Diagonale 2024: Highlights des Festivals

Die in Graz stattfindende Diagonale hieß das Publikum zwischen dem 4. und dem 10. April in die Kinosäle der Stadt willkommen, um sich die interessanten Filme der Kinolandschaft Österreichs anzugucken. Das Festival, das mit Favoriten von Ruth Beckermann anfing, einer unserer Lieblingsfilme der diesjährigen Berlinale, bot dieses Jahr, wie eine ihrer #Sektionen im Festival schön ankündigte, ein breites, neues, innovatives Kino. Die Filmlöwin war dieses Jahr auch dabei, um sich Neuentdeckungen anzuschauen.

Die Diagonale präsentierte nicht nur Premieren, sondern auch Highlights des letzten Kinojahres, einige, die in der Filmlöwin besprochen wurden. So wurde das Viennale-Highlight Die Ängstliche Verkehrsteilnehmerin von Martha Mechow (Text und Interview mit der Regisseurin) mit dem großen Diagonale-Preis für Spielfilme der Diagonale gekrönt.  Im Gegensatz zu früheren Artikeln enthält der folgende Bericht eine ausführliche Besprechung eines Highlights des Festivals und anschließend Kommentare zu ausgewählten Filmen.

© Mona Rizaj

Mut Me Lule von Mona Rizaj
Der nomadische Charakter des gegenwärtigen Kapitalismus bezieht sich auf ein neues Verständnis des Raum-Zeit-Kontinuums, dessen Erklärung sich, obwohl sie doch mit der Physik abhängt (von der Relativitätstheorie bis zum spekulativen Gedankengut, das tausende kluge und weniger gute Erzählungen geschaffen hat), in dem Forschungsfeld der Human-Geographie finden lässt. Diese postuliert eine Komprimierung dieser fundamentalen Beziehung, basierend auf die in der marxischen Grundrisse zu findenden Anstöße, die Transport und Kommunikationsmitteln seien die Vernichtung des Raums durch die Zeit. Jenes Verständnis, das der technologischen Entwicklung eine große Wichtigkeit in Bezug auf die Produktivkräfte verleiht, hallt in der Globalisierung und Medientheorien der letzten fünfzig Jahren wider, denn die implizite Beschleunigung, die die Komprimierung hervorbringt, klopft sogar an die Tür derjenigen, die sich aufgrund deren großes Glück, da geboren zu sein, wo sie geboren wurden, ein ordentliches bürgerliches Leben geerbt haben, das aus technologiegestützten Verbindungsmöglichkeiten besteht.

Aufgrund der lokalisierten Bedingungen jeder Theoretiker*in verfällt oft das Begreifen dieses Paradigmas in die Nabelschau sogenannter entwickelter Länder, die das Phänomen durch sich selbst verstehen, weswegen dieses sich lediglich aufgrund der Migrationspolitik als heiß diskutiertes Thema erweist. Der Prozess fährt dennoch fort, mit oder ohne Beteiligung der Entwickelten. Die Versetzung und Auswanderung der Menschen, die sich auf der Suche bessere Bedingungen für das Leben ihrer Familien machen, – “bessere” täuscht als Begriff, denn er umfasst ein breites Spektrum an Bedingungen – bedeutet allerdings, dass sich Menschenmassen treffen werden, auf knallharter, materialistischer Art und Weise, durch ihre Religionen, Kulturen und jeweiligen Kontexte. Die Zerschlagung des Raums durch die Zeit ermöglicht den Kontakt, der auch außerhalb des Internets stattfindet, zwischen radikal unterschiedlichen Menschen und deren Lebensumständen. Der Kulturbegriff neigt aber dazu, diese Verhandlungen zu Diskursen zu reduzieren; der liberale Geist imaginiert dieses Aufeinanderprallen der Kulturen als zivilisierte Konversation, die von allerlei europäischen Konventionen geprägt ist, deren Überschreitung strikt verboten ist.

In der von uns bevölkerten Welt, in der sich Menschen nicht nur den Regeln des respektablen Gesprächs folgend miteinander in Cafés unterhalten, sondern sich auch berühren, so hilflos wie ein Blatt im Wind, herrscht die Möglichkeit der Beziehungherstellung zwischen unterschiedlichen Körpern in der Form der gemeinsam verbrachte Zeit, die grundlos stattfinden kann und die diversen Konfigurationen enthaltet: Freundschaften, romantische Beziehungen, politische Tätigkeiten, die Möglichkeit des Tanzens an einem Samstagabend. Eine gesellschaftlich bedingte Kultur löst sich in diesem Prozess der Sozialisierung nicht auf, aber sie schafft Berührungspunkte, die es sonst nicht gegeben hätte. Auf welche Strukturen dieser Vorgang hinaus will, ist in politisch liberalen Ländern immer ungewiss, wenn auf etwas überhaupt gezielt wird, jedoch ist eine streitbare Struktur oft übrig geblieben, die Familie. 

In Mona Rizajs Diagonale-Highlight Mut Me Lule trifft die Regisseurin die Entscheidung zwei Teile ihrer Familie, ihr Großvater (aus Kosovo) väterlicherseits und ihr Großmutter (aus Österreich) mütterlicherseits, in zwei unterschiedlichen Tonspuren zu dividieren, ihre Stimmen beantworten Fragen zu ihren Kindern, Rizajs Eltern, und die Entscheidungen, die dazu führten, dass sich die Lebenswege von Isuf und Karina Rizaj überschnitten. Tatsächliche Überschneidung oder einfache Gegenüberstellung ist nirgendwo auf dem Film zu finden, da beide Menschen in unterschiedlichen Dörfern wohnen und sich nicht an einem Gespräch beteiligen. Die praktische Entscheidung trifft eine ästhetische Begründung; Rizaj befragt ihre Großeltern, dennoch geschieht keine Entblößung, keine Abwertung deren Perspektive. Weder auf der Tonebene noch auf der Bildebene ist Respektlosigkeit ein Begriff, Spüren von familiärem Ressentiment bleiben ausgeschlossen. 

Das, was Helga Scheidl und Athem Rizaj erzählen, sind subjektive Wahrnehmungen, die Rizajs sorgfältiger Ansatz isoliert, um deren faktische (“We grew as much as we needed ourselves, and what we had left, we sold“) und wörtliche (die Aussprache von “Blödsinn” im ersten Satz des Films, wie “Austria” von ihrem Großvater mit Melancholie gesagt wird) Eigenschaften hervorzuheben. Deren Aussagen spiegeln ihre Mentalität wider. Ihre Haltung gegenüber der Filmemacherin und ihren Fragen werden auditiv präsentiert, soll heißen: das, was gesagt werden sollte, wird gesagt, nicht mehr, nicht weniger. Die Audioschnitte unterbrechen Sätze, schneiden den Anfang heraus, setzen Aussagen in Gang und stoppen sie, wenn sie die richtige Menge an Informationen mitgeteilt haben. Das Raum-Geben, das Rizaj unternommen hat, erfordert Raum, damit die Worte nicht verloren gehen, sondern verweilen, ständig im Zustand der Suche und des Aufgebens gefangen.

Abstraktion, konzipiert als Prozess statt Bezeichnung, nennt das Entnehmen des Allgemeinen aus dem Besonderen, wofür eben ein Konkretum auf irgendwelcher Etage des Abstrahierens vorhanden sein muss. Um jenen Anfang zu ehren, in dem sich die Stimmen ihrer Großeltern  in dem Akt des Gesprächs entfalten, stellt Rizaj eine strukturelle Homologie mit den von ihnen bewohnten Orten her, ohne dass damit eine Wiederholung des Wesentlichen stattfindet. Die Stimmen verweilen bereits in der Audiospur, die Körper müssen nicht ins Bild zurückgebracht werden. Die Kulissen bleiben dann eindrücklich leer, dem Ton Raum gebend, damit Verbindungen eingeladen werden. Statt Bildverwirrung und Kontrollosigkeit über das Vorgehen, gibt es grüne Ruhe, bewohnbare Räume und Linien, die die Kompositionen in über vierzig Einstellungen leiten, die um zwanzig Sekunden vor den Augen bleiben. Keine allzu offensichtliche Beziehung zwischen den Bildern und dem Gesagten wird offenbart, jedes Bild bleibt seinem Geheimnis treu.

Die marxistische Vernichtung des Raums durch die Zeit hat bereits dank der Transport- und Kommunikationsrevolution stattgefunden, welche die von Rizajs Migrationsgeschichte ermöglicht hat. Doch eine andere Zeitentwicklung wirkt in Mut Me Lule mit, die Einführung der Zeit als bestimmender Faktor in das Nachkriegskino, ein Element, das Rizaj begreift, in Anspruch nimmt und ihrem Film Form verleiht. Der Verdienst begrenzt sich nicht auf das Kinematographische, denn ihre Erzählung profitiert von der Form-Materie-Homologie hier gefunden, um ihr Herz zu finden. Die Stimmen reden von längst vergangenen, von Rizajs Eltern und deren Geschichte, die unterschiedlich eingeordnet wird. Dennoch tun sie das nicht im Kontext eines “zivilisierten” Gesprächs, nichtmal mit einem Anruf, sondern im Kontext des Widerspruchs zwischen ihren eigenen Stimmen, deren Mitteln und Erinnerungen. ““I had a great desire (to visit them when they got together), to see what kind of family they are. But it wasn’t possible.“ sagt der Großvater. „Sicher. Aber wir hatten keine Möglichkeiten so weit zu gehen, ist ja Stress“, sagt die Großmutter. Die Stimmen verweilen allein im schwarzen Bild, dabei eine Schlussfolgerung des Zeitsiegs und der internationalen Ausweitung des Kapitals abbildend: man spricht mit Geistern an Zwischenorten, zu denen man nicht zurückkehren kann.

© elephy 1

Entdeckungen der Diagonale
In der Sektion „Innovatives Kino“ waren die schönsten und diskreten Momenten der Diagonale zu finden. Bei dem auf John Ashbery verweisenden, von Veronika Eberhart gedrehten Parallel Movement of the Hands werden Händen gefolgt, die Gesten ausführen, aber nicht ohne Ziel, sondern im Dienste des Erlebens der Ausbildung von Friseuren. Eberhart konzentriert sich auf die Hände als die absolute Essenz des Films, deren Wiederholung eine Differenz schafft, nicht die Wiederkehr des Gleichen. Die Schere, mit der man umzugehen weiß, ist eine Erweiterung des Körpers, dessen Kenntnisse zu den Klängen von Schubert zu üben gilt.

Eva Giolo, deren Kurzfilm The Demands of Ordinary Devotion im Jahr 2022 bei der Viennale zu sehen war, stellt in ihrer Arbeit Geste-Beobachtung auch dar, die sich liebevoll auf das 16mm Format stützt. Die belgische Künstlerin, die seit 2016 mit ihren Filmen in Festivals gefunden werden kann, arbeitet mit der Tugend der Schlichtheit, um ihre Filmkonstruktion zu bereichern. Silent Conversations besteht aus Umarmungen und Begegnungen zwischen Menschen, bei denen das Einzige, was zählt, der menschliche Kontakt und die Fähigkeit der Kamera zu beobachten ist. Dies tut sie mit schlicht komponierter Eleganz. Die letzte Arbeit der Künstlerin Stone, Hat, Ribbon and Rose, eine kinematographische Tour durch Brüssel, die gleichzeitig eine Botschaft an Chantal Akerman ist, lässt sich im Zusammenhang mit Demands und Silent Conversations sehen. 

Neben Filmen, die in der Filmlöwin einen Platz gefunden haben (etwa Martha Mechows Die ängstliche Verkehrsteilnehmerin, Sarah Pechs Ich hab dich tanzen sehn, Isa Schieches Die Räuberinnen, Franzis Kabischs getty Abortions und Ruth Beckermanns Favoriten) gab es zwei Filme hervorzuheben, die mit Überspitzungen arbeiten. Asche von Elena Wolff versteht sich als (nicht) repräsentatives Abbild der Linzer Kunstszene, aber nicht nur. Wolffs Provokationen richten sich gegen die Kunstszene im Allgemeinen, die Arschlöcher anbetet, nicht-weiße Männer missbraucht und Traumata für die eigene Kunst ausbeutet. An Energie mangelt es Wolffs Film nicht, die Ziele sind da, um getroffen zu werden. Das Versprechen einer Form, die all die Themen umfasst, über die Wolff sprechen will, ist etwas, auf das man sich in den kommenden Filmen freuen kann.
In
A Fat Person Goes to the Doctor von Veronika Merklein wird andererseits gezielt und fokussiert auf ein Thema abgearbeitet. Der Film ist ein Statement in einer Filmlandschaft, die oft normative Körper privilegiert. Die Erzählung ist bereits im Titel enthalten, die politische Botschaft ist kraftvoll und wird oft wiederholt, mit der Wut und Empörung, die nur aus Erfahrung kommen kann. Auch wenn die verschiedenen Szenarien in der Arztpraxis als Witz und Pointe angelegt sind, macht die Regisseurin und Schauspielerin deutlich, dass es in diesen Situationen, in denen ihr Leben und ihr psychisches Wohlbefinden von Fachleuten, die es besser wissen sollten, aufs Spiel gesetzt werden, nichts zu lachen gibt.

Giancarlo M. Sandoval