IFFF 2024: The Night of the Factory Girls

In ihrem Langfilm-Debüt The Night of the Factory Girls nähert sich die koreanische Regisseurin Geonhee Kim den Themen Vergessen und Erinnern über einen Blick auf die Geschichte der Zwangsarbeit während der japanischen Besetzung Koreas zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Vor allem Mädchen und junge Frauen wurden im Zuge der Arbeitsmobilisierung 1938 in Transportzügen zur Arbeitsverrichtung in Textilfabriken nach Seoul (damals: Gyeongseong), hauptsächlich in den Stadtteil Yeongdeungpo, verschleppt. Um die japanische Wirtschaft während des Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieges anzutreiben, waren sie dort für die Herstellung von u.a. Uniformen zuständig. Geonhee Kims Dokumentarfilm erinnert an diese Historie, verweist aber auch gleichzeitig auf die geringe Aufmerksamkeit, die im Korea der Gegenwart den Erfahrungen dieser Zwangsarbeiterinnen gewidmet wird.___STEADY_PAYWALL___

© IFFF 2024

In Interviews erzählen die zwei ehemaligen Zwangsarbeiterinnen Oksoon Lee und Bukson Byun davon, wie sie ihren Familien entrissen und von japanischen Besatzer*innen gegen ihren Willen nach Yeongdeungpo gebracht wurden. Weder sie noch ihre Eltern wissen damals, was die Verschleppung der Mädchen genau bedeutet. Dass ihre Reise in den stickigen Fabrikräumen Yeongdeungpos als ausgebeutete Arbeitskräfte enden sollte, ist nicht vorstellbar. Die jüngsten unter den Zwangsarbeiterinnen wie Oksoon Lee sind um die 10 Jahre alt, kaum eine von ihnen ist älter als 27. Die Textilverarbeitung in den Fabriken ist geprägt von harten wie gefährlichen Arbeitsbedingungen. Verletzungen durch Maschinen gehören zum Alltag, lange Arbeitstage unter den Anforderungen japanischer Aufseher*innen und die schwere körperliche Belastung bringen alle Zwangsarbeiterinnen an ihre physischen wie psychischen Grenzen. Täglicher Essensmangel und die von Baumwolle durchsetzte Luft machen die Mädchen und Frauen zusätzlich krank. 

Oksoon Lee und Bukson Byun erinnern an Momente, in denen Zwangsarbeiterinnen Verletzungen erleiden, zeigen auch die eigenen körperlichen Narben. Sie erzählen von Mädchen und Frauen, deren Verletzungen so schwer sind, dass sie nicht weiterarbeiten können oder sogar sterben. Und von denen, die versuchen, der Ausbeutung zu entkommen, jedoch  dabei erwischt werden. Viele von ihnen werden nie wieder gesehen. Zwangsarbeiterinnen, die in den Augen der Besatzer*innen besonders gute Fabrikarbeit verrichten, werden von Seoul nach Japan weiterverschleppt. Eine Erfahrung, die auch Oksoon Lee macht. Rückblickend sagt sie: „Hätte ich das gewusst, hätte ich weniger schnell gelernt“. Nach dem Tag der Befreiung können manche der Zwangsarbeiterinnen wieder zu ihren Familien zurückkehren, der Verbleib anderer ist bis heute ungeklärt. 

© IFFF 2024

Regisseurin Geonhee Kim zeichnet ein Bild der japanischen Kolonialisierung Koreas entlang der Geschichten dieser Zwangsarbeiterinnen, während sie gleichzeitig eine Lücke im kollektiven Gedächtnis ihres Heimatlandes aufdeckt. Nur wenige Bilder aus den Fabrikräumen Yeongdeungpos Anfang des 20. Jahrhunderts existieren, eine genaue Einordnung des Gezeigten ist bisher nicht geschehen. Die Zwangsarbeiterinnen selbst haben lange gebraucht, um die richtigen Worte zu finden. So erzählt Bukson Byun, dass sie erst nach vielen Jahren ihrem bereits erwachsenen Sohn als erster Person überhaupt von ihrer Verschleppung erzählt. Zuvor fehlten ihr die Worte, um zu beschreiben, was sie und andere Zwangsarbeiterinnen erfahren mussten, aber auch die Kraft, die privaten Gedanken in das Vergangene und Verdrängte wandern zu lassen. „Ich möchte gar nicht an sie denken“, kommentiert Bukson Byun die gewaltvolle Kolonialisierung unter Tränen. Ähnlich resümiert auch Oksoon Lee, die nie die Zeit fand, um sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Familienleben, Alltagspflichten und der eigene Wunsch weiterzuziehen, lassen sie erst viele Jahre später an die Orte der Verschleppung in Yeongdeungpo zurückzukehren. Geonhee Kims Doku gibt diesen Verhandlungen von Erinnerungen und Erfahrungen durch ausführliche Interviews viel Raum.

© IFFF 2024

Gleichzeitig regt Geonhee Kims Film an, dass Bilder das Vergessene zurück in die Erinnerung holen und das Verdrängte einfangen. Während die 1. Hälfte des Dokumentarfilms sich eng entlang der Geschichten Oksoon Lees und Bukson Byuns entspinnt, geht die Regisseurin in der 2. Hälfte auf die Suche nach Orten im heutigen Seoul, die an die Zeit der Zwangsarbeit erinnern. In diesem Abschnitt widmet sich der Film – über die Rolle der Geschichte der Textilfabriken für das Stadtbild nach dem Tag der Befreiung bis hin zu ihrer endgültigen Schließung in den 1990ern – einem genauen Blick auf die Metropole Seoul. Untertitel, die sich teils poetische Gedanken über diese Erinnerungsräume machen, lassen The Night of the Factory Girls dabei aus den Engen des Dokumentarfilms Richtung Essayfilm ausbrechen. 

Wie in seiner Erzählperspektive schwingt der Dokumentarfilm auch in seiner Bildgestaltung um. Während der 1. Teil des Films stark durch Archivbilder geprägt ist, wird im 2. Teil ein Bild Seouls durch aktuelle Aufnahmen gezeichnet. Bei ihren Streifzügen mit der Kamera durch Seoul sucht Geonhee Kim Orte auf, an denen Zwangsarbeit stattfand aber heute nicht mehr als solche zu erkennen sind. Frühere Textilwerke stehen heute leer und sind heruntergekommen, was sich in Löchern und Rissen in Wänden, Schmutz, Staub, Rost und Taubennestern widerspiegelt. Frühere Unterkünfte, die als eine Art Zwischenorte für Zwangsarbeiterinnen errichtet wurden, sind heute permanente Wohnungen. Andere Fabrikräume sind gar abgerissen und zu großen Einkaufszentren oder Apartmentkomplexen umgewandelt. Die Kamera geht nah ran an diese Orte, lange statische Einstellungen untermalt von unbequemen Musikklängen prägen diese Szenen. 

© IFFF 2024

Durch diese eindringlichen Bilder fragt The Night of the Factory Girls, welche Rolle die Geschichte der Zwangsarbeit während der japanischen Besatzung noch heute in der Metropole spielt. Zwischen Geschäften, Straßen gefüllt mit Häusern, die hoch hinausragen, Werbereklamen und nah aneinandergebauten Wohnflächen bleibt nur wenig Platz für Erinnerungen. „Nur die Löcher sind übrig, die Löcher in der Erinnerung“, kommentiert die Regisseurin die Risse in Fabrikwänden und die gleichzeitigen Auslassungen im kollektiven Gedächtnis. Geonhee Kims Film nähert sich einem fast vergessenen Aspekt der koreanischen Geschichte zur Zeit der japanischen Kolonialisierung auf gleich zwei Arten: erzählen lassen und selbst erzählen. Vom Dokumentarischen bis hin zum Bruch mit den Traditionen des Dokumentarfilms durch Vermittlung der eigenen Gedanken. So greift die Regisseurin das Thema Erinnern auf und nimmt gleichzeitig das Korea von heute in die Pflicht, die Geschichten der Zwangsarbeiterinnen nicht in vollkommene Vergessenheit geraten zu lassen.

The Night of the Factory Girls ist derzeit beim IFFF 2024 als internationale Premiere zu sehen.

Sabrina Vetter