich für diesen Stoff entschieden?

Mich hat die Komplexität der Figuren und ihrer Dynamik gereizt. Die Beziehung der Schwestern zueinander und zu ihrer Mutter Sheela (Rakhee Thakrar) entwickelt sich immer weiter, verschiebt und verändert sich, und es lässt sich nie einfach sagen „Sie ist böse“ oder „Sie ist die Gute“. Ich fand zum Beispiel spannend, dass die weiblichen Charaktere Eigenschaften wie Gewalttätigkeit haben, die sonst in Medien eher Männern zugeschrieben werden, und dass in dieser Familie aus drei Frauen eine in gewisser Weise die Überbleibsel der Vaterfigur und des Patriarchats in sich trägt und das das Gleichgewicht in der Familie gefährdet.

Ein weiterer Aspekt, den ich interessant fand, ist das Genre. Ich glaube, ich hatte ein wenig Angst davor, weil ich eigentlich keinen Genrefilm geplant hatte, aber ich fand das Buch so toll, dass ich unbedingt etwas daraus machen wollte. Es war eine aufregende Herausforderung für mich, eine Sprache für den Film zu finden und eine Handlung, die primär in der Psyche der Figuren stattfindet, für die Leinwand in etwas Konkretes zu übersetzen.

Apropos Genre: MUBI z. B. führt den Film als Drama, aber im Pressematerial erwähnst du auch die Horror-Elemente. Wie würdest du das Genre beschreiben? Lässt sich der Film überhaupt einordnen?

Ich glaube, das ist nicht möglich. Ich weiß, dass es das schwerer macht, den Film zu vermarkten, aber ich habe das auch mit Absicht gemacht. September & July fängt als Coming-of-Age-Film an und entwickelt sich dann in eine andere Richtung. Er ist die Adaption eines gothic novels – ein Genre, das für Elemente wie z. B. Geister bekannt ist –, aber ich habe versucht, diese Elemente so konkret und physisch wie möglich umzusetzen, weil das die Art ist, wie ich die Welt um mich herum verstehe. Ich wünsche mir, dass das Publikum nicht mit konkreten Erwartungen an den Film rangeht, sondern sich in der Geschichte verliert und nicht weiß, was auf es zukommt. Ich hoffe einfach, dass September & July die Leute neugierig macht und immer wieder überrascht.

September (Pascale Kann), Sheila (Rakhee Thakrar) und July (Mia Tharia) sitzen zusammengekuschelt auf dem Sofa unter einer Decke.

© Sackville Film and Television Productions Limited – MFP GmbH – CryBaby Limited – British Broadcasting Corporation ZDFarte 2024

Außerdem wollte ich anerkennen, dass es schwer ist, Mutter zu sein. Ich glaube nicht, dass man darin wirklich gut sein kann.

Neben der Schwesternbeziehung spielt auch das liebevolle, aber auch angespannte Verhältnis der Mädchen zu ihrer alleinerziehenden Mutter eine zentrale Rolle im Film. Was war dir dabei wichtig?

Ich wollte eine Mutter zeigen, die nicht nur eine Mutterfigur ist; die nicht nur da ist, um sich um die Kinder zu kümmern. Sheela hat auch andere Themen, die sie beschäftigen, und versucht, ihren eigenen Weg im Leben zu finden. Außerdem wollte ich anerkennen, dass es schwer ist, Mutter zu sein. Ich glaube nicht, dass man darin wirklich gut sein kann. Man kann es versuchen und wir sehen immer wieder, wie Sheela das tut, aber manchmal kann sie auch nicht mehr. Und das finde ich viel interessanter und nachvollziehbarer als die Idee einer perfekten oder einer bösen Mutter. Sie ist einfach menschlich, versucht ihr Bestes und scheitert manchmal dabei.

Im Pressematerial erwähnst du auch, dass du und Rakhee Thakrar, die Sheela spielt, beide keine Mütter seid und die Figur deshalb vielleicht von einer anderen Perspektive aus angegangen seid.

Ja, das stimmt. Rakhee und ich sind im gleichen Alter und als wir uns getroffen haben, um über die Figur der Sheela zu sprechen, haben wir beide gesagt: „Wir sind keine Mütter und wir wollen auch keine sein.“ Es ist selten, eine andere Schauspielerin zu treffen, die darüber so offen spricht. Aber natürlich können wir trotzdem auf der Leinwand Mütter sein, weil wir alle zumindest die Erfahrung haben, eine Tochter zu sein, und ich mir in meinem Alter auch der Narben bewusst bin, die meine Mutter vielleicht bei mir hinterlassen hat. Ich denke, mit viel Zärtlichkeit, Mitgefühl und einer gewissen Distanz ist es möglich, aus dieser Perspektive einen Blick auf Mutterschaft und Mutter-Tochter-Beziehungen zu werfen, ohne selbst Mutter zu sein. Und ich glaube, das hat uns auch geholfen, eine Figur zu schaffen, die in erster Linie eine Frau ist und nicht nur eine Mutter, und das war mir von Anfang an wichtig.

September (Pascale Kann) und July (Mia Tharia)

© Sackville Film and Television Productions Limited – MFP GmbH – CryBaby Limited – British Broadcasting Corporation ZDFarte 2024

Deine Hauptdarstellerinnen Mia Tharia und Pascale Kann sind beide noch recht neu in der Schauspielwelt; für Pascale ist es ihr Filmdebüt. Kannst du uns mehr über den Casting-Prozess erzählen?

Für Sheela und July habe ich speziell nach Schauspielerinnen indischer Herkunft gesucht. Das war mir sehr wichtig, weil es in Großbritannien eine große indische Community gibt und weil es, auch schon im Buch, für die Familiendynamik wichtig ist, dass die Schwestern sehr unterschiedlich aussehen. July ähnelt ihrer Mutter und September ihrem Vater, der nicht indischer Herkunft ist.

Ich habe nicht nach Schauspielerinnen mit viel Filmerfahrung gesucht, sondern nach jungen Leuten mit einer Verbindung zum Theater oder der Bereitschaft, Geschichten zu erzählen. Wir haben viel in Theater- und Tanzschulen gesucht. Meine Casting-Direktorin hat Mia in einer Theaterschule gefunden und Pascale hat Erfahrung im Zirkus.  

Insgesamt hat der Casting-Prozess ungefähr ein Jahr gedauert. Ich habe viele, viele fantastische junge Frauen getroffen, aber es gibt diesen Moment, in dem du jemanden siehst und weißt: Das ist sie! Ich weiß noch, als Mia die Tür zum Casting-Raum geöffnet hat, dachte ich sofort: Da ist July. Das hat etwas Magisches an sich.

Mädchen, Frauen, ihre Sexualität und ihre Lust abzubilden, ohne jemanden oder etwas zu sexualisieren oder dem männlichen Publikum gefallen zu wollen, das ist vielleicht meine größte Leidenschaft.

Eine Sache, die an September & July für mich heraussticht, ist die Offenheit, mit der du Details des Alltags deiner Protagonistinnen zeigst, die in anderen Filmen häufig nicht vorkommen, z. B. Menstruation, das Rasieren oder Nicht-Rasieren von Körperbehaarung oder Sex, bei dem Sheela mit den Gedanken abschweift. Was war hier dein Ansatz?

Es war mir sehr wichtig, diese Aspekte realistisch abzubilden. Das ist für mich der female gaze, der mir sehr am Herzen liegt, und mein erster Spielfilm hat mir die Möglichkeit gegeben, das umzusetzen. Als Regisseurin konnte ich mich zum Beispiel entscheiden, eine Binde zu zeigen, oder wie die Schwestern sich die Beine rasieren, oder wie Sheela Sex mit einem Mann hat, den sie gerade erst getroffen hat, und ihm zeigt, wie er sie auch ohne Penetration befriedigen kann. Natürlich ist es auch mein eigener Blickwinkel; ich repräsentiere ja nicht alle Frauen. Aber Mädchen, Frauen, ihre Sexualität und ihre Lust abzubilden, ohne jemanden oder etwas zu sexualisieren oder dem männlichen Publikum gefallen zu wollen, das ist vielleicht meine größte Leidenschaft.

Diese Sexszene habe ich bewusst einfach gehalten, ohne übertrieben romantisches Kerzenlicht oder zig Aufnahmen vom Hintern der Figuren und all sowas. Ich wollte, dass der Moment ungezwungen wirkt, keine große Sache ist und auch lustig, dadurch, dass wir Sheelas Gedanken hören. Ich finde es wichtig, solche Momente zu entzaubern. Sexszenen in Filmen vermitteln teilweise absurd hohe Standards dafür, wie wir uns zu verhalten oder auszusehen haben, und das kann die eigene Sexualität negativ beeinflussen; zumindest habe ich diese Erfahrung gemacht. Deshalb ist es für mich auch eine politische Entscheidung, Sexualität auf diese authentische Art zu zeigen.

Mir hat besonders der Moment gefallen, in dem Sheela beim Sex einfällt, dass sie sich länger nicht im Intimbereich rasiert hat, und dann beschließt, dass es ihr egal ist (und ihrem Sexpartner anscheinend auch). Das fand ich toll, weil andere Filme oft nur rasierte Frauenkörper als attraktiv präsentieren.

Ja, genau. Ich habe kein Interesse daran, dass meine Figuren irgendwelchen Schönheitsstandards folgen oder vermeintliche Kriterien erfüllen, um Männern zu gefallen. Sie sind wunderschön, wie sie sind.

Rakhee Thakrar als Sheila in September & July

®Despina Spyrou

In September & July gibt es nicht viel extradiegetische Musik, also klassische Filmmusik. Dafür liegt ein großer Fokus auf dem Sounddesign und spezifischen, alltäglichen Geräuschen. Woher kam diese künstlerische Entscheidung?

Ja, je weiter der Film voranschreitet, desto mehr wird der Ton melodisch und das Sounddesign quasi zur Filmmusik. Mein Sounddesigner, Johnnie Burn, ist deshalb auch als Komponist aufgeführt. Schon während des Schreibprozesses war mir klar, dass der Ton eine wichtige Rolle spielen würde. Ich wollte zum Beispiel, dass das Haus auf dem Land, in das die Familie in der zweiten Filmhälfte fährt, seinen eigenen Sound hat. Das war in meinen Augen die beste Art, Julys Blickwinkel einzunehmen. Im Buch sind wir in ihrem Kopf und das hätte ich per Voiceover darstellen können, aber ich fand, dass Sounddesign das spannendere Werkzeug dafür war. Über den Ton können wir miterleben, wenn Julys Wahrnehmung ihrer Umgebung gestört oder verzerrt ist. In der Szene, in der Sheela sie duscht, hören wir zum Beispiel alles, wie July es hört, gedämpft durch das Wasser in ihren Ohren. Für mich war das ein Weg, die Welt, die wir nicht sehen können, erlebbar zu machen.

Wo wir gerade von technischen Aspekten sprechen: Du hast September & July auf Film gedreht, die erste Filmhälfte auf 18mm, die zweite auf 35mm. In Interviews erwähnst du öfter, dass du das Drehen auf Film rein digitalen Methoden vorziehst. Kannst du das genauer erklären?

Ich liebe das Format – vielleicht, weil ich nicht gut sehe. (lacht) Digitale Aufnahmen sind heutzutage besser als das menschliche Auge und das hat etwas sehr Distanziertes an sich und kann überproduziert wirken. Ich liebe organische, physische Details im Film wie Binden, eine Pfanne in der Küche, Erde, fettige Haare. Film gibt all diesen Details, die mir wichtig sind, etwas Schönes, Fiktives; einen ästhetischen Anstrich, den ich sehr mag.

Aber mir gefällt auch der Prozess, auf Film zu drehen. Besonders wenn man, so wie wir, ein sehr kleines Budget hat, muss man gut vorbereitet sein und genau wissen, was man filmt und warum. Ich arbeite sehr ökonomisch; drehe nicht viel Material, das wir im Schnitt wieder aussortieren. Das verändert auch die Arbeit am Set. Die Mise en Scène muss von Anfang an klar sein, die filmische Sprache feststehen und bei jedem Take ist höchste Konzentration gefragt. Für mich wird dadurch etwas, das ein Hindernis sein könnte, auch zur Chance.

July (Mia Tharia) und September (Pascale Kann) liegen unter einem Couchtisch mit Glasplatte, auf dem ein Glas mit Erde steht.

© Sackville Film and Television Productions Limited – MFP GmbH – CryBaby Limited – British Broadcasting Corporation ZDFarte 2024

In einem anderen Interview hast du das Drehen auf Film mit Theaterschauspiel verglichen, weil es während einer Theateraufführung auch nur die eine Chance gibt.

Exakt. Wenn man nur eine begrenzte Anzahl an Drehtagen hat, muss man den Dreh ähnlich wie eine Theateraufführung behandeln. Wir kommen ans Set und die Darsteller*innen wissen, was sie machen müssen; die Bildregie weiß, welche Aufnahmen wir brauchen. Alle sind vorbereitet, als würden sie auf die Bühne gehen, und zwischen „Action“ und „Cut“ heißt es: Vorhang auf. Als Schauspieler*in ist das ein großartiges Gefühl, weil es keine zweite Chance gibt. Und wenn du nicht spielst, als wäre es deine einzige Chance, dann wird es furchtbar langweilig.

Es ist ein gemeinschaftlicher Prozess.  Film ist eine der Kunstformen, bei der Zusammenarbeit am wichtigsten ist.

Das erinnert mich an etwas, das Pascale gesagt hat: Ihr gefiel, dass du durch deinen eigenen Hintergrund als Schauspielerin genau verstehst, wie Schauspieler*innen arbeiten. Würdest du sagen, dass deine Schauspielerfahrung deine Regiearbeit beeinflusst?

Auf jeden Fall. Ich versuche, mit meinen Darsteller*innen so zu arbeiten, wie ich als Schauspielerin gerne mit Regisseur*innen arbeiten würde. Das bedeutet, dass ich ihnen nicht nur sage, was sie zu tun haben. Wir entwickeln gemeinsam eine Geschichte, eine ganze Welt, und ich will, dass sie ein aktiver Teil davon sind und eigene Ideen einbringen. Ich habe sie aus einem Grund gecastet. Nur sie können ihre Rollen spielen und sie kennen ihre Figuren besser als ich. Es ist ein gemeinschaftlicher Prozess. Film ist eine der Kunstformen, bei der Zusammenarbeit am wichtigsten ist, und ich glaube, manche Regisseur*innen vergessen das. Für mich ist das eine Frage des Respekts und meine Darsteller*innen zu respektieren ist mir sehr wichtig.

Mia Tharia, Pascale Kann und Regisseurin Arian Labed am Set von SEPTEMBER & JULY

© Sackville Film and Television Productions Limited – MFP GmbH – CryBaby Limited – British Broadcasting Corporation ZDFarte 2024

Beim Schauspiel in September & July fand ich die Körperlichkeit der Darstellerinnen sehr spannend, gerade im Zusammenspiel miteinander, zum Beispiel wenn September July auf die gleiche Art auf die Stirn küsst, wie Sheela es in einer anderen Szene tut. Was war dir dabei wichtig?

Ich vertraue Körpersprache weit mehr als Worten. Um diese Familiendynamik zu entwickeln, habe ich daher versucht, eine gemeinsame Körpersprache zu finden, einen Rhythmus, eine Art, sich zu bewegen. Deshalb mag ich Weitwinkelaufnahmen: Ich liebe es, Körper im Raum zu betrachten. Das ist auch die Sprache, die ich als Schauspielerin toll finde. Ich könnte gar nicht anders arbeiten und ich glaube, alle meine Filme werden so sein. In meinem Kurzfilm Olla ist das auch so. Die Hauptfigur spricht insgesamt vielleicht zwei Worte, aber wir verstehen sie durch ihre Körperlichkeit. Das ist meine Methode, könnte man sagen.

Kannst du uns schon etwas über deine zukünftigen Projekte verraten?

Ich möchte auf jeden Fall weiterhin sowohl als Schauspielerin als auch als Regisseurin arbeiten. Ich habe auch schon eine Idee für meinen nächsten Film, aber es ist noch zu früh, um darüber zu reden; da bin ich abergläubisch. Ich habe gerade erst mit der Recherche angefangen und vielleicht ändert sich auch noch einiges. Das Einzige, was ich mit Sicherheit weiß, ist, dass es auch darin wieder viele Frauenfiguren geben wird.  

Ich bin auf jeden Fall gespannt und freue mich schon darauf. Vielen Dank, dass du dir die Zeit für dieses Interview genommen hast!

September & July läuft seit dem 6. März im Kino.

Charlie Hain
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