Drei Gedanken zu: Poor Things

Oscars, Golden Globes, BAFTAs — Der diesjährigen „Award Season“ nach ist Poor Things einer der besten Filme des Kinojahres, denn Yorgos Lanthimos‚ neuestes Werk ist bei den Nominierungen ganz vorne mit dabei. Die Frankenstein-esque Coming-of-Age-Geschichte der exzentrischen Bella Baxter, meisterhaft gespielt von Emma Stone, fasziniert Kritiker*innen wie Kinopublikum gleichermaßen. Ohne Zweifel ist die opulente Adaption des gleichnamigen Romans des schottischen Schriftstellers Alasdair Gray ein visuell eindrucksvolles Kinoerlebnis und es bereitet skurrile Freude zu erleben, wie Bella ihr Leben und die menschliche Existenz erkundet und für sich entdeckt. Gerade aus feministischer Sicht hat Bellas Weg großes Potential, welches Lanthimos und Drehbuchautor Tony McNamara jedoch leider nicht ausschöpfen.

___STEADY_PAYWALL___

Achtung: Dieser Text enthält Spoiler

Emma Stone als Bella Baxter in Poor Things.

© 2023 Searchlight Pictures

Bella ist eine ungewöhnliche Protagonistin, denn sie ist das Ergebnis eines grausigen wissenschaftlichen Experimentes: Sie besitzt den Körper einer jungen Frau namens Victoria, die hochschwanger Suizid beging. Der Wissenschaftler Godwin Baxter (Willem Dafoe) fand die Leiche, brachte das Baby zur Welt und verpflanzte ihr Gehirn in den Körper ihrer toten Mutter. Zu Beginn des Films steckt Bella nun also in Victorias erwachsenem Körper, macht jedoch die normale Entwicklung eines Kindes durch, inklusive Sprechen und Laufen lernen. Sie wächst, abgeschottet von der Außenwelt, in Godwins Anwesen auf. Um ihre Fortschritte zu beobachten und zu dokumentieren, stellt dieser den Medizinstudenten Max McCandles (Ramy Youssef) ein, welcher sowohl einen Beschützerinstinkt für die junge Bella entwickelt als auch beginnt, sich zu ihrem erwachsenen Körper hingezogen zu fühlen. Doch als Godwin sie und Max verheiraten will, hat Bella andere Pläne und brennt mit dem Womanizer Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) durch. 

Vom Objekt zum Subjekt: Ein feministisches Gedankenexperiment?

Ein zentrales Thema in Poor Things ist Bellas Weg von dem Objekt, als das die Männer in ihrem Leben sie betrachten, zu einem selbstbestimmten Subjekt. Für Godwin ist sie ein wissenschaftliches Experiment, für Max ein mysteriöses Wesen, das er nicht nur bewundern und verstehen, sondern auch kontrollieren will, und für Duncan und Alfie (Christopher Abbott), ihren leiblichen Vater und Mann ihrer verstorbenen Mutter Victoria,  ein (Sex)Objekt, auf das diese alleinige Besitzansprüche erheben. Bella selbst dagegen ist neugierig, freiheitsliebend und intellektuell ambitioniert — eine Mischung, die so gar nicht in das gesellschaftliche Bild des viktorianisch-inspirierten Settings und der es dominierenden Männer passt. Auf ihrem Weg zur Selbstverwirklichung wehrt Bella sich gegen all diese einschränkenden Kategorisierungen, sowohl verbal als auch, wenn nötig, mit physischer Gewalt. Erfrischend ist hier der offensichtliche Einfluss ihrer isolationsbedingten Unkenntnis sozialer Normen und der damit verbundenen patriarchalen Strukturen und sexistischen Rollenbilder.

Emma Stone als Bella Baxter in Poor Things, wie sie auf einer Abendgesellschaft exzentrisch tanzt.

© 2023 Searchlight Pictures

Da Godwin ihre „kindlichen“ Aggressionen (z. B. das Zerstören von Geschirr oder das Massakrieren einer Leiche) nur im Notfall einschränkt, sieht auch die ältere Bella kein Problem darin, mit Gewalt ihren Willen durchzusetzen oder ihren Unmut kundzutun, z. B. indem sie Max betäubt oder Duncan ohrfeigt, wenn diese sie in ihrer Freiheit einschränken wollen. Während Max, Duncan und Alfie mit (angedrohter) Gewalt auf toxisch-männliche Art ihre sexistischen Besitzansprüche demonstrieren, stellen Bellas „erwachsene“ Aggressionen die pragmatischen Lösungen einer Person dar, die nie gelernt hat, dass sich so etwas für eine Frau „nicht gehört.“ Ebenso bricht sie mit (ihr unbekannten) sozialen Normen, wenn sie aus einem Impuls heraus ihren Begleiter auf einer Feier oder ihren Bräutigam auf der Hochzeit stehenlässt oder offen über Masturbation und Sex spricht und diesen einfordert — im Zweifelsfall auch von anderen Menschen als ihrem aktuellen Partner.

Immer wieder verweigert Bella die patriarchale Geschlechterrollen wie die der folgsamen Tochter, Verlobten oder Ehefrau oder der anspruchslosen Geliebten, die ihren Partner bedingungslos bewundert. So wird sie zum interessanten Gedankenexperiment, wie sich Mädchen und Frauen entfalten könnten, würde ihnen die patriarchalische Gesellschaft nicht von klein auf sexistische Geschlechterbilder eintrichtern und mit männlicher Gewalt als Konsequenz für Unfolgsamkeit drohen. (Letztere bekommt Bella zwar durchaus zu spüren, jedoch primär, als sie stark genug ist, sich selbst zur Wehr zu setzen und Männer wie Godwin und Alfie in ihre Schranken zu verweisen und mit den eigenen Waffen zu schlagen.)

Emma Stone als Bella Baxter in Poor Things.

© 2023 Searchlight Pictures

In den unterschiedlichen Reaktionen der Männer auf Bellas Selbstbestimmtheit lässt sich durchaus Geschlechterkritik erkennen. Godwin und Max wenden sich nach einer Weile einem neuen Experiment zu, merken jedoch letztendlich, dass sie Bella als Menschen nicht ersetzen können; Duncan treibt Bellas Weigerung, sich ihm unterzuordnen, buchstäblich in den Wahnsinn und Alfie droht mit roher Gewalt, um sie zu kontrollieren. All diese Versuche bleiben erfolglos, rücken jedoch die Männer in ein entsprechend schlechtes Licht.

Leider bleibt der Film diesem kritischen Blick nur teilweise treu. Ihren „Mann“ Alfie beispielsweise bestraft Bella für seinen misogynen Sadismus schwer. Godwin und Max dagegen vergibt sie erstaunlich schnell, obwohl sie von deren massiven Eingriff in ihre persönliche Freiheit — ihre Geburt/Schöpfung und ihren Status als Experiment  — erst kurz vor Ende des Films erfährt. Trotz dieses großen Vertrauensbruch darf Godwin am Ende friedlich in den Armen seiner Tochter sterben und Max glücklich mit seiner Angebeteten zusammenleben (auch wenn offen bleibt, ob sie wieder eine romantische Beziehung führen). Größere Konsequenzen bleiben aus und hinterlassen als bitteren Beigeschmack die unterschwellige Botschaft, dass solch drastische Eingriffe in die eigene Freiheit im Rahmen einer engen emotionalen Beziehung verziehen werden können. 

Ramy Youssef als Max McCandles und Willem Dafoe als Godwin Baxter in Poor Things.

© 2023 Searchlight Pictures

Guter Sex macht noch keinen Feminismus

Ähnlich zweischneidig verhält es sich aus feministischer Sicht bei dem für den Film zentralen Thema Sex. Sexuelle Selbstbestimmung ist ein elementarer Faktor in und zugleich Maßstab von Bellas persönlicher Entwicklung. Es sind die Entdeckung sexueller Lust und der Wunsch nach ersten sexuellen Erfahrungen, die sie dazu bewegen, ihr Zuhause zu verlassen und mit Duncan zu reisen. Ihre Offenheit gegenüber sexuellen Erfahrungen mit anderen Männern und die klare Kommunikation ihrer sexuellen Wünsche und Grenzen gegenüber Duncan lassen sie die Nachteile der (Zweck)Beziehung erkennen, und nachdem diese zerbricht, ermöglicht Sexarbeit Bella finanzielle Unabhängigkeit. Ein wichtiger Teil ihrer Entwicklung im Film bleibt es stets, ihre sexuellen Bedürfnisse zu erkennen und zu kommunizieren, um sexuelle Interaktionen voll und ganz genießen zu können. Im Vergleich zu ihren anderen Interessen wie Philosophie, Politik und Medizin ist Sex eindeutig der am stärksten ausgearbeitete Faktor ihrer persönlichen Entwicklung.

Aus feministischer Sicht bietet dieser Fokus  einige Möglichkeiten. So ist es beispielsweise erfrischend, dass Poor Things die sexuelle Lust und Neugier einer jungen Frau als (größtenteils) positiv darstellt und diejenigen Menschen kritisiert und karikiert, die sie in ihrer sexuellen Freiheit einschränken wollen oder dafür verurteilen. Während Femme fatales durch ihre sexuelle Attraktivität und Aktivitäten dämonisiert werden, ist Bellas Beziehung zu Duncan beinahe die Antithese dieser Dynamik: Nicht ihre Handlungen, sondern seine Unfähigkeit, sie als eigenständiges Wesen statt als Sexobjekt zu sehen, treiben ihn buchstäblich in den Wahnsinn.

Emma Stone als Bella Baxter und Mark Ruffalo als Duncan Wedderburn in Poor Things. Er umarmt sie von der Seite, während sie genervt an ihm vorbeiguckt.

© 2023 Searchlight Pictures

Leider ist der Film in dieser Darstellung alles andere als konsequent. Bellas Entdeckung der Masturbation beispielsweise framed er als Teil ihres exzentrischen, sozial inakzeptablen Verhaltens, das beim Publikum Schock oder Lacher auslösen soll, denn sie macht ihre ersten Erfahrungen am Esstisch, sehr zum Entsetzen der Haushälterin Mrs. Prim (Vicki Pepperdine). Obwohl Duncan die noch unerfahrene Bella von Anfang an als Sexobjekt betrachtet und ein klares Machtgefälle zwischen den beiden herrscht, genießt sie den Sex mit ihm sofort und der Film thematisiert nicht, ob und wie er — oder irgendein anderer ihrer Sexpartner — je auf ihre Bedürfnisse eingeht. Im Bordell kommunizieren Bella und ihre Kollegin Toinette (Suzy Bemba) den Wunsch, sich ihre Kunden selbst aussuchen zu dürfen, doch nachdem Madame Swiney (Kathryn Hunter) dies ablehnt, scheint Bella das Thema schnell zu vergessen.  Schade, denn hier hätte der Film die Möglichkeit gehabt klarzustellen, dass auch eine attraktive Frau mit Freude an Sex nicht immer und mit allen Männern schlafen möchte. Auch visuell verpasst der Film häufig die Chance eines stärkeren Fokus auf weibliche Lust. In Sexszenen zeigt er beispielsweise ebenso häufig, wenn nicht noch häufiger, die Gesichter der männlichen Sexpartner anstelle von Bellas, obwohl diese Figuren entweder als Antagonisten fungieren oder keine weitere Bedeutung für den Film haben. 

Zudem bietet Poor Things trotz der vielen Sexszenen und Gespräche über Sex noch immer eine sehr gefällige, „glattgebügelte“ Version weiblicher Sexualität und lässt einige wichtige Aspekte außen vor, die für viele sexuell aktive Frauen Realität sind. Menstruation spielt beispielsweise in Bellas Entdeckung ihres Körpers keine Rolle, und Themen wie Verhütung, sexuelle übertragbare Krankheiten oder Schwangerschaft bleiben fast vollständig außen vor, obwohl sie gerade für die Sexarbeiterinnen von Bedeutung sind und sowohl Bella (bzw. Victoria) als auch Toinette bereits Kinder geboren haben. So wirkt die Darstellung von Sex in Poor Things trotz der weiblichen Hauptfigur wie eine Version von und für jene (cis) Männer, denen nie in den Sinn kam, sich um all diese Aspekte Gedanken zu machen. Das (männliche) Publikum kann sich an einer Fantasie erfreuen, in der (auch) Frauen bedingungslose Freude an Sex haben, ohne sich mit den Voraussetzungen dafür befassen zu müssen.

Mark Ruffalo als Duncan Wedderburn und Emma Stone als Bella Baxter in Poor Things. Er liegt im Hintergrund schlafend im Bett, während sie im Vordergrund in Nachtwäsche auf der Bettkante sitzt und nachdenklich guckt.

© 2023 20th Century Studios

Kein Empowerment ohne Konsens

Noch problematischer verhält es sich mit dem Aspekt des Konsens, den der Film häufig unter den Tisch kehrt — geradezu fatal für eine Geschichte, deren Aufhänger ein Babyhirn in einem erwachsenen Körper ist. Godwin erklärt zwar, Bella entwickele sich schneller als ein normales Baby, doch der Film selbst stellt zu keinem Zeitpunkt explizit klar, wie alt sie bzw. ihr Gehirn tatsächlich sind. Nehmen wir sichtbare Aspekte ihrer Entwicklung wie z. B. Motorik oder Sprache als Anhaltspunkt, sieht es kritisch aus: Als Godwin Bella erlaubt, mit Duncan durchzubrennen — wohlwissend, dass Duncans primäre Motivation Sex ist —, kann Bella kaum vollständige Sätze bilden und hat noch große Probleme mit grundlegender Impulskontrolle. 

Generell leidet die Darstellung von empowertem Sex und informed consent darunter, dass der Film Bella einerseits als selbstbewusste Frau verkaufen will, die sich Männern gegenüber behaupten kann, andererseits aber ihr kindliches Verhalten, ihre Naivität und ihre Unkenntnis sozialer Normen und gesellschaftlicher Dynamiken zum Running Gag macht. Teilweise kritisiert der Film zwar Figuren mit dieser Einstellung, z. B. Max, der Bella zwar als „retarded“ bezeichnet und einen Kuss abwehrt, weil er sie nicht „ausnutzen“ möchte, kurz danach jedoch der Meinung ist, sie könnte in eine Hochzeit einwilligen. Andererorts tappt Poor Things jedoch häufig in die gleiche Falle, wenn er naheliegenden Fragen aus dem Weg geht: Ist sich Bella tatsächlich Duncans Intentionen bewusst, wenn sie noch nicht einmal das Wort Sex benennen kann und Godwin sie anscheinend nie aufgeklärt hat? Entscheidet sie sich tatsächlich aus freien Stücken für die Sexarbeit, wenn sie von dem Konzept selbst noch nie gehört zu haben scheint und Swiney zudem ihre finanzielle Notlage ausnutzt? Weiß Bella, die ihre eigene Kaiserschnittnarbe nicht als solche erkennt, um die Gefahr ungewollter Schwangerschaften? Die fragwürdige Darstellung von Konsens erschwert bei genauerem Hinsehen die Interpretation des Films als empowernde Darstellung weiblicher Sexualität.

Emma Stone als Bella Baxter in Poor Things

© 2023 Searchlight Pictures

Viele verpasste Chancen 

Inhaltlich bleibt Poor Things daher in vielerlei Hinsicht ein Film der verpassten Möglichkeiten. Der positive Umgang mit Sex und Bella als Frauenfigur, die sich auf unkonventionelle Art gegen Geschlechterollen und Unterdrückung auflehnt, haben großes Potential. Der nur inkonsequente Fokus auf weibliche Erfahrungen und die schwammige bis problematische Darstellung von Konsens heben dies jedoch teilweise auf. Auch abseits feministischer Themen schneidet der Film viele Aspekte an, die er dann nicht konsequent zu Ende bringt, beispielsweise Bellas verschiedene politische und philosophische Interessen wie Sozialismus und Armutsbekämpfung, auf die der Film so wenig eingeht, dass sich die Frage stellt, warum er sie überhaupt einführt.

Für Fans der phänomenalen Emma Stone und farbenfroher, fantasievoller Kinoerlebnisse mit opulenten Kostümen und Kulissen lohnt sich Poor Things sicherlich dennoch. Aus feministischer Sicht bleibt Lanthimos‚ neuestes Werk jedoch ein zweischneidiges Schwert.

Poor Things läuft seit dem 18. Januar im Kino.

Charlie Hain