Viennale 2023: Die ängstliche Verkehrsteilnehmerin

In politischen Kreisen wird oft gesagt, dass bestimmte politische Richtungen eine Dosis Chaos enthalten, die schwer zu ertragen und kaum mit der realen Welt vereinbar ist, da wir in einer sozialen Struktur leben, die sich stets um Ordnung nicht nur im Sinne von Organisation, sondern auch von Disziplin bemüht. Wie diese Welt des bürokratischen Pipapos und trauriger, Anzug tragender Gestalten, die einem passiv-aggressiv Befehle zur Anpassung empfehlen, zustande kommt, weiß jede individualisierte Person in ihrer*seiner eigenen Besonderheit jenseits der politischen Richtung. Der Arbeit und der schmutzigen Münze, ganz zu schweigen von der imaginären, gehorchen wir. Es ist die hauptamtliche Aufgabe dieses von der Ökonomie beeinflussten diskursiven Feldes, die Bedingungen der eigenen Existenz zu schaffen und weiter zu rechtfertigen, weshalb die Diskreditierung von Alternativen so normal ist, dass nur bestimmte Vorstellungen von Chaos und Ordnung zugelassen werden. Die Analyse der unterschiedlichen Verständnisse dieser Begriffe etwa bei Startups und politischen Veranstaltungen lässt sich sofort als semiotische Anfängerübung begreifen, aber ob es sich dabei um die Kryptoökonomie oder um postkapitalistische Systeme und die Überwindung von Gender handelt, kann man relativ gut verstehen: Das Chaos hat System, oft kompliziert, aber nicht ohne Prozesse.

© Viennale

Ein Film, so komplex er auch ist, hat viele Ebenen, auf denen sich die Dynamik von Chaos und Ordnung beobachten lässt, hier nur zwei: das Filmemachen selbst und die politische Ebene des Inhalts. Über das Filmemachen selbst ist es schwierig zu schreiben oder zu sprechen, und man verfällt sofort in wilde Spekulationen, es sei denn, der Film ist eine Großproduktion und man bekommt fast täglich Details in das Email Postfach. Unkontrollierte Vermutungen haben an der Börse ihren Platz, in Diskussionen über Filme gehören sie zum Anekdotischen, wenn sie nicht gleich beleidigend werden. Vorstellungen darüber, wie das, was auf der Leinwand zu sehen ist, entstanden ist, gehören dennoch zum zeitgenössischen ästhetischen Urteil. Die Vor- und Nachteile des Internetzeitalters lassen sich in einem Satz zusammenfassen: Jede*r hat eine Kamera. Ob dies negativ oder positiv besetzt ist, hängt vom Tonfall ab. Besserwisserei, vom Publikum, von Kritiker*innen, ist oft neuen Stimmen vorbehalten, doch sie ist auch zutiefst geschlechtsspezifisch, basiert auf Annahmen von Bildung und Klasse und der inkohärenten Idee, dass man dem Film überlegen ist. Das gibt angeblich jeder*m das Recht, weil sie*er alles verstanden hat, die Filmemacher*innen auf eine starke, persönliche, direkte und invasive Weise zu kritisieren.

Beim Filmemachen widerspricht jede Beobachtung der Chaos-Ordnung-Dynamik der einfachen Vorstellung, man müsse nur die Kamera einschalten und sich etwas ansehen, dass der profilmische Raum nicht konstruiert sein sollte. Die reine Ästhetisierung von Begriffen wie Slow Cinema, Durational Cinema, Transcendental Cinema und anderen Kategorien, die dem Kunstfilm nahe stehen, dient dazu, die Filme, die das Pech haben, so kategorisiert zu werden, völlig überflüssigerweise von der Seite der Kreation her zu verstehen. Um eine minimalistische Ordnung im Film zu schaffen, müssen alle Abteilungen der Produktion das Chaos verstehen und wissen, was schief gehen kann, wenn es nicht richtig gehandhabt wird. Um das Chaos abzubilden, muss man eine Ordnung schaffen, eine eigene Art von Prozess. Die Planung der eigenen Schritte kann schmerzhaft sein, und jeder Film, der sich dieser Aufgabe stellen will, muss damit rechnen, dass Lernen Schönheit, aber auch Verwirrung bringen kann. Doch der kreative Prozess ist dazu da, sich genau diese Fragen zu stellen. Martha Mechows Film Die ängstliche Verkehrsteilnehmerin versteht diese Problematik als etwas, das direkt in die Struktur des Films selbst und damit in die Erzählung eingreifen muss. Dafür müssen die Möglichkeiten des Kinos erprobt werden, darin liegt der Gewinn – und im Falle des Films die Geschichte.

Denn um das Chaos des Films zu gestalten, hat Mechow eine Konstellation von Figuren ausgewählt und zusammengebracht, die sich mit verschiedenen Aspekten des zeitgenössischen Feminismus, seinen Problemen, seinen Erfolgen, seinen Kämpfen auseinandersetzen. Die von Drehbuchautor*innen propagierte Dreidimensionalität der Figuren wird aufgehoben, um Ideologeme, Grundeinheiten von Ideologien, zu entlarven und zu thematisieren. Das ist weder satirisch noch verunglimpfend, sondern tief in die feministischen Kämpfe des 21. Jahrhunderts eingebettet. Verschwinden und Wiederauftauchen bilden eine thematische Dialektik, die durch das Verschwinden einer Mutter mit den Worten „ich wünschte, ich wäre ein Teppich, dann könnte ich einfach liegen bleiben“ eingeleitet wird. Sie lässt die beiden Töchter Furia und Flippa allein zurück, doch als Jahre später eine Schlange im Supermarkt auftaucht, verschwindet auch Furia, was ihre Suche an der Seite von Flippa auslöst. Sie findet den Mutterkindkurort „Barranconi“ auf Sardinien, der von Frauen bevölkert wird, die sich in einem Prozess der Selbsterkenntnis, Reflexion und Befreiung befinden. Die Grundlagen der Geschichte sind nicht so sehr dazu da, um in verschiedene Richtungen entwickelt zu werden, sondern vielmehr, um in ihrer thematischen Dimensionalität verstanden zu werden. Das sorgfältig inszenierte Chaos von Mechows Film lässt sich durch seine Mittel verstehen. Voice-over, zwei Erzähler*innen, die die Geschichte ergänzen und befragen, Schnitte zwischen Vergangenheit und Zukunft, eine Mischung aus Handkamera und stabilen Kompositionen gehören zu ihrem formalen Arsenal, aber diese Aufzählung läuft Gefahr, eine filmische Sättigungsstrategie zu suggerieren.

Bevor wir etwas anderes als Schwarz sehen, hören wir zu, und wie um sicher zu gehen, ist die erste Zeile des Films ein „Hörst du das?“, das einem Fleck auf dem Teppich weicht. Die „andere Exit-Strategie“, die hier präsentiert wird, ist nicht die des Blutes, sondern die des Verschwindens der Mutter aus dem Bild der täglichen familiären „Verantwortung“. Dieses Verschwinden, umrahmt von den Geräuschen einer Person, die einen Preis erhält, deren Stimme bricht, als sie die Worte „my mother..“ wiederholt, begleitet von einer Beschreibung einer Amphibie, bildet den Kern der politischen Dimension des Films, in dem Chaos und Ordnung als ständige Verhandlung auftauchen. “The duty of embracing; I give you all my loving” Mechows Filmsprache ist dann nur fragmentarisch, wenn man “Vollständigkeit” als Anfang, Mitte und Ende versteht. Doch diese Echolalie der Mitten ist ein politisches Instrument, ein Blumenstrauß, der mit Bedacht für die Blumen im Konflikt zwischen Leben und Tod zusammengestellt wurde.

Kampf und Herz sind gleichberechtigt. Was in den Sprachspielen und Formulierungen zum Vorschein kommt, ist die Notwendigkeit der Figuren, zu zitieren, zu agieren, zu dissoziieren, ein anderes Ordnungsprinzip als das des Abenteuers und seiner Rhythmen zu entwickeln. Und darin findet der Film nicht-normative Vorstellungen von Körpern und deren Begehren. Körper, die sich umarmen, Gespräche, die angesichts des bejahenden Beharrens des Anderen von Angst erfüllt sind. Als Flippa diese Konfiguration betritt, bellt sie die bellenden Hunde an. Andere tun das Gleiche. Die Befragung dieser körperlichen Bewegungen erfolgt durch filmische Mittel, aber auch durch die ständig zirkulierenden Elemente des Films, vor allem durch Gemälde und Zeichnungen, mit denen die menschlichen Figuren in Berührung kommen und in die sie eingreifen, so als ob das Experimentieren mit ihnen eng damit verbunden wäre, ihnen Bedeutung zu verleihen. So funktioniert die Neusignifizierung, zumindest in einer Gemeinschaft, in der das Verständnis offen ist.  „Eine Schlange, ein Symbol des Unheils, hat dich überzeugt, dein Zuhause zu hinterlassen?” Von dieser Andeutung zu einer anderen Interpretation von Eva ist der Weg klar. Das Spiel mit der Sprache eröffnet Möglichkeiten und rekonfiguriert Gesten.

Diese Art, den Körper als etwas zu verstehen, das auf unterschiedliche Weise sprechen kann, ersetzt nicht die Nützlichkeit des Dialogs, um Dinge zu zeigen, die über das Gesagte hinausgehen. Unsere Frauengruppe trifft auf Männer, aber weit davon entfernt, eine direkte Konfrontation mit ihnen zu haben, reden sie einfach mit ihnen, nur um zuzuhören. Die politische Intervention wird hier mit einer Verspieltheit unterlaufen, die mit pathetischer Direktheit nichts zu tun hat und dabei zu Gesten übergeht, die die menschlichen Figuren in Frage stellen. Wenn Furia also in den Himmel geht, geht Flippa auf die Erde, mitten in ein Problem, mit dem viele um sie herum konfrontiert sind: Liebe, Eros. Vicky, der Mann, versteht nicht, wenn sie von einem heterosexuellen Knoten spricht, dem Moment, wo du liebst, was Liebe nicht retten kann. Unsere Figuren, als Schatten in einer zärtlichen Nacht, umhüllen einander ohne reißerische Umschreibung. Wie Flippa erklärt, ist Liebe ein gesellschaftlich bedingter Zustand, undenkbar ohne die Bedingungen, die sie beeinflussen, die sie möglich machen. Marx, aber auch Kant und jahrzehntelange feministische Theorien, von Shulamith Firestone bis Sophie Lewis, werden in dieser Szene verdichtet und unterstreichen ohne intellektuelle Überheblichkeit die Bedingungen, unter denen wir heute lieben, atmen.

An diesem Punkt ist die Dialektik von Chaos und Ordnung von einem Ende zum anderen übergegangen und offenbart ihren konfliktreichen Kern. Das Patriarchat, die heterosexuelle, weiße, bürgerliche Familie, der ohrenbetäubende Klang einer unsichtbaren Hegemonie, die dennoch die Körper und die darin eingeschlossenen Gefühle einschließt. „Man ist allein auf dieser Welt, und deshalb braucht man einander, um den Schmerz erträglicher zu machen“ sagt ein Kind, aber diese Figur der relativen Unschuld, die durch die Dichte seiner Sprache geschickt unterlaufen wird, spricht nur ein Faktor unter anderen an.Die einfachste Antwort auf jeden Vorschlag für einen politischen Wandel ist, dass man selbst noch Teil dieses „Systems“ ist. Dies wird in der Regel durch die Nutzung von Handys verdeutlicht und ist relativ leicht von der Hand zu weisen, es ist ein rhetorisches Spiel, das Konformismus verrät. In Die ängstliche Verkehrsteilnehmerin erkundet Martha Mechow das reale, körperliche und diskursive Dilemma, das die Forderung nach einer Revolution unserer Verhältnisse mit sich bringt. Denn wir sind hier, ringen mit unseren Gefühlen, versuchen widersprüchlich, die Utopie vorwegzunehmen, streben, arbeiten, brechen unsere Körper, bewegen sie anders, machen mit, nehmen den Zug, den wir eigentlich verbrennen wollen. Wir singen einer Person, die wir brauchen, vor, wie sehr wir sie nicht brauchen. Wie der körperliche Kampf in den Figuren in Mechows Film zeigt, bergen diese Widersprüche Möglichkeiten in sich, eine unleugbare, unbestimmte, körnige Melancholie unter ihnen.

Die ängstliche Verkehrsteilnehmerin könnt ihr auf der Viennale am Freitag, 27. um 18:00 und Samstag, 28. um 13:30 schauen. 

 

Giancarlo M. Sandoval
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