Emily

Ihr einziger Roman Sturmhöhe (eng. Wuthering Heights) gilt als ein Klassiker der englischen Literatur. Über die Autorin Emily Brontë selbst, häufig in einem Atemzug mit ihren Schwestern Charlotte und Anne als „die Brontës“ zusammengefasst, ist jedoch nur wenig Verlässliches bekannt, da sie zeitlebens als zurückgezogen galt. Während Sturmhöhe bereits mehrmals verfilmt wurde, widmet sich mit Frances O‘Connors Regie- und Drehbuch-Debüt Emily nun erstmals ein Spielfilm Emily als Person. Das biographische Drama erzählt eine teils fiktionalisierte Version ihrer Lebensgeschichte. Beginnend mit ihren späten Teenagerjahren zeigt es eine junge Frau, die in einer konservativen, von starren Rollenbildern geprägten Gesellschaft ihren eigenen Weg gehen will.

Emily (Emma Mackey) und Patrick Brontë (Adrian Dunbar)

© Wild Bunch Germany, 2022

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Film und Trailer beginnen mit der Frage: „Emily, wie hast du Sturmhöhe geschrieben?“ Um diesen Schreibprozess geht es im Film allerdings kaum. Stattdessen folgt Emily dem alltäglichen Leben der jungen Frau und ihren sozialen Beziehungen, die ihr Unbehagen im Korsett gesellschaftlicher Erwartungen verkompliziert. Ihr strenger Vater und ihre pflichtbewusste, ältere Schwester Charlotte haben kein Verständnis für Emilys freiheitsliebende, eigensinnige Natur, die nicht zu dem für sie gesellschaftlich vorgesehenen Beruf der Gouvernante passt. Den neuen Vikar William Weightman wiederum provoziert sie, indem sie seine religiösen Lehren hinterfragt. Nur von ihrem Bruder Branwell, selbst von rebellischer Natur, fühlt sie sich verstanden und ermutigt, zu sich zu stehen. So zeichnet der Film das interessante Portrait einer jungen Frau, die hin- und hergerissen ist zwischen dem Wunsch nach Nähe und Anerkennung und dem Bedürfnis, sich, auch gegen die Erwartungen ihres Umfeldes, frei zu entfalten. Obwohl der Film Sturmhöhe nur selten erwähnt, spielt Emily implizit durchaus mit möglichen Inspirationen für den Roman, beispielsweise mit dem Hunger einer oft einsamen Person nach Zuneigung, und der Frage, wie sie mit Ablehnung und Verlust umgeht. 

Mit Emma Mackey (bekannt aus der Serie Sex Education) hat Emily eine charismatische Hauptdarstellerin, die der facettenreichen Figur Leben einhaucht. Von subtiler aber ausdrucksstarker Mimik in Szenen, in denen Emily ihre wahren Gefühle mühevoll unterdrückt, zu bewegenden emotionalen Ausbrüchen in dramatischen Momenten zeigt sie ihre schauspielerische Bandbreite. Die Chemie zwischen ihr und Oliver Jackson-Cohen (Weightman) ist förmlich greifbar, auch wenn sein Schauspiel allein nicht das gleiche, emotional eindrückliche Niveau erreicht. Auch Alexandra Dowling beeindruckt durch ihre Fähigkeit, unter Charlottes sorgsam kontrollierter Fassade eine Vielfalt an Emotionen durchscheinen zu lassen. Überzeugend verkörpert sie eine Figur, die gespalten ist zwischen schwesterlicher Zuneigung und Sorge, Ablehnung und Unverständnis für Emilys Anderssein und möglicherweise eigenen unterdrückten Bedürfnissen. 

Emily (Emma Mackey) und Branwell (Fionn Whitehead) stehen auf einem Hügel. Beide stehen seitlich zur Kamera, nach links gerichtet. Emily hat den Mund geöffnet, als würde sie rufen, und lacht dabei.

© Wild Bunch Germany, 2022

Trotz dieser starken schauspielerischen Leistung verpasst Emily in der Darstellung der vielversprechenden Hauptfigur einige Chancen, insbesondere aus feministischer Sicht. Der Film präsentiert Emily zwar durch die negativen Reaktionen ihres Umfelds als anders und beinah rebellisch, geht jedoch wenig auf die Hintergründe dieser Ablehnung und die Bedeutung ihres Verhaltens ein: Welche Folgen hatte es für eine Frau ihres sozialen Stands, den einzigen für sie gesellschaftlich akzeptierten Beruf oder ihre repräsentative Rolle als Pfarrerstochter abzulehnen? Was bedeutete eine prüde Gesellschaft, in der bereits Berührungen zwischen nicht verwandten Männern und Frauen als skandalös galten, für die Entwicklung einer sexuellen Identität? Was machte Emilys Tätigkeit als Autorin und ihre Texte provokativ und bahnbrechend? Auch die männlich dominierten Strukturen des viktorianischem Literaturbetriebs, die Emily und ihre Schwestern — anders als im Film — dazu veranlassten, ihre Werke zunächst unter männlichen Pseudonymen zu veröffentlichen, finden in Emily keine Erwähnung. Selbstverständlich kann ein Biopic unmöglich sämtliche Facetten eines Lebens abbilden, doch dass diese Aspekte nicht nur kaum betrachtet, sondern zum Teil durch einen lockeren Umgang mit historischen Fakten sogar verwässert oder negiert werden, ist enttäuschend. Sie hätten der Figur der Emily noch mehr Tiefe und dem Film insgesamt eine stärkere Botschaft verleihen können.

Statt eines feministischen Fokus tappt Emily bedauerlicherweise in eine altbekannte Falle, bei der das Bild der weiblichen Hauptfigur als außergewöhnlich unter anderem davon abhängt, dass andere Frauenfiguren im Hintergrund bleiben oder sogar Negativbeispiele darstellen. Die Mutter der Brontë-Schwestern ist lange tot, Anne häufig abwesend, Tante Branwell spricht kaum über etwas anderes als Hausarbeit und Charlotte handelt durch ihre Ablehnung von Emilys Nonkonformität ebenfalls indirekt als Instrument des Patriarchats. Befremdlich ist auch O’Connors Entscheidung, Charlotte und Annes eigene schriftstellerische Tätigkeiten fast vollständig zu unterschlagen. Statt Solidarität und Zusammenarbeit zwischen Schwestern — die in der Realität gemeinsam einen Gedichtband veröffentlichten —, zeigt Emily Neid, Streitigkeiten um einen Mann und impliziert, nur „anders als die anderen Frauen“ zu sein wäre erstrebenswert. Und doch ist nicht einmal Emily selbst eine wirklich feministische Darstellung vergönnt, denn es ist ein Mann — der Vikar Weightman, für den sie Gefühle entwickelt —, der fast alle Schlüsselmomente ihrer schriftstellerischen Tätigkeit im Film auslöst.

Emily (Emma Mackey) beim Schreiben

© Wild Bunch Germany, 2022

Diese inhaltlichen Schwächen sind umso enttäuschender, da Emily auf künstlerischer Ebene durchaus vielversprechende Elemente enthält. Abel Korzeniowski hat wunderbare klassische Filmmusik geschaffen, die von sanfter Klaviermusik über mystisch anmutende Vokalisen zu von eindringlichen Streichern und Dissonanzen dominierten Passagen die Atmosphäre und emotionale Bandbreite des Films bis auf wenige Ausnahmen stimmungsvoll untermalt. Emilys Liebe zur Freiheit und Natur spiegelt sich in zahlreichen Landschaftsaufnahmen wider, ihre Lyrik und Emotionen im Sounddesign. An einigen Stellen nimmt Emily eine faszinierende, gothic anmutende Stimmung an und bindet Horror-Elemente, Visionen und das Motiv der Heimsuchung der Vergangenheit durch die Gegenwart ein; eine weitere Parallele zu Emilys berühmtem Roman. Leider wagt O‘Connor nur selten diese interessanten Schritte, die den Film von anderen Kostümdramen hätten absetzen können. 

Dramaturgisch leidet Emily zudem unter dem klassischen Biopic-Problem, dass die Lebensgeschichte eines interessanten Menschen nicht notwendigerweise auch eine interessante Filmhandlung mit klassischem Spannungsbogen abgibt. Das ist nicht zwangsläufig schlecht, da auch ein ruhiger, von Charakteren statt der Handlung getragener Film durchaus reizvoll sein kann. Am Ende von Emily überschlagen sich dann jedoch — auch historisch bedingt — die Ereignisse und hinterlassen im Kontrast zu dem zuvor eher gemächlichen Tempo ein unruhiges Gefühl.

Emily (Emma Mackey) rennt durch ein Feld.

© Wild Bunch Germany, 2022

Emily möchte das Portrait einer inspirierenden, unabhängigen jungen Frau und einflussreichen Autorin sein, doch das gelingt dem Film leider nur teilweise. Trotz der überzeugenden Hauptdarstellerin Emma Mackey und teils interessanter kreativer Entscheidungen verpasst das Filmdrama viele Chancen, Emily Brontë in den Kontext ihrer Zeit zu setzen und aus feministischer oder literarischer Perspektive zu betrachten. So ist Emily letztendlich zwar ein ästhetisch ansprechender und emotional in Teilen berührender Kostümfilm, als Geschichte einer rebellischen Autorin jedoch überraschend zahnlos. 

Kinostart: 24. November 2022

Charlie Hain