Drei Gedanken zu: Crossing

von Sophie Brakemeier und Theresa Rodewald

Mit Crossing feiert der schwedisch-georgische Filmschaffende Levan Akin nach seinem Debütfilm einen weiteren internationalen Festivalerfolg – und ein weiteres Mal zentriert der Regisseur dabei queere Lebensrealitäten, repräsentiert und feiert diese in einem respektvollen Zusammenspiel zwischen Folklore und Moderne.

Um dem Wunsch ihrer verstorbenen Schwestern zu erfüllen, reist die sich im Ruhestand befindende Lehrerin Lia (Mzia Arabuli) aus Batumi nach Istanbul. Sie ist auf der Suche nach Tekla, ihrer transgeschlechtlichen Nichte, die schon vor Jahren vor der Queerfeindlichkeit ihrer Familie und ihres Umfelds in Batumi geflohen ist. Hilfe erfährt sie dabei von dem jungen Mann Achi (Lucas Kankava) und der türkischen Anwältin für trans Rechte Evrim (Deniz Dumanlı).___STEADY_PAYWALL___

© Lisabi Fridell

Traditionen als Brücke

Wie schon Levan Akins Vorgängerfilm Als wir tanzten, eignet sich auch Crossing georgische – und in diesem Fall türkische – Tradition und Kultur aus einer queeren Perspektive an. Es ist ein Akt des Widerstands, denn allzu oft wird Tradition zum Instrument und Spielfeld von Rechten und Reaktionären; ist sie Grundstein einer fiktiven, beengten Vergangenheit, eines „Früher war alles besser”.

„Es macht mich immer wieder wütend, dass Rechte und Konservative sich das Thema unter den Nagel gerissen haben,” sagt Levan Akin im Interview. „Das sind auch meine Traditionen! Auch ich will in der Lage sein, georgischen Tanz, georgische Ikonografie und sogar die Kirche und Religion zu lieben. Wir müssen uns diese Traditionen zurücknehmen. Viele junge Menschen in Georgien empfinden Tradition durch diese Vereinnahmung von rechts als etwas repressives und wenden sich davon ab. Mit Als wir tanzten und auch mit Crossing wollte ich sagen: ‘Nein, holt euch diese Traditionen zurück, macht sie euch zu eigen.’”

Dieses Queeren von Tradition sorgt in Crossing für die berührendsten Momente: Verbundenheit durch Tanz, Fürsorglichkeit durch gemeinsames Essen, Austausch durch Gesang. Anstatt einer Kluft zwischen den Generationen sind Traditionen in diesem Film eine Brücke – auch zwischen Achi und Lia.

„Ursprünglich hieß der Film Passage und so heißt er auch immer noch in Schweden,” erzählt Levan Akin. „Dann brachte Ira Sachs letztes Jahr Passages ins Kino und wir mussten den Film umbenennen.” Doch auch der Titel Crossing passt gut zu den Grenzen, die überschritten werden – zwischen Ländern, Menschen und Generationen.

Diese Beziehung zwischen den Generationen nimmt der Film sehr feinfühlig in den Blick. Die Situation ist angespannt. In Georgien sehen die jungen Protagonist*innen keine Zukunft. Tekla sucht lieber in Istanbul ihr Glück als in Batumi, auch wenn die Situation von LGBTQI+ in der Türkei das Gegenteil von ideal ist. Achi will nur eines: raus aus dem Land, das ihm keine Chance bietet, weg von seinem Vater, der ihn als einen von „Georgiens zukünftigen Perversen” und „nutzlos” beschimpft. Achi und Tekla in Crossing, genau wie Merab (Levan Gelbakhiani) in Als wir tanzten wollen mehr, geben sich nicht zufrieden mit dem beengten Status quo – auch wenn es bedeutet, ihr Land zu verlassen, auch wenn es wehtut. Damit ist der Blick auf die junge Generation und der Blick in die Zukunft stets hoffnungsvoll.

Der Beziehung zwischen den Generationen nähert sich Crossing ebenfalls jenseits von Kitsch und Verzweiflung. Im Laufe des Films versteht Lia, dass sie ihre Nichte im Stich gelassen hat und dass sie mit ihrer „Was werden die Leute sagen”-Attitüde selbst Teil des Problems war. „Am Ende sprechen Lia und Tekla sehr offen miteinander,” meint Levan Akin. „Viele von uns [queeren Menschen] – vor allem aus meiner Region der Welt – hatten nie die Möglichkeit, so offen mit unseren Familien zu reden. Viele von uns sind nie bedingungslos geliebt worden. Ich wollte einen Film machen, in dem dieses Gespräch stattfindet, auch um zu zeigen, wie wichtig das ist.”

© Haydar Tastan

Queerness als Befreiung

Und auch in Lia fühlt sich der Film umsichtig ein. Sie hat sich an patriarchale Normen angepasst, sie aufrechterhalten – und unter ihnen gelitten. Lias Leben, das wird deutlich, ist geprägt von Selbstbeschränkung, Selbstbeherrschung, Zurückhaltung und Verbitterung. „Sowohl Als wir tanzten als auch Crossing thematisieren den Gedanken, das Leben so frei wie möglich zu leben und sich nicht darum zu kümmern, was andere Leute denken,” sagt Levan Akin. „Das beschäftigt uns als queere Menschen besonders, denke ich.” Queerness als Perspektive, als Verlangen danach, Beziehungen abseits patriarchaler, cis-geschlechtlicher und heterosexueller Normen zu leben, ist in diesem Film eine Quelle der Hoffnung. Hoffnung, allem voran für LGBTQI+, für queere Communities und Wahlfamilien. Doch auch für augenscheinlich straighte Personen wie Lia ist eine gequeerte Perspektive am Ende eine Befreiung. „Teklas Fußstapfen nachzuverfolgen,” sagt Levan Akin, „gibt Lia am Ende ironischerweise auch ihr eigenes Leben zurück.”

In dem Sinne beweist sich der queere Fokus von Crossing sogar nicht nur inhaltlich als befreiend, sondern auch im Hinblick auf die Produktion an sich. Für Mzia Arabuli, die Lia im Film meisterhaft und imposant spielt, ist das Engagement selbst ein transformativer Moment. Als angesehene Theaterschauspielerin in Georgien hatte die 70-jährige laut Levan Akin kaum persönlichen Kontakt in die LGBTQI+-Community. Die Arbeit mit den queeren Protagonist*innen, Schauspieler*innen und Filmarbeiter*innen, die für den Film engagiert wurden, eröffnete ihr ein neues Verständnis und eine neue Nähe für eine Lebensrealität, die in Georgien in den letzten Jahren mehr und mehr unter Druck gerät. “Sie sagte, als wir unsere Abschlussparty nach dem Dreh hatten, sie hätte in ihrem ganzen Leben noch nie so farbenfrohe Menschen getroffen.” Arabulis Schauspiel ist dieser transformative Prozess, den die Dreharbeiten auf sie gehabt haben, deutlich im Laufe des Films anzumerken. Die strenge Reserviertheit Lias löst sich mehr und mehr in eine offene und lebensbejahende Haltung auf.

© Haydar Tastan

Film als Widerstand

Nachdem Vorführungen von Als wir tanzten trotz seines erfolgreichen Festival-Laufes und kritischem Erfolg Proteste in Georgien auslöste und öffentliche Film-Screenings polizeilich geschützt werden mussten, verwundert es wenig, dass Crossing für Levan Akin und seine Produzent*innen keine unkomplizierte Produktion war – vor allem, da sich das politische und gesellschaftliche Klima für LGBTQI+-Belange in den letzten Jahren deutlich verschärft hat. Internationale Aufmerksamkeit erreichten beispielsweise die brutalen Ausschreitungen gegen eine Pride-Parade in Tiflis 2021 und zuletzt der Gesetzesentwurf der Regierungspartei Georgischer Traum, welcher nach russischem Vorbild sogenannte “LGBT-Propaganda” verbieten soll.

Nicht zuletzt wurde auch dezidiert das unabhängige und erst recht queere Filmschaffen in Georgien deutlich erschwert; die Förderung regierungskritischer Filme sorgte zuletzt für die Installation einer neuen regierungsfreundlichen Direktion durch das Kultur-Ministerium beim Georgian National Film Centre. Viele unabhängige Filmschaffende boykottieren seitdem die Zusammenarbeit mit der Institution, verlieren dadurch wichtige Fördermittel und Ressourcen. Unter dem Namen Georgian Film Institute gründeten einige von ihnen – unter anderem Anna Khazaradze, Ko-Produzentin von Crossing – eine unabhängige Institution, die sich zur Weltpremiere des Films auf der Berlinale in diesem Jahr zum ersten Mal auf dem EFM präsentierte.

Dass Levan Akin mit Crossing wieder einen kritischen Erfolg feiern durfte, dürfte unter diesen Umständen umso mehr beeindrucken und zeugt von einer widerständigen Beharrlichkeit, die nicht nur das queere Kino, sondern vor Allem auch das unabhängige Kino Georgiens seit jeher prägte. Auch wenn Crossing dramaturgisch und ästhetisch deutlich konventioneller ausfällt als viele Werke eines kaum zu fassenden Begriffs des queeren Films, zeugt nicht zuletzt seine Produktiongeschichte von einer pragmatischen Widerständigkeit gegen realpolitische Verhältnisse, die versuchen queere Kunst zu verunmöglichen.

Crossing – Die Suche nach Tekla läuft ab dem 18.07. in den Kinos.

Sophie Brakemeier