Die ängstliche Verkehrsteilnehmerin – Martha Mechow im Interview
In Martha Mechows Die ängstliche Verkehrsteilnehmerin scheint das Leben derart unvorhersehbar und unmöglich, dass ein einfacher Dialog zwischen zwei Menschen in unterschiedliche Richtungen gehen kann. Respekt vor dem Potenzial des Menschen, so der Film, führt nicht nur zur Akzeptanz der komplexen Menschlichkeit der Leute, sondern auch zu einem Verständnis der Filmgrammatik als eine mutierende Form. Die Hauptfiguren, auch wenn der Film von seinem Ensemble lebt, sind Flippa und Furia, erstere auf der Suche nach der letzteren, nach deren Verschwinden. Gespielt wird in Sardinien, und zwar im doppelten Sinne des Wortes, wo Furia jetzt Teil eines besonderen queerfeministischen Kurorts ist. Mechows künstlerischer Ansatz ist eindeutig ihr eigener. Ein Geheimrezept gibt es nicht. Geprägt von Jahren im Jugendtheater, der Zusammenarbeit mit Leonie Jenning, mit der sie das Regie-Kollektiv “Bäckerei Harmony” ins Leben gerufen hat, und ihrem eigenen Verständnis von künstlerischer Form, ist Mechows Vorstellung vom Film plastisch, wie Knetmasse. Sprache und Klang werden neu konfiguriert, Blicke werden vermieden, Stimmen werden verstärkt, und Kinder können sich sehr gut artikulieren und trotzdem wie Fortnite-Figuren tanzen. Die ängstliche Verkehrsteilnehmerin bekam bei der österreichischen Premiere den “Erste Bank Filmpreis” der Viennale. Die Begründung der Jury: Der Film ist außergewöhnlich. Am Vorabend der Premiere traf sich Filmlöwin mit Martha Mechow zum Gespräch über Neurodivergenz, den heterosexuellen Knoten, neue Projekte und die Notwendigkeit, kein*e Bürokrat*in zu sein.
Wie hast du das Panel „Body of Expectations“ empfunden?
Ich merke, dass diese Panel und Q&As Gespräche mir helfen, die sind für mich wichtig. Dadurch habe ich tatsächlich richtig viel Austausch. Ich hätte es nie gedacht, aber durch Instagram und auf Facebook suchen viele Leute mit mir Kontakt und schicken mir auch immer wieder Sichtungslinks zu ihren eigenen Filmprojekten. Und das ist so schön. Also dass Leute, die bei diesen Veranstaltungen waren, und sich nicht getraut haben, was zu sagen, mir im Nachhinein schreiben.
Menschen finden ihre Stimme auf unterschiedliche Weise. Du hast Legasthenie und bist daher auch neurodivergent, wie hast du das erlebt?
Ich war in der Schule super ehrgeizig, aber leider immer schlecht. Also ich wollte die Sachen so gerne verstehen, hab es aber nie. Es gibt Kinder, denen alles egal ist. Ich aber wollte gut sein und war es nicht.
Mein Misserfolg trotz der ganzen Bemühungen ließ mich fest davon ausgehen, dumm zu sein. Was auch immer das heißen mag. Heute versuche ic,h mir durch meine Arbeit das Gegenteil zu beweisen. Ich hab nämlich das Privileg, Kunst zu machen, wo die Kategorien „richtig“ und „falsch“ so nicht existieren. Das ist sehr heilend für mich, während andere Menschen, die Legasthenie haben, es in vielen Berufen schwer haben.
„Das ist sehr heilend für mich, während andere Menschen, die Legasthenie haben, es in vielen Berufen schwer haben.“
Du bist nicht mit der Stigmatisierung einer Diagnose aufgewachsen.
Es war so bei mir: Ich habe viele Tests gemacht. Ich weiß nicht, ob du das auch machen musstest, dass du so zum Arzt gehen musstest, um ganz viele Tests zu machen, weil sie wussten bei mir nicht, was hat die Person,o was ist das? Gleichzeitig habe ich aber Glück gehabt, dass ich meine Schule mitgegründet habe – ich habe mit anderen Kindern zusammen eine Schule gegründet, die anders funktioniert als andere Schulen.
Wie geht das?
Es war schwierig, da die Einzigen, die uns gefördert haben, die Kirche war. Hier hat übrigens auch meine Auseinandersetzung mit dem Christentum, welches ja in Die ängstlichen Verkehrsteilnehmerin sehr präsent ist, ihren Ursprung.
Wie bist du zum Theater gekommen?
An der Volksbühne gibt es ein Jugendtheater, und ich bin da hingegangen, um Schauspielerin zu werden. Ich wollte unbedingt Schauspielerin werden, dass war mein großer Traum. Seitdem ich denken kann! Also habe ich angefangen, weniger in die Schule zu gehen, um das zu machen, auch heimlich, weil meine Eltern waren natürlich so: „du musst Schule machen“. Aber das habe ich ignoriert und von da an war das so eine kontinuierliche Sache. Die Frau, die dieses Jugendtheater macht, P14 an der Volksbühne, Vanessa Unzalu-Troya, ist unglaublich wichtig für mich. P14 ist kein didaktisches Jugendtheater, sondern Kinder gehen dahin und schreiben ihre eigenen Theaterstücke. Es gibt keine erwachsenen Leute, die das machen. Das ist einfach normal, dass dort 15-jährige Kinder sagen: „ich habe 60 Seiten Text oder ich habe eine Idee“, letzteres reicht auch, und dann machen die einen Theaterabend. Ich habe dort zunächst aber eben als Spielerin mitgewirkt. Bis ich irgendwann zu Vanessa Unzalu-Troya meinte: „Ich arbeite viel lieber mit Männern als mit Frauen zusammen“. Wahrscheinlich weil ich bis dahin nur mit männlichen Regisseuren Erfahrungen gemacht habe. Jedenfalls hat sie daraufhin beschlossen: „jetzt bist du dran“, woraufhin ich mit meiner besten Freundin, Leonie Jenning, unser erste gemeinsame Stück gemacht habe.
Und vom Theater zum Film ist es nur ein kleiner Schritt..
Also die erste Situation war, dass ich bei René Pollesch bei einem wirklich tollen Theater- Film mitgespielt habe. Er hatte einen Text, den ich sagen sollte: „Coppolas Traum war es immer, dass irgendwann die technischen Mittel da sind, dass irgendwo auf der Welt ein junges Mädchen den besten Film aller Zeiten drehen kann. Und heute gibt es die technischen Mittel. Aber niemand macht ein guten Film!“, oder so. Also habe ich mich aus Trotz in Hamburg an der Kunsthochschule beworben. Dort bin ich in die Filmklasse gekommen, ohne dass ich viel Erfahrung hatte. Ich fand das Medium interessant, weil man Theater schon nur machen kann, wenn man eine Stimme hat, die bis ans Ende des Raums reicht. Und du musst einen Körper und Geist haben, der den Druck aushält. Ich aber wollte mit Leuten arbeiten, die vielleicht nicht so laut sind oder die womöglich Angst haben vor großen Gruppen frei zu sprechen.
„Ich aber wollte mit Leuten arbeiten, die vielleicht nicht so laut sind oder die wolmöglich Angst haben vor großen Gruppen frei zu sprechen.“
Der Körper scheint dir wichtig zu sein. Die Figuren in deinem Film bewegen sich anders, reden anders, wenn sie miteinander sprechen. Manchmal gibt es keinen Augenkontakt. Sie bewegen den Mund auf eine andere Weise. Wie hat sich das entwickelt?
Fast niemand meiner Freund*Innen ist an der Schauspielschule angenommen worden. Das hat uns sehr geprägt, vielleicht haben wir so gelernt, für unser eigenes Glück verantwortlich zu sein. Beim deutschen Film finde ich oft, dass die Form sehr stark ist, manchmal stärker als der Inhalt und ich möchte keine Bürokratin sein. Ich möchte nicht die Sachen, die nicht passen, passend mache. Ich will nicht aufräumen oder die Spielenden mäßigen. Mit den Leuten, mit denen ich arbeite, muss ich nicht dieselbe Meinung haben, ich muss nicht denselben Geschmack haben. Wir müssen uns nur für die gleichen Sachen interessieren. Ich habe immer daran geglaubt, dass das Interesse, nicht die Meinung, das Interesse reicht, um alles zusammenzuhalten. Am Ende ist vielleicht das Endprodukt nicht so uniform, es ist nicht warenförmig und es verzichtet, oder opfert manchmal den perfekten filmischen, cineastischen Moment. Aber das ist kein Kompromiss, sondern das ist meine feste Überzeugung, dass der Inhalt immer stärker als die Form sein sollte. Und wie dieser sich ausdrückt oder behandelt wird, darf sich unterscheiden. Zum Beispiel Selma, die Protagonistin, die Flippa spielt. Ich habe sie viel beobachtet und ich glaube, für sie ist Leuten in die Augen zu schauen… stressig. Warum soll ich sie zwingen, das zu ändern? Stattdessen will ich lieber in der Fiktion eine Welt schaffen, in der das in Ordnung ist.
Ein schauspielerischer Ansatz..
Schon. Ich finde das auch einfach interessant zu sehen, wie Leute denken, wie sie sich ausdrücken. Die Schauspieler*innen haben am Anfang klein gespielt, aber sie wurden immer größer. Sie haben sich expandiert und irgendwann wurden sie auch laut und manche nennen das „over the top.“ Aber ich glaube das sollte eigentlich so sein, oder? Ist doch in Ordnung.
Es gibt ein Konzept und auch eine Anerkennung für die Art und Weise, wie sich die Schauspieler*innen bewegen.
Ja. Beides. Also ich liebe Jacques Rivette und ich liebe, wie sich die Leute bei seinen Filmen bewegen. Es gibt so etwas, was auch auf Legasthenie und mein Verhältnis zu Musik und Orientierung zurückzuführen ist. Mich interessiert so etwas A-rhythmisches als Musik oder als Choreografie. Zum Beispiel bei der Protagonistin, Selma. Ich habe mich mit Leuten für einen Lesekreis über Mary Shelley getroffen, und ich bin da hingegangen, weil mich das interessiert hat. Frankenstein. Und ich habe Selma nicht gesehen. Ich habe nur ihre Stimme gehört, wie sie denkt und wie sie redet. Nur die Stimme, habe sie nicht gesehen. Und ich wusste, das ist meine Protagonistin. Das fand ich toll.
Es gibt eine starke Idee von Körperbewegungen, die zum Beispiel bei dieser Verfolgungsjagd zwischen Flippar und Furia vorkommt. Man kann sehen, dass eine von ihnen ihre Unterwäsche zeigt, und das ist nicht moralisierend. Es hat etwas Kindliches und Freies.
Ich habe geschrien „zeigt dein Schlüppi, zeigt dein Schlüppi!“ Sie hat ihn gezeigt und dann haben wir uns gefreut (Lacht). Es war das erste, was wir gedreht haben. Das allererste war das. Ich wollte das als Erstes drehen, um rein zu kommen, wie wenn du für einen großen Sprung Anlauf nimmst. Ich dachte, wir müssen reinrennen. Erstmal rennen wir alle und dann machen wir weiter. Das war gut, weil wir sofort diese Spiel-Dynamik hatten. Die beiden kannten sich nicht. Und das erste war diese Szene.
Der Film hat viele Brüche, aber einer der wichtigsten ist, wenn Furia weggeht und Vicky kommt ins Spiel. Dann wird der Film etwas melancholischer, ich frage mich angesichts der improvisierten und freien Form des Films, war das schon immer so?
Das Ende war ziemlich klar. Ich wusste das sehr genau. Ich hatte Texte dafür. Ich hatte mich darauf vorbereitet. Ich hatte Inspiration. In „Rebel without a cause“ gibt es diese Szene, wo sie in diesem verlassenen Haus Zuflucht finden, kurz bevor die Polizei den Jungen erschießt. Oder bei „Modern Times“ wo Charlie Chepplin mit seiner Freundin im Kaufhaus übernachtet. Das sind beides Szenen, wo das Happy End nach dem ersten zwei Dritteln des Filmes kommt und somit später ein alternatives Ende ermöglicht. Mich interessiert auch Melodrama. Deswegen wusste ich das. Alles davor auf, also auf Barranconi, war ein Expertin. Ich wusste immer, dass die Spielenden die Expert*innen für diesen Teil sind. Wir haben uns wirklich jeden Abend zusammengesetzt und gemeinsam überlegt: „Was drehen wir morgen?“ Zwischendurch haben sie auch gedacht „wir wollen was ohne dich drehen.“ Also was ist, wenn wir den Film übernehmen. Sie haben das ausprobiert. Dann haben sie gemerkt, demokratisch ist auch zu stressig. Aber es gab diese Momente der Revolution, es gab Momente der Hierarchie hinterfragen und es war viel offener und ging viel mehr um „wie macht wir das ?“ anstatt „was wir machen“.
Der Film geht dann in Richtung Melodrama mit feministischen Eigenschaften.
Ich habe am Ende etwas gebraucht, dass sich nach Genre anfühlt, um es kaputt machen zu können. Ich wusste von Anfang an, ich muss irgendwo stehen und diese Protagonistin geht von mir weg. Das war meine Idee vom Ende und so haben wir es dann auch gemacht. Alle standen hinter der Kamera und Selma ist in der Ferne verschwunden. Da wusste ich , ich habe ein Kapitel in meinem Leben hinter mir. Jetzt bin ich fertig damit. Selma und ich, wir haben uns beide richtig gut getan, weil sie mir geholfen hat, etwas abzuschließen. Und ich habe ihr, glaube ich, so viel zugetraut, dass sie sich dadurch selbst ermächtigen konnte. Sie war 18 Jahre , sie war sehr jung, aber so weise.
Ist die Idee der Zeitebenen auch bei den Dreharbeiten entstanden?
Nein. Das war immer klar, weil ich wusste, dass was ich mache was Chaos bedeutet. Ich wusste auch, ich brauche noch mal einen Moment danach, in dem ich das filmisch reflektieren kann. Bei einem anderen Film waren das 3D Animation und hier sind es die Zeichnungen, das Textbuch. Ich liebe Charlotte Salomon. Ich wollte so gerne in die Bilder reinschreiben, so wie sie es getan hat. Das war meine erste Idee, aber es war zu viel, leider. Stattdessen ist es Selmas Tagebuch geworden, dass sie mir nach dem Dreh anvertraut hat und dessen Bilder nun im Film vorkommen und damit auch sie als Autorin.
Deine Protagonistin findet keine Lösung zu dem heterosexuellen Knoten, heißt das, dass es keine Lösung gibt? Queerness ist in gewisser Hinsicht meine persönliche Artwort auf dieses bzw. mein „Problem“. Diese Arbeit hat mir eine Lebensweise ermöglicht, indem sie mich von meinen ursprünglichen Weg abgebracht hat! Der Film war für mich mit Anfang Zwanzig eine Möglichkeit gewisse Lebenszusammenhänge erstmal fiktiv zu hinterfragen. Der heterosexuelle Knoten war hierbei eine poetische Umschreibung des der Kernfamilie. Ein Konzept, das im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus entstanden ist und, wie ich glaube, die Geschlechter bis heute ökonomisch voneinander abhängig macht. Meine Behauptung, dass das keine biologische Gegebenheit sondern ein Arrangement ist, löst den „Heterosexuellen Knoten“ nicht auf, ist aber ein Angriff auf das bestehende eurozentristische Moral und Wertesystem.
„Meine Behauptung, dass das keine biologische Gegebenheit sondern ein Arrangement ist, löst den „Heterosexuellen Knoten“ nicht auf, ist aber ein Angriff auf das bestehende eurozentristische Moral und Wertesystem.“
Du hast schon ein anderes Projekt. Worum geht es da?
Ich bin gerade für einen Spielfilm am Antrag schreiben. Eine Geschichte, an der ich sicher noch lange arbeiten werde. Mit anderen Worten, ich bin am Anfang eines großen Rechercheprozess und ich freue mich auf diese Arbeit. Mein Film heißt „Das dreiblättrige Kleeblatt“ und spielt 1817 in Bristol. Es soll um etwas gehen, dass so wirklich stattgefunden hat. Eine Ereignis über die ich in Archiven erfahren habe:
Eine geheimnisvolle Frau taucht nahe einer Hütte des Dorfes Almondsbury auf. Sie spricht eine Sprache, die niemand zu verstehen scheint. Alltäglichste Dinge scheinen ihr Fremd. Indem sie immer wieder zeitgenössische Erwartungen durchkreuzt und auch sprachlich nicht zu fassen ist, erregte sie schnell großes Aufsehen. Gleichzeitig entzieht sie sich so der eigenen Lesbarkeit, und damit auch ihrem eigenen Subjektwerdens. Bis ein ehemaliger Seefahrer namens Herr Manuel Eynesso im Dorf auftaucht, welcher einige Zeit in Malaysia verbracht hatte. Er behauptet, die Sprache der jungen Frau zu kennen. Behauptet, dass die Unbekannte eine angesehene Person in ihrem Heimatland sei, welches er als in der Nähe von Sumatra liegend beschreibt. Er nennt sie Caraboo, entführte Prinzessin der Insel „Javasu“. Und da die Menschen zu dieser Zeit die Welt östlich von Europa, nur als vage romantische Beschreibungen des sogenannten Orients, aus der Literatur kennen, war Niemand, der als weltgewandt gelten wollten, bereit, laut zu fragen: Sind wir eigentlich sicher, dass Javasu ein realer Ort ist? Woraufhin das ganze Englische Empire sich in der Exotisierung der Unbekannten verwirklichte, welche die damaligen Grenzen des Vorstellbaren aus Not heraus zu sprengen versucht. Warum aber, will ich nun nicht vorweg nehmen und auch wer diese junge Frau wirklich war, möchte ich an dieser Stelle offen halten.
Ordnung und Chaos kommen dann auch vor?
Ja, es handelt sich um den sozialen Aufstieg einer Klassenlose, welche nicht „eingeordnet“ werden kann und sich daraufhin als Prinzessin ausgibt. Mich interessiert die Lüge als utopischer Moment und will weiterhin narrativ experimentierende Filme machen. Ich selber habe einen Hang zur Unordnung, möchte aber als Regisseurin einen Kosmos, für das Chaos der behandelten Inhalte und meinen Spielenden und mich schaffen: Eine Art Oase der Verwirrten.
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