Arielle, die Meerjungfrau: Alles für die Liebe?

Disneys neuestes Live Action-Remake nach Filmen wie Cinderella, Die Schöne und das Biest und Der König der Löwen machte bereits früh durch die Bekanntgabe der Hauptdarstellerin von sich reden. Die Entscheidung für die Sängerin und Schauspielerin Halle Bailey — welche die Rolle charmant und mit engelsgleicher Stimme meistert — erzeugte vor allem online eine Kontroverse. Neben Freude über die erste Schwarze Live Action-Disney-Prinzessin fanden sich auch zahlreiche negative, häufig von Rassismus durchzogene Reaktionen, die bis zum sogenannten Review Bombing des Films nach Kinostart reichten. Dabei sind die interessanten Punkte zum Remake von Arielle, die Meerjungfrau weder die Frage, ob eine Meerjungfrau Schwarz sein kann oder sollte, noch die anscheinend leider nicht selbstverständliche Feststellung, dass ein „farbenblind“ gecastetes Remake niemandem den ursprünglichen Animationsfilm wegnimmt, sondern lediglich den Kreis derer erweitert, die sich selbst in Arielle sehen können — ein potentiell bedeutender Schritt angesichts der vielfach kritisierten Rassismen in anderen Disney-Filmen. Viel interessanter, zumindest aus feministischer Sicht, ist die Frage, ob Arielle überhaupt eine lohnenswerte Identifikationsfigur ist. Stellt es vielleicht, im Gegenteil, gar eher einen Rückschritt dar, anstatt neuer Geschichten eine klassische „Prinzessin sucht Prinz“-Märchenverfilmung neu zu erzählen?

Halle Bailey als Arielle in Arielle, die Meerjungfrau

© 2023 Disney Enterprises, Inc.

Achtung: Dieser Text enthält Spoiler

Aus einer feministischen Perspektive erscheint die grobe Handlung von Arielle, die Meerjungfrau auf den ersten Blick fragwürdig: Eine junge Frau gibt sich selbst — ihr Zuhause, ihre Stimme, ihre Identität als Meerjungfrau — auf, um in der Welt ihres Prinzen zu leben, mit dem sie noch nie ein Wort gewechselt hat. Im Gegensatz zur Inspiration des Films, Hans-Christian Andersens tragischem Märchen Die kleine Meerjungfrau, belohnt die Disney-Version Arielle mit einem Happy End in Form der Hochzeit mit Erik (Jonah Hauer-King) und einer dauerhaften menschlichen Gestalt. Sendet der Film also eine konservative, schädliche Botschaft über weibliche Selbstaufgabe und heteroromantische Liebe als Lebensmittelpunkt? So einfach stehen die Dinge in Rob Marshalls Neuverfilmung zum Glück nicht.

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Eine Prinzessin braucht ihren Prinzen — oder etwa nicht?

Auf den ersten Blick sieht es nicht gut aus mit Arielles Handlungsfähigkeit. Verglichen mit den anderen zentralen Figuren hat sie erstaunlich wenig Einfluss auf die Welt um sie herum. Ihr Vater Triton (Javier Bardem) herrscht mit seinem magischen Dreizack über die Meere, Antagonistin Ursula (Melissa McCarthy) ist eine mächtige Meerhexe und Erik kommandiert auch als Prinz bereits  seine eigenen Schiffe. Arielle dagegen scheint, obwohl sie eine Prinzessin ist, keinen besonderen Einfluss auf ihr Volk zu haben, welches wir ohnehin kaum zu Gesicht bekommen, und dass mit ihrem „Sirenengesang“ anscheinend heilende magische Kräfte einhergehen, erwähnt lediglich Ursula am Rande. Während Erik selbstbestimmt zu seinen Reisen aufbricht und durch Handel sein Königreich wirtschaftlich und wissenschaftlich voranbringen will, sammelt Arielle mit kindlich anmutender Neugier Gegenstände aus der Menschenwelt für ihre Grotte. Ihre Handlungen im Film drehen sich, nachdem sie Erik getroffen hat, fast alle um ihn: In der Menschenwelt angekommen, verbringt sie den größten Teil ihrer Zeit mit ihm, kämpft um ihre Stimme, um ihn an der Hochzeit mit „Vanessa“ (Jessica Alexander) zu hindern, und tötet Ursula, um sein Leben zu retten. Zwar entscheidet sie sich am Ende des Films kurzzeitig wieder für ihr Zuhause bzw. ihren Vater, wird im Meer ohne Erik jedoch ihres Lebens nicht mehr froh.

Halle Bailey als Arielle und Jonah Hauer-King als Prinz Erik

© 2023 Disney Enterprises, Inc.

In einem Punkt zeigt sich allerdings ein wichtiger Unterschied zur animierten Vorlage: Nicht Erik rettet Arielle am Ende; sie rettet sowohl ihn (erneut) als auch ihren Vater und kann so letztlich doch den einflussreicheren Männern des Films auf Augenhöhe begegnen, wie selbst der zeitweise bevormundende Triton erkennt. Auch, wenn sie primär aus Liebe zu den Männern in ihrem Leben handelt, ist es bei Rob Marshall nun die Disney-Prinzessin selbst, die die Antagonistin besiegt, Leben rettet und möglicherweise den Frieden zwischen Menschen und Meermenschen ermöglicht, unter denen Ursula Missgunst geschürt hatte. Mehr noch: Die Änderung framed Arielles Happy End klar nicht als “Belohnung” für den Verkauf ihrer Stimme oder die Liebe des Prinzen, sondern als Folge ihres eigenen, aktiven Handelns. Es lohnt sich daher, auch andere Aspekte der neuen Arielle aus feministischer Sicht genauer unter die Lupe zu nehmen.

Liebe und Gemeinschaft als Schlüssel 

Bei näherer Betrachtung fällt zum Beispiel auf, dass Liebe und Sorge um andere nicht nur für Arielle, sondern auch für die meisten anderen Figuren ein zentrales Motiv darstellt. Erik ist nach ihrer ersten Begegnung fixierter auf Arielle als sie auf ihn, Arielles Freund:innen geben alles, um sie zu retten, und sowohl Triton als auch Eriks Mutter, Königin Selina (Noma Dumezweni), verbringen fast ihre gesamte Screentime damit, sich um ihre Kinder zu sorgen und, in Tritons Fall, sogar für sie zu opfern. Einzig Ursula hat unter den zentralen Figuren ein weniger ehrenhaftes Motiv: Sie will nicht das Beste für andere, sondern Rache und Macht. Im Gegensatz zu Triton, der seine Kräfte zeitweise zerstörerisch, jedoch mit fehlgeleiteten guten Intentionen einsetzt und sich für seine Fehler entschuldigt, bleibt Ursula bis zum Ende selbstsüchtig und destruktiv. 

Melissa McCarthy als Ursula in Arielle, die Meerjungfrau

© 2023 Disney Enterprises, Inc.

So muss die mächtigste Frau des Films zwar sterben, jedoch nicht (nur), weil sie eine unabhängige Frau ist und Tritons Macht in Frage stellt, sondern (auch) weil sie brutal, rücksichtslos und aus egoistischen Motiven heraus handelt. Schade ist an dieser Stelle, dass der Film weder Ursulas sonstige Taten noch Tritons Rolle als König genauer beleuchtet, sodass unklar bleibt, ob Triton — der ja offensichtlich durchaus jähzornig sein kann — tatsächlich gut regiert oder ob Ursulas Groll auf ihn zumindest teilweise gerechtfertigt ist. Auch eine positiv besetzte mächtige und unabhängige Frauenfigur hätte die Botschaft in Bezug auf weibliche Macht klarer gestalten können, beispielsweise wenn Arielles Schwestern oder Königin Selina mehr Screentime hätten.

Der Sinneswandel, den Triton im Gegensatz zu Ursula durchmacht, und seine Entschuldigung an Arielle am Ende weisen auf einen weiteren zentralen Punkt in ihrer Geschichte hin: Nicht (nur) Erik, sondern (auch) das Gefühl, dass ihre eigene Familie sie nicht versteht sondern bevormundet, bewegt Arielle zu dem Handel mit Ursula. Die Antagonistin beginnt ihre Manipulation geschickt, nachdem Triton in einem Wutanfall Arielles Sammlung aus der Menschenwelt zerstört und damit sein Unverständnis und seine Abneigung gegen ihre Interessen deutlich gemacht hat. Als Arielle zunächst zögert, den Handel einzugehen, stimmt die Meerhexe sie unter anderem mit dem hämische Kommentar um, dann solle sie doch „nach Hause zu Daddy gehen“ und das Meer nie wieder verlassen. Triton selbst erkennt diesen Umstand an, als er am Ende des Films einräumt, Arielle hätte nicht erst gezwungen sein dürfen, ihre Stimme aufzugeben, um gehört zu werden. 

Javier Bardem als Triton in Arielle, die Meerjungfrau

2023 Disney Enterprises, Inc.

Zwar steht damit noch immer eine Männerfigur hinter der folgenschweren Entscheidung der Protagonistin, doch Arielle strebt nach mehr als einem Prinzen: Sie sehnt sich nach der Freiheit, ihren Träumen zu folgen, und einem Zuhause, das sie und ihre Wünsche akzeptiert. Das klassische Märchen-Ziel, in kurzer Zeit den „Kuss wahrer Liebe“ zu ergattern, ist nicht ihr eigener Wunsch, sondern Ursulas Bedingung, die Arielle in der Neuverfilmung durch einen Zauber sogar wieder vergisst. Tatsächlich scheint es eher Erik zu sein, dem zu seinem Glück die romantische Liebe fehlt. Während Arielles Lieder Neugier auf die (Menschen)Welt ausdrücken, handelt sein einziger, eigens für das Remake komponierter Song von ihr. 

Ein Plädoyer für Neugier und Offenheit

Erik ist es, bei dem Arielle das ersehnte Verständnis und Zugehörigkeitsgefühl findet. In der Neuverfilmung repräsentieren beide füreinander nicht nur romantische Liebe, sondern auch den Wunsch nach Freiheit und die Neugier auf die weite Welt, die beide schon lange vor ihrer ersten Begegnung verspüren. Als Arielle Erik zum ersten Mal sieht, hört sie fasziniert mit an, dass er genau wie sie im Konflikt mit einem Elternteil steht, da er sein Leben nicht eingesperrt in einem Palast verbringen will. An Land kommen die beiden einander durch ihre gemeinsame Neugier auf das Unbekannte näher: Arielle erklärt Erik einige der Meeresschätze aus seiner Sammlung und lässt sich im Gegenzug von ihm von fernen Ländern und der Menschenwelt erzählen. 

Jonah Hauer-King und Halle Bailey als Erik und Arielle in Arielle, die Meerjungfrau

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Im Gegensatz zu klassischen Märchen verlieben die beiden sich also nicht (nur), weil sie schön und er ein Prinz ist, sondern aufgrund ihrer ähnlichen Persönlichkeiten und Wünsche fürs Leben. Ihr Happy End besteht nicht nur darin, zusammen zu sein, sondern gemeinsam die Welt zu erkunden und ihre Träume zu verwirklichen — eine Entwicklung, die allerdings natürlich glaubhafter wäre, wenn die beiden länger als drei Tage miteinander verbrächten. Dennoch ist die Erfüllung von Arielles Träumen auf diese Weise noch immer an die Beziehung zu Erik geknüpft, mit dem sie am Ende zu Reisen in „unerforschte Gewässer“ aufbricht, während dieser auch vor Arielle bereits die Möglichkeit dazu hatte.

Eine weitere Verbindung zwischen Arielle und Erik, die sich bereits vor ihrer ersten Begegnung zeigt, ist ihre Offenheit gegenüber der jeweils anderen Spezies. Während der Film trotz seines historischen Karibik-Settings etwas plump und teils fragwürdig eine „farbenblinde“ Gesellschaft ohne Rassismus und Kolonialismus inszeniert, sind Vorurteile zwischen Menschen und Meerwesen ein wichtiger Aspekt der Handlung. Arielle und Erik bilden ein Bindeglied zwischen ihren Spezies, indem sie Fundstücke aus der jeweils anderen Welt sammeln und die Vorurteile und negativen Pauschalisierungen ihrer Mit(meer)menschen hinterfragen. Ihre Hochzeit vereint in der Schlusszene Meermenschen und Menschen in Frieden. Positiv betrachtet ist die Liebesgeschichte in Arielle, die Meerjungfrau also nicht (nur) die Botschaft, dass frau einen Mann an ihrer Seite braucht, sondern (auch) ein Plädoyer für Offenheit und gegen Vorurteile. Noch schöner und ein stärkeres Zeichen für die Verbindung zwischen Menschen und Meerwesen wäre es jedoch, hätte Arielle ihre Meerjungfrauen-Gestalt am Ende zumindest teilweise behalten können, zum Beispiel durch die Möglichkeit, sich für Besuche zuhause zurückzuverwandeln. So bleibt ihr Happy End auch in der Neuverfilmung noch immer eine dauerhafte Abkehr von ihrer Meerjungfrauen-Identität. Erik dagegen, der im ganzen Film nie auch nur ein Wort mit einem anderen Meermenschen wechselt, kommt Arielles Welt nicht auf ähnliche Weise entgegen.

Halle Bailey als Arielle in Arielle, die Meerjungfrau

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Ein Schritt in die richtige Richtung, aber noch nicht am Ziel 

Aus feministischer Sicht ist Arielle, die Meerjungfrau also weder eine Erleuchtung noch eine Vollkatastrophe. Einerseits ist Arielle mehr als eine schöne Prinzessin auf der Suche nach ihrem Prinzen, und viele der Änderungen im Remake heben diesen Umstand hervor und betonen ihre positive Eigenschaften wie Abenteuerlust, Offenheit und Mut. Andererseits steht statt Arielles persönlicher Entwicklung noch immer vor allem ihr Verhältnis zu Triton und Erik im Vordergrund ihrer Handlungen und des Happy Ends, während es unter den Hauptfiguren an weiteren positiven Frauenfiguren mangelt. (Immerhin unter den tierischen Sidekicks ist mit der Besetzung von Awkwafina als Scuttle nun auch eine weibliche Figur vertreten.) Diese Aspekte grundlegend zu ändern wäre bei einem Arielle-Remake ohne eine komplette Neuinterpretation des Stoffes vielleicht auch nicht möglich gewesen, führt jedoch, wie auch andere Disney-Neuverfilmungen, zu der Ausgangsfrage: Brauchen wir im Jahr 2023 tatsächlich noch recycelte „Prinzessin trifft Prinz“-Geschichten? Können Remakes wie Rob Marshalls Arielle, die Meerjungfrau noch erfrischende, neue Perspektiven bieten? 

Dies bleibt zu bezweifeln, insbesondere da Disney sich in neueren Geschichten bereits seit Jahren weg von der klassischen Prinzessin-Prinz-Konstellation hin zu anderen Themen wie familiären Beziehungen, Selbstverwirklichung und Heldinnentum wendet und weiblichen Figuren dadurch deutlich vielschichtigere Perspektiven losgelöst von romantischer Liebe bietet (z. B. In Die Eiskönigin — Völlig unverfroren, Encanto oder Vaiana). Dennoch lässt Arielle, die Meerjungfrau guten Willen erkennen und ist damit durchaus nicht Disneys enttäuschendste Live Action-Neuverfilmung (s. z. B. Mulan). Und falls der Erfolg des Films der talentierten Halle Bailey weitere Hauptrollen einbringt, jungen Fans zeigt, das jede:r ein Meermensch sein kann, und Studios wie Disney weiterhin zu mehr Diversität unter ihren Protagonist:innen motiviert, dann hat sich das Remake vielleicht doch gelohnt. Die nächste Schwarze Prinzessin — diesmal mit einer neuen, eigenen Geschichte — hat Disney bereits angekündigt: Asha, im Original gesprochen von Ariana DeBose, ist die Hauptfigur des Animationsfilms Wish, der im November 2023 in die Kinos kommen soll. 

Arielle, die Meerjungfrau läuft seit dem 25. Mai im Kino.

Charlie Hain