Cannes 2023: Highlights des Festivals (Die Erste)

Cannes ist das größte und bekannteste Festival überhaupt. Hier werden Namen geschaffen, Rufe geboren, Regisseur:innen ausgebuht, Filmteams beklatscht und Kontroverse jeden Tag geatmet. Zum ersten Mal bin ich für  Filmlöwin dabei, um die Filme, die später in anderen Festivals während des Jahres zu sehen sind, zu rezensieren und die Verrücktheit des Festival-Wahns mitzuerleben. Während unserer ersten Wochen in Cannes haben wir die krasse Routine des Festival-Lebens erfahren, Bombendrohungen und, sagen wir mal, “kontroverse Figuren” inklusive. Jedoch sind wir nach Cannes gefahren, um Filme zu sehen und die Arbeiten von schon etablierten Regisseur:innen und neuen Stimmen zu gucken. Das Ergebnis sind die folgenden Texten, das erste Teil unserer Berichterstattung. Und mit wem sollten wir denn anfangen, wenn nicht mit der kontroversen Wahl für die Eröffnung?

© Stéphanie Branchu / Why Not Productions

Jeanne du Barry von Maïwenn

Die Erfahrung, Jeanne du Barry zu gucken, ist derjenigen ähnlichen, wenn man in Ausland geht und, nach einem ermüdenden Tag bei den Touristen-Kulissen, ins Bett kommt, macht den Fernseher an und guckt sich was für Zeug die da im Staatsfernsehen haben. Manchmal kommt das Ausland-Äquivalent von Tagesschau, manchmal kommt eine nationale Produktion, ein Film, der für Fernseher produziert wurde. Aus reiner Kuriosität wird sowas geguckt und dann wieder vergessen. Das Draußen ruft an. Während der ersten Vorstellungen des Festivals für die Presse konnte aber das Draußen nicht schnell genug kommen. Jeanne du Barry, der jüngste Film von der Schauspielerin und Regisseurin ist ein vergessenswertes Ereignis, das sich schon während des Sehens von dem Geist verabschiedet. Bekannt ist die Geschichte von Jeanne, da sie ein kontroverses Teil der französischen Geschichte vor der Revolution ist -ihre Haltung wird als “modern” eingestuft, und Maiwenn verwandelt sie in eine freche Frau, die sich gegen die Moral von Versailles stellt. Wie ein Fernsehfilm auszusehen ist kein Verbrechen, jedoch ist Maiwens Haltung bezüglich dem Material das Dämlichste, indem sie eine Regie ohne Handschrift führt und wenig über das von Sofia Coppola etablierte Marie Antoinette Formula ändert, und wenn doch, dann um es abzumildern.

Nicht mal bei Johnny Depp sind wir, dessen anonyme Leistung als Louis XV freilich bedeutete, dass der Film als Eröffnungsfestival vorbestimmt war, weil Filme in Cannes gefühlt so ausgewählt werden. Kontroverse trumpft künstlerische Leistung. Die Haltung der Filmlöwin gegenüber Depp sollte ja offensichtlich sein: besser von ihm nie wieder zu hören, es sei denn, es geht um Justiz. Doch Maiwen als Regisseurin, und zwar eine, die das Festival eröffnet, bedeutete, dass der Film rezensiert werden sollte und die Schauspielerei Depps evaluiert, also hier: Depp spricht 9 Zeilen unvollkommenes, weil nicht vorhandenes Französisch und gibt vor, seiner Interpretation eine gewisse Bedeutung zu verleihen, wo nur eine schwarze Leere sein kann, die durch die seltsame Wahl verursacht wird, einen Amerikaner einen geilen König spielen zu lassen. Maïwenns komische, nicht-erotische Interpretation einer erotischen Figur könnte in anderen Kontexten für eine feministische Entscheidung gehalten werden, eine Möglichkeit, einer bösartigen Figur menschliche Würde zu verleihen, doch wenn sie von einer Nicht-Feministin kommt, kann diese Geste nur als eigennützig gelesen werden oder, wenn sie nicht egoistisch interpretiert wird, dann dient sie den Interessen anderer Menschen, indem sie den Raum für ein Comeback schafft, einen Raum, um einen Ruf zu säubern, der niemals versucht werden sollte, gereinigt zu werden.

Strange Way of Life von Pedro Almodovar

Bei Almodovar finden wir häufig geteilte Interesswn:  eine Queere-Perspektive, Frauen in gut geschriebenen Rollen und unterrepräsentierte Lebensformen, die Aufmerksamkeit in seinen Filmen bekommen können. Das almodovarsche Spätwerk zeichnet sich jedoch dadurch aus, indem er immer wieder mit neuen, manchmal autobiographischen, manchmal politischen, und manchmal kommerzielleren Filmen kommt. “Strange Way of Life,” eine Zusammenarbeit mit Saint Laurent, geht in diese Richtung; indem er Pedro Pascal und Ethan Hawke als Gay-Cowboys in einer eher dünnen Geschichte für almodovarsche Standards gecastet hat, hat sie die Erwartungen erhöht, doch Strange Way of Life neigt dazu, Themen unexploriert zu lassen. Die Romance zwischen Pascal und Hawke sollte eine Antwort auf Brokeback Mountain sein, vor allem auf das Fehlen von expliziter Gay-Sexualität und für eine Weile lässt sich der Film so interpretieren, mindestens bis die expliziten Szenen auftauchen und andere, jüngere Schaupieler diese übernehmen. Die Kurzfilmform, lernt man hier und in dem mit Tilda Swinton besetzten La Voz Humana, lässt Almodovar einiges komprimieren (ein Leben, eine scheiternde Romance), doch so wie seine Figuren in zahlreichen Filmen will -und braucht- der Regisseur mehr, um sich zu entfalten.

© FredGervais

The Nature of Love von Monia Chokri

Romantische Komödien sind selten die Art von Filmen, die mit experimentellen Formen aufwarten. Sie neigen zum Anonymen, man schaut sie wegen der Stars oder zumindest wegen ein paar „guter“ Witze, wie im Fall von Judd Apatow. Doch in der Sektion „Un Certain Regard“, die laut Mia Hansen Løve normalerweise für Frauenfilme reserviert ist, versteckte sich Monia Chokris The Nature of Love. Eine romantische Komödie mit Magalie Lépine-Blondeau und Pierre-Yves Cardinal über eine Frau, die in einer sexlosen Ehe gefangen ist und die Leidenschaft für die Liebe durch eine starke sexuelle Begegnung mit ihrem Handwerker wiedererlangt. Schon überlegt, den Film lieber nicht zu  sehen? Es lohnt sich: Chokris Regie ist gespickt mit Zooms, schön ausgeleuchteten Bildern und sich im Hintergrund überlagernden Dialogzeilen. Der Stil erinnert weniger an Hallmark und mehr an Alain Resnais. Als wir Sylvain kennenlernen, den Liebhaber, der mehr Fantasie und Sinnlichkeit in Sophias Leben bringen wird, steht er im Schatten, bedrohlich, und die Kamera bleibt, anstatt auf eine Großaufnahme zu schneiden, bei diesem bedrohlichen Gefühl und zoomt auf ihn zu, so dass er sich nach und nach offenbart. Szenen werden geblockt mit unterschiedlichen Details, Räume werden nicht durch anonyme Kamerafahrten etabliert, sondern von den Figuren heraus. Abgesehen von den stilistischen Entscheidungen und den philosophischen Interpretationen der Liebe, die im Film explizit erwähnt werden (Bell Hooks und Plato!), gibt es nicht viel Neues an The Nature of Love, aber durch seine bloße Existenz stellt er eine Frage, die man jeder romantischen Komödie stellen sollte: Warum sollten die meisten von ihnen gleich aussehen, wenn sie wie dieser Film aussehen können?

 

© Ghost Grrrl Pictures

Tiger Stripes von Amanda Nell Eu 

Debütfilme sind nicht deshalb so schwierig, weil sie scheitern können, sondern weil sie einem Publikum, das mit der Arbeit und dem Geschmack des Filmemachers nicht vertraut ist, einen bestimmten Eindruck vermitteln. In der Kunstwelt neigen Kurator:innn dazu, vorsichtig zu sein, wie sie Werke einrahmen, das heißt, wie sie über sie sprechen. In der Filmwelt gibt es Pressemitteilungen und die Festivals, auf denen diese neuen Filme gezeigt werden. Vergleiche gibt es zuhauf. Das Debüt von Amanda Nell Eu wurde von der Kuratorin der Semaine de la Critique als eine Mischung aus Julia Ducournau (Raw, Titane) und Apichatpong Weerasethakul vorgestellt. Bekannte Namen, Namen von Leuten, die Preise gewonnen haben – kann der Film diesen Vergleichen überhaupt gerecht werden?

Die Antwort, falls die Rhetorik nicht schon offensichtlich ist, lautet nein. Die Berlinale hat bei der diesjährigen Ausgabe einen ähnlichen Fehler gemacht, und trotz guter Absichten sollte man sich von solchen Vergleichen fernhalten. Der Debütfilm von Amanda Nell Eu ist ein Experiment in viele verschiedene Richtungen, aber im Kern ist er ein Film über die Schwierigkeit des Erwachsenwerdens und des „Werdens“ als Frau durch den Signifikanten und die gelebte Realität der Menstruation. Zaffan, 12 Jahre alt, tanzt, schlägt, droht und beißt, aber ihr Weg ist nicht um seiner selbst willen transgressiv. Unter der Oberfläche verbergen sich Gefühle von Angst, Unzulänglichkeit und Gesellschaftskritik, die ihr helfen, sich in ein Monster zu verwandeln. Die komödiantischen Elemente des Films sind jedoch zurückhaltend, so dass die Körperlichkeit in den Mittelpunkt rückt. Obwohl das Debüt von Nell Eu an manchen Stellen etwas holprig ist, zeigt sie vielversprechende und ehrgeizige Ansätze. Das ist vielleicht auch den Kuratoren aufgefallen, ihre Ambitionen können mit der Zeit nur besser werden.

© 2023 TRESOR FILMS – GAUMONT – LDRPII – ARTÉMIS PRODUCTIONS

Rosalie von Stephanie Di Giusto

Einer der Filme mit einer Prämisse, die so unbeschreiblich ist, dass jeder Versuch, ihn zu beschreiben, unweigerlich als Witz herauskommt, ist Rosalie der Versuch, das Leben von einer jungen Frau, Rosalie, abzubilden. Doch Rosalie ist keine „einfache“ Frau, sie wurde nämlich mit Bart geboren, einer Krankheit, die ihren ganzen Körper aufgedeckt hat und die, im Jahr 1870, für Aufmerksamkeit sorgt. Stephanie Di Giustos Film beschäftigt sich mit dem Beispiel von Rosalie, um Metapher aufzubauen, die gar nicht verkehrt sind. Andersein ist andersein, egal ob heute in Berlin oder ob 1870 in Frankreich. Die Reaktionen sind unterschiedlich im Grad aber und Di Giustos schön gedrehter Film fehlt es an Feinfühligkeit, die die lächerliche Erzählung in eine empathische verwandeln würde. Obwohl Nadia Tereszkiewicz und Benoit Magimel das Beste aus einer traurigen Geschichte machen, können sie den Film von seinen Grundmetaphern nicht befreien.

© Lilies Film and Cannes Film Festival

Ama Gloria von Marie Amachoukeli-Barsacq

Der Eröffnungsfilm von la semaine de la critique, eine Sektion, die Aftersun auf dem Poster hat, hat Echos des von Charlotte Wells gemachten Films. Das Dienstmädchen einer bürgerlichen französischen Familie, Gloria, kümmert sich um die 6-Jährige Cleo, wenn der Vater nicht da ist. Alles ändert sich allerdings nachdem sie eine traurige Nachricht bekommt: ihre Mutter ist gestorben und sie muss zurück nach Cape Verde. Cleo weint. Gloria sagt ihr, sie sollte vorbeikommen. Nach den vielen Aufnahmen der süßen Cleo in Frankreich, kommt sie dann endlich in Cape Verde an. So einfach wird es aber nicht. Amachoukeli-Barsacqs intime Geschichte löscht den gesellschaftlichen Kontext fast vollständig ab, damit wir Cleos Sicht aufgreifen. Die Strategie ist klug, aber falsch: Cleo ist ein Kind, ja, aber die Menschen von Cape Verde sind eben Menschen, deren Privileggrad sich keineswegs mit dem von Cleo messen lässt.

Die Entdeckung der filmischen Sicht des Kindes, gut gemeint wie sie ist, bringt eine gewisse Naivität mit sich. Hier ist ein Kind, das nicht begreift, dass sie nicht nur sprachliche Barriere, sondern auch okönomische überwinden muss, um Teil der Familie von Gloria zu werden. Indem die Regisseurin die Menschen von Cape Verde auf kurze Eindrücke reduziert, werden sie zu Kulissen und Extras. Claire Denis Lektion über Postkolonialität und Gewalt, in allen ihren Formen, werden dann ignoriert, was bleibt, ist ein süßer Film, der insgesamt über die schauspielerische Leistung Louise Mauroy-Panzanis nicht gut wegkommt.

© Cannes Film Festival

The Feeling That the Time for Doing Something Has Passed von Joanna Arnow

Welche Dinge, materielle wie immaterielle, braucht man, um gut zu leben? Geld ist in kapitalistischen Gesellschaften das Mittel, um alles zu gewährleisten, das Grundlegendste, was man haben muss, um mehr und Besseres zu ermöglichen. Glückliche, oft auch „gebildete“ Menschen im Sinne eines Schulabschlusses, bekommen einen Job, steigen in den Ausbeutungskreislauf ein und können sich dann als Teil einer gut funktionierenden Maschinerie betrachten, die „ihren Teil“ leistet und das Nötigste erhält, um ihre Existenz zu sichern. Neben der Erlangung dieser Dinge müssen Opfer gebracht werden, muss Zeit für viele Dinge aufgewendet werden: Lesen, Lernen, dumme und beweihräuchernde E-Mails verschicken, um Wohlwollen zu erlangen. All dies hinterlässt unweigerlich einen Überschuss und eine Leere. Das Aushandeln von beidem ist das, was wir unseren Gesellschaften erlaubt haben, „Leben“ zu nennen. Das psychische Leben spielt sich in dieser Dialektik ab.

Joanna Arnows poetischer Titel The Feeling That the Time for Doing Something Has Passed (Das Gefühl, dass die Zeit, etwas zu tun, vorbei ist) handelt von den Verhandlungen mit der Leere, die wir oft, wie Arnow scharfsinnig zeigt, nackt und allein führen. Verletzlichkeit ist seit langem Arnows Markenzeichen. In ihren Kurz- und Dokumentarfilmen hat sie sich selbst in den Mittelpunkt gestellt und sich trampeln, ficken, beleidigen, manipulieren und kritisieren lassen. Sie ist nicht stolz darauf, wie sehr sie sich verletzlich macht, sondern versteht, dass mit dieser Verletzlichkeit auch ein Gefühl der Verantwortung dafür einhergeht, wie sie auftritt und welche Art von Humor mit dieser Verantwortung einhergeht: Das Publikum sitzt im Kino, es empfängt, aber es fordert auch.

Sorgfalt ist es also, was Arnows Film ausstrahlt. Die Geschichte einer von Arnow selbst gespielten Frau, die sich in der Welt des BDSM zurechtfindet, soll, so wird uns gesagt, sexy und fast pornografisch sein. Sicher, Arnow ist die Hälfte der Zeit nackt, aber bei dem, was sie mit ihrem Körper tut, geht es weniger darum, sich selbst zum Konsum zu präsentieren, sondern vielmehr darum, die Momente, in denen wir am verletzlichsten sind, zuzugeben und darzustellen. Diese zwanglosen, nicht-sexy Momente tiefer Aufrichtigkeit und Zweisamkeit. Arnow bevorzugt die lange Einstellung, die eine Bildökonomie ermöglicht, die im unabhängigen amerikanischen Kino nur noch selten zu sehen ist. Ihr Humor ist „trocken“, wie man mir sagte, aber nie überflüssig, er weiß, wann er seine Kleider vom Boden aufheben und die Szene verlassen muss. Die reichhaltig komponierten Szenen und das fein abgestimmte Drehbuch ermöglichen es The Feeling That the Time for Doing Something Has Passed, etwas weitaus Interessanteres zu tun, als nur nackte Körper zu zeigen: Er greift nach dem Herzen.

 

© MACT Productions

The Rapture von Iris Kaltenbäck

The Rapture, Iris Kaltenbäck Film, ist ein weiterer Film, der auf das Herz zielt, aber nur die Oberfläche erreicht. Das Problem in diesem Fall ist die grenzenlose Empathie, die Kaltenbäck für ihre Hauptfigur Lydia aufbringt, eine Hebamme, deren Leben so leer ist, dass man ihre Freunde an einer Hand abzählen kann, und deren Job als Hebamme sie geistig, körperlich und seelisch zu entkräften scheint. Als ihr Freund mit ihr Schluss macht, trauert sie nicht, sondern lächelt und findet eine andere Person. Sich selbst und andere zu belügen zieht sich wie ein roter Faden durch The Rapture, dessen blaue Innenräume Paris als kalte Hauptstadt zeigen, in der sich Lydia überangepasst hat: Als ihre Freundin verkündet, dass sie schwanger ist, bringt sie das Kind zur Welt, sobald ihr neuer Liebhaber sie verlässt, findet sie einen Weg, ihn mit Hilfe des Babys zurückzugewinnen. Verzweifelte Maßnahmen für verzweifelte Zeiten. Kaltenbäcks Regie und ihr Vertrauen, das Publikum nicht mit Informationen zu überhäufen, kommen dem Film zugute, aber ihre Charakterstudie berührt immer nur die Oberfläche der Subjektivität ihrer Figur, die den Grund für ihre Taten nicht anreißt, sondern diese Rechtfertigungen wegwirft. Wenn überhaupt, dann hat Kaltenbäck das Herz am rechten Fleck, ihr Selbstvertrauen zeigt sich schon in den ersten Minuten der Erzählung, wenn sie vorprescht, Informationen auslässt und mit ihrer Figur tanzt. Ein vielversprechender erster Schritt.

© Semaine De La Critique Cannes 2023

It’s Raining in the House  von Paloma Sermon-Daï

Paloma Sermon-Dais Debüt ist ein Mischmasch von Einflüssen. Ihr Formalismus erlaubt es ihr zum Beispiel, eine Eröffnungsszene mit zwei Spaziergängern, dem Bruder-Schwester-Duo, das den Film antreibt, auf die Leinwand zu bringen und sie lange laufen zu lassen. Sie ermöglicht auch die Kontemplation am belgischen See, an dem sich die Hauptgeschichte abspielt. An anderen Stellen bricht dieser Formalismus jedoch auf und ein starker Realismus setzt ein, weniger Chantal Akerman, mehr die Brüder Dardenne. Das wiederum weckt Sympathie: Wer sind diese Menschen? Die Geschichte folgt einer ziemlich direkten Verhandlung des Geschwisterduos, um der Tatsache nachzugehen, dass ihre Mutter sie verlassen hat. Der Bruder ist gerade von der Schule geflogen, die Schwester musste arbeiten gehen: Diese Geschichte hat keine besonderen Veränderungen, nur ein bisschen mehr Geduld. Ursula Meier wäre vielleicht die nächstliegende Referenz für diese Art von Understatement, aber dieser Name wird Sermon-Dais nicht gerecht, ihre Vision ist im Entstehen begriffen, und obwohl ihr starker gesellschaftspolitischer Blick mehr nach dem belgischen Kontext außerhalb Brüssels fragen könnte, bleiben ihre Äußerungen eher vage, aber dennoch stark. Das sind die Übriggebliebenen, die Menschen, die draußen wohnen. Auch ihre Geschichten sollten gehört werden.

© Les Films du Poisson

Little Girl Blue von Mona Achache

Bei manchen Filmen kann man sich einfach zurücklehnen und die spezifische Filmwelt bewundern, die durch reines Gefühl zum Leben erweckt wurde. Das soll nicht heißen, dass man intellektuelle Erfahrungen gänzlich meiden sollte, nichts dergleichen, aber manche filmischen Werke funktionieren eher auf einer emotionalen als auf einer intellektuellen Ebene. Diese Werke machen nicht auf sich aufmerksam, sie verlassen sich nicht darauf, dass man weiß, dass etwas getan wird. Tarantinos Kamerabewegungen um eine Gruppe von Menschen, die sich unterhalten, ziehen so viel Aufmerksamkeit auf sich, dass sie von anderen Regisseur:innen kopiert werden, um das gleiche Gefühl von schierer Effekthascherei hervorzurufen. Andere Regisseur:innen hingegen lassen einen nicht wissen, dass sie da sind. Ihre Schnitte sind fließend und ihre Übergänge natürlich, als wären sie dem echten Leben entnommen.

Mona Achaches Little Girl Blue ist, ganz im Sinne des Feminismus, weder das eine noch das andere. Achache entstammt einer langen Tradition von Frauen in ihrer Familie, die die Identität ihrer Mütter untersucht und darüber geschrieben haben. Achache wählt jedoch den Film als Medium für ihre Recherche. Dazu holt sie Marion Cotillard ins Boot, um ihre Mutter durch Gesten, Worte und Perücken wieder aufleben zu lassen und mit den Erinnerungen zu spielen, die sie hinterlassen hat, den Fotos, Texten und Aufnahmen, die ihre intimsten Lebenserinnerungen prägten. Dies ist in gewisser Weise eine sehr filmische Art und Weise, Familienprobleme zu lösen, und nimmt den autoethnografischen Charakter von Familiendokumentationen und lässt ihn in Vergessenheit geraten. Am Ende verwandelt sich Cotillard mit Gesichtsmaske in die Mutter von Achache. Der Schmerz wird noch einmal durchlebt, aber der Schmerz wird abgeschafft und in etwas ganz anderes verwandelt. Während wir sehen, wie Cotillard darum kämpft, die Stimme von Achaches Mutter, ihren Gang und ihre Erinnerungen nachzuahmen, vergessen wir Minute um Minute, dass es sich um eine Schauspielerin handelt, die mit einer Rolle kämpft. Der Exorzismus von Achache ist anspruchsvoll, und sowohl die Regisseurin als auch die Schauspielerin waren nach der Vorführung in Tränen aufgelöst. Achache und Cotillard kommen auf der anderen Seite heraus, sie haben ihre Mutter in ihrer persönlichsten Erfahrung gekannt und geliebt, sie umarmen eine Erinnerung und versuchen, sie weiterzutragen.

© May December Productions 2022 LLC

May December von Todd Haynes

Der beliebteste Amerikaner in Paris kehrt mit einer Erkundung von Skandalen und emotionalen Realitäten zurück, mit Natalie Portman und Julianne Moore als Duo. Die eine ist eine Schauspielerin, die versucht, für eine Rolle mehr über Moores Charakter herauszufinden, die andere war früher Teil eines Skandals, bei dem sie sich in einen minderjährigen Jungen verliebte. May December ist jedoch keine Erkundung einer Inzestgeschichte, sondern ein sorgfältig choreographiertes Drama der gesteigerten Emotionen, was manche als „Camp“ bezeichnen. Haynes lässt jedoch nicht zu, dass diese gesteigerten Emotionen den Film dominieren. Stattdessen rahmt und blockiert er die Szenen mit einer Präzision, wie man sie im zeitgenössischen amerikanischen Kino selten sieht. Immerhin ist dies ein Mann, der immer wieder über Chantal Akermans Jeanne Dielman gesprochen und unabhängige Regisseur:innen wie Kelly Reichardt unterstützt hat. Was man also bekommt, ist eine qualitativ hochwertige Interpretation von Camp, deren Kompositionen mehr dem europäischen Kino verpflichtet sind als alles andere.

Im Zentrum von May December steht der vulgäre Perspektivismus, die populäre Vorstellung, dass man eine Person oder einen Sachverhalt nicht wirklich mit vollständiger und objektiver Gewissheit beurteilen kann, weil man immer in sich selbst ist. Die Perspektive befähigt einen, aber sie kettet einen auch an sich selbst. Diese Art der Popularisierung eines philosophischen Gedankens, die in vielerlei Hinsicht durch Nietzsche eingeleitet und von dem spanischen Philosophen Jose Ortega y Gassett („Yo soy yo y mis circunstancias“) weitergeführt wurde, ist überall präsent, von den zeitgenössischen Medien bis zum Relativismus und Multikulturalismus. Ihre Popularität entkräftet sie nicht sofort als Hypothese, aber sie bedeutet, dass sie instinktiv zur Rechtfertigung vieler Dinge herangezogen wird. Gracie Atherton-Yoo (Julianne Moore) kann als ultimativer Fall dieser Fixierung angesehen werden: Bei ihrer Liebesaffäre mit einem minderjährigen Jungen liegt die Betonung auf „Liebe“ und nicht auf minderjährig. So kann sie ihre Argumente auf die Romantik stützen, die außer ihr und dem Jungen, Joe Yoo (Charles Melton), niemand wirklich verstehen kann, und nicht auf logische Schritte. Diese würden sich unweigerlich auflösen und ihr bliebe nichts anderes übrig als die Romantik als Instrument zur Schaffung von Realität.

Während Gracie den Perspektivismus aus Naivität wählt, wählt Elizabeth Berry (Natalie Portman) ihn wegen seines waffenartigen Charakters. Der Perspektivismus kann auf diese Weise den epistemischen Mangel rechtfertigen: Ich weiß nicht, wie sich andere fühlen, weil ich in mir selbst gefangen bin, also muss ich nachforschen, um es zu wissen. Das ist meine Pflicht. Was sich wie ein wissenschaftlicher Satz anhört, ist eher eine Suche nach Zwecken aus Eigennutz, die nichts mit Untersuchung zu tun hat. Obwohl sich Elizabeth manchmal wie eine Detektivin fühlt, worauf Gracies Sohn, ein ehemaliger Freund Joes, hinweist, ist sie keineswegs auf der Suche nach der Wahrheit um ihrer selbst willen, und sie ist in der Tat nicht in der Lage, Zusammenhänge zu verstehen oder die Perspektive anderer Menschen zu bewerten. Der bewaffnete Perspektivismus geht in beide Richtungen und lässt Elizabeth nicht nur epistemisch verarmt, sondern auch ethisch kompromittiert zurück. In ähnlicher Weise ist Joe durch die Perspektive einer anderen Person gefangen und nicht in der Lage, sie selbst zu hinterfragen. So sehr, dass die Frage, ob er als Teenager in einer Beziehung mit einer älteren Frau überhaupt Macht hatte, ihn in Stücke reißt.

Trotz der Beherrschung des Mediums durch Haynes hat May December viel Spaß an diesen Themen und kann mit seinen Wendungen und dem Einfallsreichtum seiner Schauspieler:innen Lacher hervorrufen. Was er jedoch nicht tut, ist, diese Fälle bis zum Ende zu untersuchen, Ideen werden angerissen, Perspektiven werden gewechselt, aber Haynes Vorliebe für das Understatement einiger Szenen lässt den Film mit einigen seiner Fragen wiederkäuen, während er keine neuen stellt. Wenn das Ende kommt, ist der Gnadenstoß so untertrieben, dass man Gefahr läuft, ihn zu verpassen: Wahrheit im Raum des fehlbaren menschlichen Handelns ist so relativ und fehleranfällig wie fehlerhafte Forschung, die aus eigennützigen Gründen betrieben wird. May December bestätigt einmal mehr, dass Haynes eine bürgerliche Familie so aussehen lassen kann, als stünde sie kurz vor der Entrückung, aber er lässt, ähnlich wie Almodovars Cannes-Beitrag, Raum für den Wunsch nach mehr.

Giancarlo M. Sandoval
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