Berlinale 2024: Favoriten

Über drei Jahre begleitet Dokumentarfilmerin Ruth Beckermann eine Volksschulklasse in Österreich von der zweiten bis zur vierten Klasse. Ihr Fokus liegt dabei auf dem Schulalltag abseits des Unterrichts sowie der Klassenlehrerin Ilkay Idiskut, deren Beziehung zu „ihren“ Kindern ein zentrales Moment des Films darstellt. Die Perspektive von Favoriten ist eine beobachtende. Was wir als Zuschauer*innen über die Kinder erfahren, entspringt kreativen Unterrichtseinheiten, in denen sie über sich und ihre Familien sprechen, oder auch Handyvideos, die die Klasse unter Beckermanns Anleitung für den Dokumentarfilm dreht und in denen sich die Kinder gegenseitig interviewen. Bedauerlicherweise hat nur sehr wenig dieses Materials Eingang in den Film gefunden. Weit häufiger blicken wir stattdessen durch die Kamera von Johannes Hammel und Beckermanns Regie-Perspektive auf die Filmarbeiten der jungen Protagonist*innen.

Ein Kind hält ein Bild in die Kamera auf dem steht: "Meine Sommer Ferien Planl. Erste werde ich mit meine Familie auf Bulgarien faren". Im Hintergrund ein Klassenraum mit weiteren Kindern.

© Ruth Beckermann Filmproduktion

Das ist deshalb bedauerlich, weil trotz der physisch auf Augenhöhe rangierenden Kamera, die Regie-pPerspektive, die einer erwachsenen, überlegenen Person bleibt. So gibt es zahlreiche Szenen, die in ihrer kindlichen Direktheit und Logik für ein erwachsenes Publikum vor allem Unterhaltungswert haben, also zum Lachen über die Protagonist*innen und nicht mit ihnen verleiten. Auch die Situationen, die die Überforderung einzelner Kinder hinsichtlich des Unterrichtsstoffs zeigen, haben adultistische Aspekte, wenn beispielsweise eine sehr lange Einstellung ein kleines Mädchen geradezu bloßstellt, während sie vergeblich mit einer Mathematikaufgabe kämpft.

Links im Bild ist die Klassenlehrerin, die mit ernstem Blick eine Gruppe ihrer Schüler*innen anguckt, die neben ihr stehen. Alle blicken sie aufmerksam an.

© Ruth Beckermann Filmproduktion

Die Absicht ist mit Sicherheit nicht die Bloßstellung. Vielmehr möchte Ruth Beckermann mit Favoriten eindeutig auf Missstände im österreichischen Bildungssystem hinweisen, insbesondere den Personalmangel. In der porträtierten Klasse, in der die wenigsten Kinder in ihrem Elternhaus deutsch sprechen, können allein die Betreuung und Förderung durch die engagierte Klassenlehrerin die meisten Kinder unmöglich für einen Wechsel aufs Gymnasium vorbereiten. Dabei zeigt Beckermann immer wieder den Schmerz, den jene Kinder empfinden, die am Bildungssystem scheitern, trotz Bemühungen schlechte Zensuren für Klassenarbeiten oder auf dem Zeugnis erhalten. Oder auf Grund der Sprachbarriere schon am Verständnis der Aufgaben scheitern. Welchen Wert kann ein Bildungssystem haben, das Kinder diesen Alters unter Druck setzt, sie dazu auffordert, sich und andere zu bewerten und anhand von numerisch markierter Leistung miteinander zu vergleichen?

Ein Klassenzimmer. In der Naheaufnahme zwei Kinder mit langen Haaren. Eines schaut von der Kamera weg. Das andere, das neben ihm sitzt und uns zugewandt ist lächelt. Rechts im Bild eine rosa Federmappe mit Schmetterlingsmotiv.

© Ruth Beckermann Filmproduktion

In den emotionalen Momenten ist Ruth Beckermann den Kindern ganz nah. Ohnehin ist es erstaunlich, wie unsichtbar das Filmteam im Klassenraum zu sein scheint, wie groß die physische Nähe ist, die die jungen Protagonist*innen erlauben, ohne dabei an Natürlichkeit zu verlieren. Die Hierarchie zwischen Film und Figuren entsteht erst auf einer Meta-Ebene – in der Auswahl des Materials und seiner Montage, die auf eine Aussage ausgerichtet ist.

Die Regisseurin hat ein Anliegen mit diesem Film. Daran ist erst einmal nichts auszusetzen, steht doch die Abbildung oder Untersuchung eines gesellschaftlichen Missstands oft am Anfang eines dokumentarischen Filmprojekts. Im Kontext dieses konkreten Films Favoriten bleibt aber die Frage bestehen, ob er nicht in der adultistischen Haltung gegenüber den Kindern jenes Problem reproduziert, das er eigentlich kritisieren möchte. Und ob der Schlüssel zu einem besseren Bildungssystem nicht auch darin liegt, Kinder als gleichwertige Menschen zu sehen und zu behandeln. Als Menschen, deren Logik wir nicht belächeln, sondern mit Interesse reflektieren, und deren Würde wir wahren, indem wir beschämende Momente nicht voyeuristisch auskosten.

Sophie Charlotte Rieger
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