Cannes 2023: Highlights des Festivals (Die Zweite)

Die zweite Woche des Cannes-Festivals brachte mit sich einige Highlights und die schon von Anfang an höchst erwartete Preisverleihung, bei der Justine Triet den großen Preis mit Anatomy of a Fall und Jonathan Glazer den Preis der Jury für The Zone of Interest gewonnen haben. Die Variable, die sowohl Triets Gerichtsdrama als auch Glazers Nazistudie verbindet, ist natürlich Sandra Hüller. Doch es gab viele Filme, die nicht unerwähnt bleiben sollten. Ohne Umschweife: hier die Kritiken der zweiten Woche in Cannes.

© Les Films Pelléas – Les Films de Pierre

Anatomy of a Fall von Justine Triet

Justine Triets Anatomy of a Fall zeigt eine höchstproduktive Sandra Hüller, die auch in Jonathan Glazers Zone of Interest dabei ist, in einem Gerichtsdrama, das als Folie betrachtet werden könnte, um die Auswirkungen eines Prozesses auf eine Familie zu beobachten. Genossen im konventionellen Sinne wird das Drama nicht. Man ist daran gewöhnt, von solchen alle gegen alle auf dem Gericht Produktionen eine Antwort fast geschenkt zu bekommen, nämlich die Antwort auf “wer hat es getan?” und dann kommt eine dramatische Kamerafahrt, die schuldige Person mit Tränen im Gesicht, die endlich erklärt wieso sie das gemacht hat. Menschen, die James Spader in Boston Legal geguckt haben, wissen zusätzlich ja, dass es hauptsächlich darum geht, die Anwält:innen so cool wie möglich darzustellen, die sind unserer Sherlock Holmes, Menschen mit Redner:innen Skills, die die besten Politiker:innen des Landes demütigen würden.

Doch wir sind im Land von Saint Omer, das Drama lief gerade erst in den deutschen Kinos, das die Prozesse anders behandelt. Jedoch treibt Triet, anders als Diop, keine methodische Distanzierung gegenüber den Figuren, um dann mit ihnen schließlich zu identifizieren. Triers Geschichte enthält Sandra (Sandra Hüller), eine deutsche Schriftstellerin, die zusammen mit ihrem Mann Samuel (Milo Machado-Graner) und dem Sohn Daniel (Swann Arlaud), der eine Sehbehinderung hat, wohnt. Eines Tages befindet sich der tote Körper von Samuel im Schnee, vermeintlich runtergefallen, doch die Details stimmen nicht. Die Autoritäten vermuten foul play. Jemand hat Samuel fallen lassen. Was dann geschieht ist simple nachzuerzählen, der Prozess und die Untersuchung finden statt. Triets geschickte Kamera bewegt sich gekonnt, aber nicht auffällig durch den Film. Das Gefühl ergibt sich von selbst: die Regisseurin weiß Bescheid, was der Film will, verzichtet auf Twists und monumentale Aussagen, die von der Geschichte ablenken und bekommt dafür zwei starke schauspielerische Auftritte von Sandra Hüller und Swann Arlaud. Dass diese Art von Dramas normalerweise eine übertriebene Herangehensweise haben, kennt man ja von dem Golden Age des Camp-Kinos in Hollywood, wo jedes zweites Gerichtsdrama das Potential in sich versteckte, ein Fernsehdrama zu werden. Triets Film ist anders, nicht weil sie auf größeres will, sondern weil das ganze Pipapo für sie eben nur interessant ist, insofern  sie Menschen, die durch den bürokratischen Kram durchgehalten haben, darstellt. Eine unleugbare Wahrheit, die des Körpers.

© Cannes Film Festival

Club Zero von Jessica Hausner

Jessica Hausners jüngster Film ermöglicht durch ihren von Interviews mit Schüler:innen informierten Film ein Gespräch über Einfluss und die oft unterschätzte Stellung von Schüler:innen in einer Welt, in der Bedeutung entweder knapp oder allgegenwärtig ist. Dabei ist es höchst empfohlen, auf die Erzählung zu achten, sie täuscht. Miss Novak (Hausner gibt ihr keinen Namen) gespielt von Mia Wasikowska, und dabei fügt sich die Rolle zu einer Reihe von fragwürdigen Menschen hinzu, die Wasikowska mit Rasanz ins Leben gerufen hat, bringt die Bedeutung mit sich. Sie hat nämlich eine Berufung, die sie in eine private, für den oberen Mittelschicht geeignete Schule verschleppt. Ein Vater fand sie online, sie sollte den Schüler:innen “bewusstes Essen” beibringen, eine neue, effiziente und nachhaltige Art, Essen zu verzehren. Novak ist aber weniger Lancaster Todd in The Master und mehr eine konfuse Figur, deren Ziel es ist, das latente Potenzial der Kinder zu entdecken und erwecken. Der Unterschied ist ausschlaggebend. Bevor die erste Szene des Films in Gang gesetzt wird, stehen die Tische und Stühle der Schule anscheinend leer, Hauser dreht das Ganze in Diagonalen, damit die Dreidimensionalität des Raums bemerkt wird, die an die Gui Bonsiepe-Photos von Cybersyn erinnern. Novaks leichte Kontrolle soll aber nicht regulieren, sondern inspirieren, virtuelle Pfade werden durch eine Methode, die intrinsische (du sollst für dich selbst weniger essen) und extrinsische (du sollst für die Gesellschaft weniger essen) Motivation mischt, aktuell.

Die von Hausner bevorzugte Art des Formalismus enthält ja extra klare Merkmale, die sie seit Flora (1995) und Lovely Rita bis zum Amour Fou (2014) und Little Joe (2019) begleitet haben: starke primäre Farben, die in ihrer Expressivität trotzdem Kühle verschaffen, erinnern an die Arbeit Elsworth Kellys. Halb- und Totalaufnahmen werden hauptsächlich verwendet, mit Mediumaufnahmen nur in spezifische Aktionen. Die Nahaufnahme existiert nur in Beziehung zum Zoom oder dem Schwenk. Die Kompositionen sind unbeweglich, der menschliche Körper nimmt eine skulpturale Form an, und die Bewegung ist mit Ausnahme bestimmter Szenen ausgeschlossen; die Figuren sind an verschiedenen Orten zu sehen, räumliche Übergänge werden vermieden. Die dadurch entstandene Distanz schafft die Abkehr von einer direkten emotionalen Verbindung. Stattdessen soll diese durch leuchtende Farben und Darstellungen voller Stille und Künstlichkeit ersetzt werden. Wenn Novak spricht, bewegt sie sich auf dem schmalen Grat zwischen Zynismus und Ehrlichkeit, der in gewisser Weise auch in den formalen Merkmalen des Films zu finden ist. Wenn es etwas wie eine österreichische Schule von Film gibt, dann lässt sie sich in den Momenten schön komponiertes Formalismus durchaus betrachten. Hausners Methode des Hinein- und Herauszoomens in diesem Film ist gekoppelt mit dem erzählerischen Schachzug, nicht prinzipiell zu entscheiden, wer im Film Recht oder Unrecht hat, wenn alles schließlich zu weit geht. Was hier mit Zynismus gegenüber sozialen Bewegungen verwechselt werden könnte, ist nichts anderes als deren Problematisierung in einem ausgeprägten sozialen Milieu.

Hausner ist kein Ruben Ostlund, dessen Kritik  schließlich auf Unterhaltungziele ausgerichtet ist. Die Herangehensweise mit den Figuren ist gnadenlos, als sie sie ihren eigenen Weg erlaubt, nicht folgenlos und nicht ohne dabei anzumerken, dass die Apparaten von Kontrollen (die Schule, das Essen, die Familie), die uns eine gewisse Sicherheit brachten, Nährboden für Denkrichtungen dienen, die ihre Legitimität mit unterschiedlichen Konstellationen von Ideen begründen. Die Schüler:innen in Club Zero melden sich für ihre eigenen Gründe in Novaks Klasse an, die dann in Novaks Ideen zu Systemen werden. Der Mechanismus ist die übliche Art, Politik zu machen und er dient und diente revolutionäre Politik von Links, doch eben solche Politik ist zurzeit, in Hausners Film, nur für Menschen verfügbar, die die ökonomischen Mittel haben, um sich am Verzicht auf den Grundkonsum zu beteiligen. Die Mehrheit von Schüler:innen, die der Film verfolgt, Ragna (Florence Baker), Fred (Luke Barker), Elsa (Ksenia Devriendt), Helen (Gwen Currant) verbringen ihr Leben zwischen Luxusvillen und Reisen in die Schweiz, die müssen sich nicht um die Bezahlung der Schule Sorgen machen, das ist alles schon von vornherein geklärt. Ben (Samuel D Anderson) wohnt aber in einer normalen Wohnung, nur mit seiner Mutter, die ihm alles kocht. Hausner und ihre Schriftstellerkollegin Géraldine Bajard komponieren Ben und seine Familie als Gegenpol zur bürgerlichen Haltung, aber sie können nicht gegen den Strom schwimmen, auch wenn seine Mutter alles durchschaut. 

Hausners formalistische Darstellung der Verwirrung der gegenwärtigen Politik bevorzugt methodisch keinen spezifischen Standpunkt und sie führt dies konsequent durch die Stimmen durch, die in ihrem Tonfall künstlich und tief, ruhig und kalkuliert bleiben. Direkte Komödie findet im Film nicht statt, eine Befragung, im höchsten modernistischen Stil, dessen, weswegen diese Zeilen und Dialoge lustig vorkommen, aber schon. Parodie wird mit der Ernsthaftigkeit des Geschehens vermieden, da die ehrlichen Gefühle der Gruppe kalkuliert nachvollziehbar sind. Die Schüler:innen glauben Novaks Geschichte sofort, ohne dass sie überzeugt werden müssen. “Ich sehe dich, du willst gesehen werden” sagt Ben in einer früheren Szene, “niemand sieht mich, allmächtige Mutter, niemand weißt, dass ich dazu fähig bin” antwortet Miss Novak in einer späteren. Der Glaube und das Vertrauen in sich selbst, wesentliche Bestandteile der alten Traditionen, lenken die Motivation der Figuren, bis sie eine scheinbar vollständige Aufklärung erlangen und „die Realität mit der Kraft ihres Geistes verändern.” Ihre Erkenntnis, die sowohl bitter antikapitalistisch als auch völlig eskapistisch ist, spiegelt die Worte des marxistischen Philosophen Jacques Camatte wider: Diese Welt müssen wir verlassen. Zuerst geistig und dann noch körperlich tun sie das auch.

© Cannes Film Festival

Marguerite’s Theorem von Anna Novion

Filme über neurodivergente Menschen beschäftigen sich damit, wie schwierig es ist, mit der “Behinderung” zu leben (Klarstellung: der:die Verfasser dieser Zeile hat Autismus, unter anderen weniger vermarktbaren Diagnosen und ist Mitglied eines Vereins, der sich als Unterstutüzungsnetzwerk neurodivergenter Menschen versteht), stützen deswegen an zahlreichen Klischees und Stereotype, die vor 20 Jahren als gesunder Menschenverstand galten und die jetzt zurecht bekämpft werden. Sheldon Cooper von The Big Bang Theory ist gleichermaßen ironiefreier Roboter und ein Genie, der Probleme damit hat, Sarkasmus zu verstehen. Der arrogante Physiker ist beispielhaft von dem, was Hollywood mit seinen autistischen Figuren treibt, nämlich sie als Comic-Relief und emotionalen Kern einer Erzählung zu positionieren. Der europäischen Tradition des Kinos ergeht es nicht besonders besser, doch die Änderungen, die gemacht werden, scheinen mehr Herz zu haben. Eintritt Marguerite’s Theorem .

Eine brillante Mathematikerin, Marguerite versteht sich selbst als eine Obsessive der Mathematik, die nur lebt, isst, schläft und träumt für ihre Doktorarbeit, die von der Goldbachschen Vermutung (oder, wie es im Film heißt, um “viel davon zu beweisen). Wenig geht es um die Mathematik jedoch, weil der Film von Marguerite besessen ist; ihr Geist und Lust führen den Film hin und her, doch da, wo er landet, ist schließlich konventionell und trotzdem radikal. Ihre Doktorarbeit wird von einem Mann geleitet, der sie ausnutzt; ihr Liebesleben wird auch eine unvorhersehbare und doch vorhersehbare Verbindung ins Leben gerufen. Dennoch wächst sie als Mensch auf, der trotzdem nie von ihren “Fehlern” lernt. Novion, hat man das Gefühl, weißt dass diese “Fehler” nämlich der idiotischste Schwachsinn sind, der Art, die nicht nur neurodivergente Menschen, sondern auch Frauen insgesamt in den Wahnsinn treiben. Emotionalität, Desinteresse an anderen Menschen, die Tatsache, dass unsere “Institutionen” uns mehr verletzen als helfen. Novion, Regisseurin und Bildgestalterin, konstruiert Szenen, die mit farbiger Expressivität gefüllt sind. Mit Schatten in Gesichtern der Menschen lässt sich hier mehr ausdrücken als die Geschichte erlaubt und obwohl die A Beautiful Mind-artige Touches doch dieser Art von Film gerecht werden, ist Marguerite’s Theorem lebendig und flüchtig schön.

© Maryam Tafakory

I Saw The Face of the Devil von Julia Kowalski, Lemon Tree von Rachel WaldenMast-Del von Maryam Tafakory und  Talking to the River von Yue Pan

Die Kurzfilme von La Quinzaine sorgten für eine schöne Mischung aus unterschiedlichen filmischen Ansätzen. Zwei von denen werfen einen Blick auf Weiblichkeit und gesellschaftliche Vorstellung dessen, was für die Bedingungen das Leben von Frauen bestimmen. Die anderen beschäftigen sich mit der Familie und ihrer Schwere. So Rachel Waldens Lemon Tree ein improvisierter Kurzfilm, der in 16mm gedreht wurde, der Film stellt einen Tag im Leben eines Vater und seines Sohnes dar. Teilweise ohne viel Dialog, teilweise mit zu viel (vor allem der Vater), zeigt der Film eine Formel, die noch nicht kalibriert ist. Die Improvisation in diesem Format kann ein lustiges Experiment sein, und der größte Triumph des Films ist ein direktes Ergebnis davon. Yue Pans Talking to the River zeigt aber die andere Seite. Der Film, der sich mit den komplizierten Gefühlen von Kai, einem jungen Chinesen, beschäftigt, ist eine Mischung aus verschiedenen filmischen Techniken, die manchmal im Widerspruch zueinander stehen. Mal rahmt die Kamera alles präzise ein, mal bewegt sie sich verwirrend nah an der Hauptfigur. Ein Film, der seine richtige Form noch finden muss.

Kowalskis I Saw the Face of the Devil folgt einem “Exorzismus” in Poland, als seine Protagonistin davon überzeugt ist, Opfer einer dämonischen Besessenheit zu sein. Mit einer kunstvollen und horrorähnlichen filmischen Grammatik versteht der Film seine Metapher für die gesellschaftliche Reaktion auf Queerness sehr gut und verlangt viel von seiner Hauptdarstellerin, die eine überzeugende und manchmal krude Version einer dämonischen Besessenheit liefert. Highlight unter den Kurzfilmen ist aber Mast-Del von Maryam Tafakory. Die iranische Regisseurin lieferte einen der wenigen experimentellen Kurzfilme des Festivals. Der Film, gemacht ohne viel Budget und anscheinend für jede Finanzierung abgelehnt, arbeitet mit Texten und Bildern von anderen Filmen, um eine Erzählung hinter der Erzählung wiederzuerleben. Eine Ablehnung der Tyrannei und eine Entdeckung einer filmischen Grammatik, die für das Leiden des Körpers und verbotene Gefühle passt, hängen, so Tafakory, stark zusammen. Der Film arbeitet mit invertierten Farben und einem Text, der in der Mitte der Komposition neben der Übersetzung gezeigt wird, und vermittelt so eine starke politische Botschaft, ohne seinen persönlichen Anspruch zu gefährden und die Stimmung der Erfahrungen des Regisseurs zu übermitteln. Die bedrohliche Atmosphäre des Soundtracks ist ein Highlight des Festivals.

© Alva Film & Takes Film

Blackbird, Blackbird, Blackberry von Elene Naveriani

Elene Naverianis dritter Langfilm Blackbird, Blackbird, Blackberry folgt einer 48-jährigen Frau namens Etero in Georgien, die ein ruhiges, ja manchmal einsames Leben führt. Eines Tages jedoch hat sie eine sexuelle Begegnung, ihre erste überhaupt, die Gefühle und Sehnsüchte in ihr weckt. Naverianis Film ist voller metaphorischer Bilder, die sowohl helfen als auch zu viel sagen. Im ersten Bild des Films überhaupt fließt Wasser in Strömen, hart und unnachgiebig. Es folgen die Bilder von Etero, als sie eine Brombeere aufhebt und eine Amsel sieht. Die Herrschaft der Symbole haben wir betreten. Die Farben sind sehr natürlich, gedämpft im Außenbereich und leuchtend in den Innenräumen, in denen Menschen in Gesprächen und im Sex lebendig werden. Naveriani zeigt ihre Hauptfigur als verloren, doch auf der Suche nach einem Weg. Sie ist allein und möglicherweise in Schwierigkeiten, aber nicht unbedingt in einer Notlage, die sie nicht selbst bewältigen könnte.

Trotz der expliziten Metaphern – an einer Stelle ist ein phallusförmiger Ballon zu sehen, der sich von Etero wegbewegt – und der eindringlich passiv-aggressiven Dialoge, die das Bedürfnis haben, die expliziten Themen des Films – Einsamkeit in einem späten Lebensabschnitt, sexuelle Erkundung, verschiedene Lebensstile – durchzubuchstabieren, bleibt sich der Film während seiner fast zwei Stunden treu und kommt zu einigen ziemlich unbequemen Wahrheiten über die Art und Weise, wie wir mit den Körpern von Menschen über 40 umgehen und über sie denken. Nach ihrer ersten sexuellen Begegnung sagt Etero laut zu sich selbst: „Das war’s dann wohl mit 48 Jahren Jungfräulichkeit“, und sie beginnt, ihren eigenen Körper und ihre sexuellen Wünsche zu erforschen – mit einem Gefühl der Entdeckung und der Scham darüber, was die Leute sagen könnten und was sie selbst davon hält, eine Verhandlung mit sich selbst findet statt. Vor allem zeigt Naveriani aber eine grundlegende Sympathie für ihre Hauptfigur und einen Respekt für ihre Lebensentscheidungen, der sie nur selten lächerlich macht. Als Etero von ihrem neu gewonnenen Partner eine ziemlich anspruchsvolle Frage gestellt bekommt, antwortet sie klar, rational und sich ihrer Gefühle und Gedanken bewusst. Niemand muss Sex haben, und manche Menschen haben Sex, wenn überhaupt, zu früh, unvorbereitet auf die Komplikationen, die er mit sich bringt. Was Naveriani mit Etero präsentiert, ist eine menschliche Antwort auf solche Anforderungen, ein Leben der “Liebe” zu “genießen” und zu “leben.” Werbungen, die als Wahr-und-Weisheiten vermarkten werden. Vielleicht sind die Körper, die wir in den populären Medien und im wirklichen Leben nicht einmal in Betracht ziehen, genau die, die auf diese Probleme vorbereitet sind.

© Avalon

Creatura von Elena Martin

Ein normaler Gedanke für Menschen, die ein Trauma erlebt haben, ist: „Es wäre besser gewesen, wenn nie etwas passiert wäre“. Die überwiegende Mehrheit der Menschen kommt gut damit zurecht, sich nicht mit dem Trauma zu befassen oder einige Erlebnisse, die sie hatten, nicht einmal als traumatisch zu betrachten, sondern einfach als etwas, das sich auf sie ausgewirkt hat. Geringfügige Erlebnisse, die im Leben eines Menschen mitschwingen, müssen nicht unbedingt als Trauma eingestuft werden, aber das bedeutet nur, dass die Fähigkeit, sie zu ignorieren, oft sehr viel leichter ist. Sie werden zu einfachen Antworten: „Daran möchte ich jetzt nicht denken.“ Elena Martins zweiter Film Creatura beschäftigt sich mit genau solchen Mechanismen.

Unsere Protagonistin Mila ist in einer Beziehung mit Marcel. Ihr Leben verläuft bis auf den Sex ganz normal. Nach einer besonders merkwürdigen Erfahrung, bei der das Verlangen im Schlafzimmer verhandelt wird, bekommt Mila einen Ausschlag, der oft durch Stress verursacht wird, wie sie sagt. Martins Tugend ist es, sich nicht auf diesen Ausgangspunkt zu verlassen, um in ein Beziehungsdrama über sexuelle Ungleichheit einzutauchen, ihr Fokus ist eher nach innen gerichtet. Während der Film durch die Zeit springt, um zu versuchen, einige der Verletzungen zu ergründen, die Mila in ihrer Jugend widerfahren sind, besteht die Befürchtung, dass das, was ihr widerfahren ist, von ziemlich schwieriger Natur war und sie fürs Leben gezeichnet hat. Aber was Martin offenbart, ist viel einfacher und vertrauter, eine Reaktion von unzureichend vorbereiteten Eltern und Familienmitgliedern auf den Umgang mit der Neugierde eines Kindes. Martin konstruiert Gefühle durch aussagekräftige Musik und Tanzsequenzen, die manchmal das Gefühl zu choreografieren scheinen, das sie hervorrufen will. Die Dialoge sind nicht sehr subtil, sie neigen dazu, zu viel zu sagen, aber letztlich dient Creatura einer Geschichte, die auf die eine oder andere Weise erzählt werden sollte, denn sexuelle Probleme führen uns oft nach außen, und auch wenn die Psychoanalyse bedrohlich über dieser Hypothese schwebt, bleibt der Blick nach innen ein weites Erkundungsterrain. Ohne Scham erzählt Martin die Geschichte einer Frau, die sich vorwärts bewegt, indem sie rückwärts geht.

© 2022 CURIOSA FILMS – UNITE – FRANCE 3 CINEMA

Rien à perdre von Delphine Deloget

Delphine Delogets passend wütender erster Film ist eine Anklage gegen das französische System und sein komplexes Geflecht von Zwängen, die die Menschen in eine schlimmere Lage versetzen als zuvor. Der Film folgt Sylvie (Virginie Efira) und ihren beiden Söhnen, Jean Jacques und Sofiane. Als letzterer sich beim Versuch, Pommes frites zu machen, verbrennt, schaltet sich das Sozialamt ein und nimmt Sylvie Sofiane weg, was sie in eine Reihe von Besprechungen, Gerichtsverhandlungen und schwer erträglichen Verfahren für eine Mutter stürzt, die gerade gearbeitet hat, während ihr Sohn sich verbrannt hat.

Efira gibt eine hervorragende Vorstellung als frustrierte Mutter, die die bürokratischen Schwierigkeiten des Sozialdienstes durchschaut. Es ist unklar, ob die Situation, die der Film schildert, sich entspannt hätte, wenn Sylvie es geschafft hätte, zu kooperieren, anstatt sich so heftig dagegen zu wehren, dass das Sozialamt ihr eines ihrer Kinder wegnimmt, aber der Film deutet stark darauf hin, dass diese Kooperation die Menschen mehr als acht Jahre auf die Rückkehr ihrer Kinder warten lässt. In dieser Hinsicht hat Deloget recherchiert und mit mehr als 30 Eltern gesprochen, um ihre Erfahrungen zu dokumentieren. In gewisser Weise verfolgt der Film, was viele dieser Eltern getan hätten, um ihre Kinder zurückzubekommen, und porträtiert eine kämpferische Frau, die merkt, wenn sie belogen und in ein nicht enden wollendes Labyrinth von weiteren Komplikationen hineingezogen wird. Die „andere Seite“, die der Sozialarbeiter, kommt auch vor und zeigt, dass sie genauso gezwungen sind wie die Eltern, aber der Film stellt sich in letzter Instanz auf Sylvies Seite und zeigt, dass die Flucht die letzte Lösung ist. Die konventionelle, aber ruhige Regie von Deloget diktiert das Tempo und lässt Sylvie zu Recht in eine Spirale geraten, wenn sie mit dem dumpfen Geräusch des Eingreifens von außen in ihr ohnehin schon schwieriges Leben konfrontiert wird, ein Leben, das in letzter Instanz durch das Versagen der Gesellschaft so schwierig ist.

© Cannes Film Festival

La Chimera von Alice Rohrwacher

Radikal formalistische Arbeiten und trotzdem so casual wie die Luft, die wir als Lebewesen atmen, werden selten gesichtet, doch sie existieren in Zeiten von aufgeblähten Filmfestivals immer noch. La Chimera, von der italienischen Regisseurin Alice Rohrwacher (Corpo Celeste, 2011; Glücklich wie Lazzaro, 2018), sieht die italienische Künstler:in arbeitend auf dem Höhepunkt ihrer Kräfte. Üppig schön und trotzdem leicht wie eine Feder, der Film, gedreht in drei unterschiedlichen Bildformaten (Super 16, 16mm Film und 35mm) und mit eigenen Quirks (das Bild wird quadratischer, die Ränder ahmen die Ticks des Analogen nach), folgt dem Leben, in großem und ganzem, des von Josh O’Connor gespielten Arthurs, der gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde und zurück in dessen Leben, zurück ins Inland Italiens, wo er Teil des “tombarolis,” einer Gruppe von Grabdieben, einmal war und bald nochmal wird. Angeblich der dritte Teil ihrer unbetitelten Trilogie, die mit The Wonders (2014) und dem bereits erwähnten Lazzaro begann, Rohrwachers Film stellt Fragen zur Vergangenheit ihres Landes durch das Prisma von Arthurs Beziehung zu seiner eigenen Vergangenheit. Als Arthur ins Gefängnis ging, schien die Welt kaputt zu gehen, jedoch ist alles immer noch da, nur ein bisschen schiefer, wie nach links gedreht.

Das, was eigentlich zu formalistischer Befragung hätte sein können, wird stattdessen zu einer dauerhaften Auseinandersetzung mit Rohrwachers filmischen Mitteln. Die Wahl, mehrere Bildformaten zu haben, entpuppt sich als nicht trivial, sobald sie anfing, den eigenen Inhalt des Filmes plastisch zu verformen. Eine schöne Frechheit tritt ab der ersten Szene ein, in der Arthurs Super 16 Träume eine unterirdische Beziehung aufzeigen. Bald werden so casual wie möglich Menschen direkt an die Kamera sprechen, Kontexte enthüllend, und das Schicksal dieser wahrhaften Tombraiders wird aber unweigerlich in das große Netzwerk des internationalen Kunstmarktes verwickelt. Die Kunstwerke, die sie stehlen, sollten eigentlich persönliche Erinnerungsstücke sein, doch kontextlos und nur mit Signifikanten statt Geschichte um sich, sind sie nur Waren, eine schreckliche Erinnerung an die geistige Gentrifizierung der Vergangenheit. Rohrwacher ist aber dabei nicht selbstverliebt, ihre intellektuellen Ziele gehen nicht auf Kosten ihrer Verspieltheit, die sich herzlich mit der Historie eines Landes verbindet, das kaum einen besseren Vergleich bekommen konnte, als ein Mann, der obsessiv im fremden Land nach seiner Geliebte sucht. Rohrwachers zurückhaltend ungezügelter magischer Realismus sucht die Disparatheit des Inhalts mit seiner wilden und erfinderischen, aber nicht stringenten Form zu trösten. Ihre vielfältigen formalen Tricks scheinen auf die Unüberschaubarkeit des ländlichen Kontextes der Italienerin hinzuweisen, und mit La Chimera sollte die Welt hoffen, dass sie nie aufgibt, Wege zu erfinden, diese zwischen Vergangenheit und Zukunft verlorenen Geschichten einzufangen. 

Giancarlo M. Sandoval
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