Primadonna — Kurzkritik
In ihrem Drama Primadonna erzählt die italienische Regisseurin Marta Savina von einer mutigen jungen Frau, die sich gegen ein misogynes Gesetz auflehnt und damit Rechtsgeschichte schreibt. Inspiriert von dem wahren Fall um Franca Viola folgt der Film Rosalia Crimi (Claudia Gusmano), genannt Lia, einer Bauerntochter in Sizilien Ende der 60er-Jahre. Nach einer Vergewaltigung will Lorenzo (Dario Aita), Sohn der zwielichtigen und im Ort einflussreichen Musicò-Familie, Lia zur Ehe zwingen, wodurch er den damaligen Gesetzen nach straffrei davonkäme. Doch Lia denkt nicht daran, sich der erniedrigenden Erwartung an Betroffene sexueller Gewalt zu fügen. Sie verweigert die Ehe und zeigt Lorenzo an, was zu einem aufsehenerregenden Gerichtsprozess führt.
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Einfühlsam und eindringlich zeigt Primadonna auf, wie Misogynie und die Trivialisierung sexueller Gewalt nicht nur von Einzelpersonen ausgehen, sondern tief in gesellschaftlichen Erwartungen und Institutionen wie Kirche und Strafverfolgungsbehörden verwurzelt sind. Der örtliche Priester verweigert Lia den Eintritt in die Kirche, die Polizei rät ihrer Familie davon ab, die auf die Anzeige folgenden Schikanen der Musicòs rechtlich zu verfolgen. Solidarität erhält Lia neben ihrer Familie nur von anderen Ausgestoßenen, der Sexarbeiterin Ines (Thony) und dem ehemaligen Anwalt und Bürgermeister Orlando (Francesco Colella), der in seiner Karriere mit homophoben Anfeindungen zu kämpfen hatte.
Primadonna skizziert eine Weltanschauung, in der der Wille von Frauen nur zählt, wenn man(n) ihr Mitschuld an sexueller Gewalt geben und damit Männer aus der Verantwortung nehmen kann; in der nicht misogyne Gewalt und der Schutz Betroffener sondern „Ehre“ im Fokus stehen. Dabei entlarvt der Film ein gegendertes und zutiefst sexistisches Ehrverständnis, nach dem Lia als Betroffene sexueller Gewalt ihre Ehe „verliert“ und Lorenzo sie dafür vor Gericht erniedrigt, während nicht seine Tat selbst, sondern ihre Anzeige seine „Ehre verletzt“ — Ansichten, die leider auch heute noch Debatten um sexuelle Gewalt prägen.
Doch Lia hinterfragt dieses Verständnis und wehrt sich gegen ein System, das es vertritt. Mit ihr hat Savina eine lebensfrohe, eigensinnige und mutige Protagonistin geschaffen, die sich von sexistischen Rollenbildern nicht einengen und nicht in die Rolle des passiven Opfers drängen lässt. Von Beginn an gestaltet sie die Handlung oft proaktiv mit, positioniert sich, fordert ein, klagt an, wehrt sich verbal und physisch, auch vor Gericht, trotz zwischenzeitlicher Rückschläge und Momenten der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. So gelingt Primadonna die Balance zwischen einer realistischen Darstellung eines misogynen Systems und dem positiven Fokus auf Widerstand, Solidarität und Hoffnung.
Leider erzählt Savina diese wichtige Geschichte nicht immer konsequent und konsistent. Das Ergebnis des Prozesses beispielsweise entspricht zwar dem realen Vorbild, bleibt auf filmischer Ebene angesichts der vorherigen Repräsentation des Justizsystems und Verfahrens jedoch schwer nachvollziehbar. Gegen Ende fragt sich Lias Vater (Fabrizio Ferracane) resigniert, welche Konsequenzen der Prozess für das Leben der Crimis haben wird, scheint diese Problematik jedoch in der nächsten Szene bereits wieder zu vergessen. Auch die schwierige Frage, ob Betroffene sexueller Gewalt anderen Betroffenen oder sich selbst einen Prozess und eine Aussage „schulden“, schneidet der Film zwar an, führt den damit verbundenen Konflikt jedoch leider nicht befriedigend zu Ende.
Primadonna läuft am 11. Juli im Rahmen der Femminile Plurale im Freiluftkino Insel in Berlin. Ein regulärer Kinostart steht noch nicht fest.
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