Hot Milk: Interview mit Fiona Shaw und Rebecca Lenkiewicz

Hochsommer, irgendwo an der spanischen Küste: Die Sonne knallt erbarmungslos vom Himmel und Sofia (Emma Mackey) schiebt ihre Mutter Rose (Fiona Shaw) im Rollstuhl durch die sengende Hitze. Rose leidet an einer mysteriösen Krankheit, die ihre Beine lähmt und ihr unerträgliche Schmerzen zufügt. Nachdem Mutter und Tochter jahrelang ohne Linderung und Heilungschance durch das Gesundheitssystem getingelt sind, ist die teure Privatklinik des Wunderheilers Gómez (Vincent Perez) Roses letzte Hoffnung. Sofia studiert – theoretisch. Praktisch kümmert sie sich Vollzeit um ihre Mutter und ist zunehmend frustriert. Die eingespielte Co-Abhängigkeit von Mutter und Tochter wird immer holpriger, die Risse in der Beziehung immer tiefer. Sofia lernt Ingrid (Vicky Krieps) kennen, die unabhängig und mysteriös ist und verliebt sich Hals über Kopf in sie. Sofia will von ihrer Mutter loskommen, während Roses Behandlung nur zögerlich Fortschritte macht. In der Hitze des spanischen Sommers droht das Pulverfass aus unausgesprochenen Vorwürfen und unauflösbaren Abhängigkeiten zu explodieren.

Filmstill aus Hot Milk: Emma Mackey und Fiona Sahw sitzen an einem Tisch und schauen traurig in die Ferne. © Nikos Nikolopoulos / MUBI

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Im Interview mit Filmlöwin sprechen Rebecca Lenkiewicz, Regisseurin und Drehbuchautorin von Hot Milk und Hauptdarstellerin Fiona Shaw über die Gründe für die mysteriöse Krankheit von Rose, die Dynamiken von Macht und Fürsorge und die Arbeit mit einer überwiegend weiblichen Crew.___STEADY_PAYWALL___

In Hot Milk gibt es eigentlich keine männlichen Figuren. War das ein Grund für dich, Rebecca, das Buch zu verfilmen? Ich hatte den Eindruck, dass es durch die Abwesenheit männlicher Figuren mehr Raum gibt, komplexe und auch problematische weibliche Charaktere zu entwickeln. Ich denke da besonders an die Beziehung zwischen Sofia und Ingrid.

Rebecca Lenkiewicz: Ganz genau. Ich will einen Ausgleich schaffen zu den männern-zentrierten Geschichten, die wir seit Jahrhunderten erzählen, indem ich meine Theaterstücke und Filme überwiegend weiblich besetze. Besonders wichtig waren natürlich die drei Hauptfiguren – mir war klar, dass es dafür drei bemerkenswerte Schauspielerinnen brauchte. Mein Ziel war es, die Psychologie, Komplexität und Verletzlichkeit von Rose, Sofia und Ingrid zu zeigen. Jede Figur ist ein bisschen monströs und doch unglaublich kraftvoll.

Apropos monströs. Wenn es um Rose geht, fällt in Filmbeschreibungen oft das Wort tyrannisch”, was mich überrascht, weil ich beim Zuschauen viel Mitgefühl für sie entwickelt habe. Ich habe bei Rose vor allem Wut und Trauer gespürt. War das ein Aspekt, Fiona, den du bei der Gestaltung der Figur bedacht hast? Diese Wut und Trauer, die sie daran hindern, sich sowohl emotional als auch physisch durch ihr Leben zu bewegen?

Fiona Shaw: Absolut. Ich glaube, Rose ist, wie viele Menschen, ein bisschen blind und stolpert einfach durch das Leben. Sie ist nicht wirklich tyrannisch, weil sie niemandem Schaden zufügen möchte. Aber du hast recht – da ist eine aufgestaute Wut, die schließlich überkocht. Ihre Schuld ist die Schuld der Achtlosigkeit, die es in vielen Familien gibt. Rose achtet nicht genug auf die Bedürfnisse ihrer Tochter, obwohl sie sie liebt. Sie sagt: „Nimm dies, wir gehen dorthin, mach das.“ Diese Dynamik gibt es in vielen Familien – Menschen sind blind füreinander.

Filmstill aus Hot Milk: Fiona Shaw sitzend und Ema Mackey stehend vor einem weißen Steinhaus © Nikos Nikolopoulos / MUBI

© Nikos Nikolopoulos / MUBI

Diesbezüglich ist die Eröffnungsszene sehr spannend. Rose und Sofia beobachten ein Paar und Rose findet den Mann unmöglich, weil er sehr rücksichtslos mit seiner Partnerin umgeht. Gleichzeitig verhält sie sich ähnlich gegenüber ihrer Tochter. Ich fand das sehr menschlich – oft erkennen wir unsere eigenen Verhaltensmuster nicht.

Fiona Shaw: Ich verteidige Rose immer. Sie hat nicht so viele Optionen. Rose hat eine Tochter und sie braucht Hilfe, also hilft ihre Tochter Sofia ihr. Dadurch kann Sofia nicht wirklich studieren, sie ist nicht wirklich frei. Rose nimmt ihr diese Freiheit nicht absichtlich, sondern unterbewusst. Mit Sofia verbringt sie die meiste Zeit. Die beiden haben sich zu einer kleinen Gemeinschaft von zwei Menschen entwickelt. Es gibt diesen Moment, in dem Rose ihre Sofia fragt: „Wirst du jemals heiraten?“ Und natürlich wird Sofia nie heiraten, solange sie bei ihrer Mutter bleibt. Niemand kann in diesen psychischen Raum eindringen. Trotzdem mag ich Rose.

“Ich will einen Ausgleich schaffen zu den männern-zentrierten Geschichten, die wir seit Jahrhunderten erzählen”

Apropos unterbewusst: Ich frage mich, ob in dieser mysteriösen Krankheit auch eine Ablehnung der Mutterrolle steckt. Rose hat die Fähigkeit zu gehen verloren, als ihre Tochter vier Jahre alt war. Gibt es in diesem Unvermögen, die perfekte Mutter zu sein, vielleicht auch den Wunsch, selbst wieder ein Kind zu werden? Ein unterbewusstes Umkehren der Rollen, indem Rose sich und sich von ihrer Tochter umsorgen lässt?

Fiona Shaw: Vielleicht. Oder vielleicht hat Rose, ohne es zu merken, sich irgendwo tief im Inneren selbst aufgegeben, als der Vater von Sofia sie verließ. Und Sofia ist das Opfer dieses Aufgebens. Die Familie von Rose war nie wirklich für sie da und genauso war es mit dem Vater von Sofia. All das passiert im Unterbewusstsein – Rose versteht sich selbst nicht besonders gut, aber sie versteht Menschen und Bücher. Ich finde es sehr interessant, dass sie Die Mühle am Floss von George Eliot liest. In dem Buch tut die Protagonistin Maggie Tulliver Dinge, die in den Augen der Gesellschaft schlecht sind. Natürlich nimmt das ein tragisches Ende. Rose liest dieses Buch, ohne sich darin selbst zu erkennen.

Vicky Krieps hält Ema Mackey in den Armen, beide sitzen am Strand und tragen Sommerkleidung © Nikos Nikolopoulos / MUBI

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Es wirkt fast, als würde die Geschichte aus der Rückschau erzählt. Erst am Ende habe ich die Figuren wirklich verstanden, zu Beginn waren sie mir noch ein Rätsel. War es für dich, Rebecca, wichtig, die Geschichte sozusagen von hinten aufzurollen?

Rebecca Lenkiewicz: Ja, das Ende war mein Anfang. Rose hat einen tiefen Bruch in ihrem Leben. Als Kind wurde ihr ein Kind genommen und sie wurde fortgeschickt. Was das mit einem Menschen macht, die Ausgrenzung von der Familie, all die Gefühle, die Rose hatte und ihrem Kind nicht geben konnte – das ist alles so verwirrend, besonders wenn es in so einem jungen Alter und mit solcher Brutalität geschieht. Und es passiert leider immer noch.

Ema Macke und Vikx Krieps liegen am Strand © Nikos Nikolopoulos / MUBI

© Nikos Nikolopoulos / MUBI

Diese Erlebnisse haben Rose auf einen bestimmten Weg geschickt. Trotzdem hat sie studiert, als erste in ihrer Familie. Sie hat als Bibliothekarin gearbeitet, hat sich im Leben zurechtgefunden und Bücher haben ihr dabei geholfen. Aber am Ende wird alles aufgedeckt, all die Geheimnisse. Der griechische Schauspieler Vangelis Mourikis, der den Vater spielt, war erst unsicher, ob er die Rolle annehmen soll. Er sagte, er wisse nicht, ob seine Figur einen „Schlüssel“ für die Geschichte hat. Das war sehr hilfreich für mich und ich habe das Drehbuch ein wenig geändert, sodass seine Figur einen Schlüssel zu Roses Geschichte gibt, wenn er zu Sofia sagt: Frag sie nach ihrer Familie. Denn was Rose und Sofia angeht, will man einfach wissen, warum. Wie, wenn sich zwei Leute am Bahnhof streiten und man sich automatisch fragt: Was ist hier passiert? Und bei Rose und Sofia ist Liebe passiert, aber es wurde eben auch Schaden angerichtet.

“Sofia hat sich Ingrid nicht wirklich ausgesucht”

Hot Milk beschäftigt sich auch damit, wie Menschen immer wieder die gleichen Muster wiederholen. Besonders deutlich wird das in der Beziehung zwischen Sofia und Ingrid. In der Beziehung zu Ingrid passiert Sofia das Gleiche wie in der Beziehung zu ihrer Mutter. Auch hier kümmert sie sich wieder um Ingrid. Wiederholt sich diese Dynamik in deinen Augen ständig, auch wenn man versucht, sich davon zu lösen?

Fiona Shaw: Sofia sucht sich jemanden, die sich ebenfalls versteckt. Sie entkommt ihrer Mutter und landet in einer Beziehung mit Ingrid, die sich ähnlich anfühlt – fast wie der Sprung vom Regen in die Traufe. Und das ist eine wichtige Warnung im Film: Menschen, die versuchen, aus etwas herauszukommen, stolpern oft anstatt bewusst zu wählen. Sofia hat sich Ingrid nicht wirklich ausgesucht. Und Ingrid lässt sie schon sehr früh im Stich, dann ist Sofia wieder einsam und auf sich allein gestellt.

Rebecca Lenkiewicz: Ja – und auch hier wieder: Sofia liest dabei die ganze Zeit die Werke von Margaret Mead, die sich mit genau diesem Thema und mit Kindheit beschäftigt. Sofia versucht also, sich akademisch damit auseinanderzusetzen, kommt aber mit ihrer eigenen Situation emotional einfach nicht zurecht.

“Ich habe oft in rein weiblichen Teams gearbeitet und ich muss sagen… es funktioniert einfach sehr gut.”

Zum Schluss noch die Frage, wie es für dich war, Rebecca, bei deinem Regiedebüt mit einer überwiegend weiblichen Crew zusammenzuarbeiten?

Rebecca Lenkiewicz: Es war großartig. Ich hatte das Glück, mit zwei fantastischen Produzentinnen, Christine Langan und Kate Glover zusammenzuarbeiten. Und auch die Arbeit mit der brillianten Kameraassistentin Si Bell war großartig.

Hat sich die Energie am Set dadurch verändert? War es spürbar anders?

Fiona Shaw: Es war eine sehr angenehme Atmosphäre am Set. Ich habe oft in rein weiblichen Teams gearbeitet und ich muss sagen, dass sie sehr gut zusammenarbeiten. Es funktioniert einfach sehr gut.

 

Kinostart: 3.07.2025

 

Theresa Rodewald