Lesestoff: Unsichtbares und Ungesagtes – 10 Female*Feminist*Gazes

In ihrem “künstlerischen Forschungsprojekt“ (S. 7) Unsichtbares und Ungesagtes 10 Female*Feminist*Gazes nähert sich Regisseurin Bernadette Kolonko der Bildsprache eines vielstimmigen feministischen Kinos und formuliert am Ende potenzielle Antworten auf eine der zentralen Fragen, die feministisches Filmschaffen bewegen:

© Schüren Verlag

Wie können sich Filme von Raum- und Körperbildern des die Filmgeschichte bestimmenden männlichen Blickes, des male gaze, lösen und was ist ihm entgegenzusetzen? In einer Annäherung an alternative Blicke im Spielfilmkino formuliert Kolonkos Projekt Fragen wie: Können Bilder feministische Haltungen sichtbar machen? Welche Körper, welche Blickwinkel, welche Unsichtbarkeiten und welche Sprachlosigkeiten werden durch Bilder erzählt? Und bedeutet ein Lösen vom male gaze auch immer automatisch das Entstehen eines female gaze? Auf ca. 240 Seiten geht Kolonko in Unsichtbares und Ungesagtes daher fremden, internalisierten und persönlichen Blicken auf den Grund. Im Zentrum des Projekts stehen dabei Interviews mit 10 internationalen Regisseur:innen, die in einem offenen Austausch eine Auseinandersetzung mit diesen Fragen durch eine Verhandlung ihrer Filme möglich machen. 

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Ästhetiken des Widerstands

Bevor die interviewten Regisseur:innen in Einzelgesprächen detaillierte und persönliche Einblicke in ihr Filmschaffen,  Einflüsse und Räume des Ästhetischen in ihren Erzählungen geben, positioniert Kolonko ihr Projekt in einem Einführungskapitel, das der künstlerischen Forschung einen theoretischen Rahmen verleiht. Darin schlägt die Autorin vier Punkte vor, die einladen feministische Filmästhetik (neu) zu denken: „Blicke“, „Materialitäten“, „Körper und Raum“ und „Subjektivierungsprozesse“. In den auf dieses erste Kapitel folgenden Gesprächen macht Kolonko eine Auseinandersetzung mit eben diesen Eckpunkten des Unsichtbaren und Ungesagten möglich: Auf Grundlage von Filmstills geführte Interviews, erlauben es den jeweiligen Gesprächspartner:innen und Regisseur:innen ihre Wege der Sichtbarmachung über visuelle Ästhetiken klar aufzuzeigen. Wie feministische Filmästhetik für das Schreiben einer feministischen Filmgeschichte gedacht und entworfen werden kann, ist zentral in dieser Interviewsammlung, in der sich Stimmen von Laura Bispuri (Sworn Virgin, Daughter of Mine), Maryam Touzani (Adam), Teona Strugar Mitevska (I am From Titov Veles, The Woman Who Brushed off her Tears, God Exists, Her name is Petrunya) und Susanne Heinrich (Das Melancholische Mädchen) finden. 

Bernadette Kolonko im Gespräch mit Susanne Heinrich, © Schüren Verlag

Auch in Unsichtbares und Ungesagtes sind Laura Mulveys Erkenntnisse zum omnipräsenten male gaze im Kinofilm der Ausgangspunkt, um über ästhetische Wahrnehmung zu sprechen. In diesem Kontext wird der Theoriebegriff als Antrieb des Denkens über und durch eine veränderte Perspektive im Vergleich zum Bewährten und Bekannten verstanden. Den male gaze herauszufordern bedeutet, Filmbilder hinsichtlich Objektivierung und Subjektivität zu analysieren. Kolonkos Suchbewegung hin zu neuen, alternativen und anderen Blicken steht so im Zentrum des Forschungsprojekts. Um diese Ästhetiken des Widerstandes im Kino klarer zu fassen, lässt das Buch aber den Fokus auf reine Theorie schnell hinter sich und fokussiert sich auf tatsächliche Filmbilder und die Erfahrungen dahinter: In Interviews sitzen Kolonko Regisseur:innen gegenüber, die über internalisierte Blicke, weibliches Begehren, intime Räume, politisches Erzählen und voyeuristische Gazes in ihren Filmen sprechen. 

Von Streuner:innen und Sammler:innen

Während alle Regisseur:innen-Interviews Einzelgespräche darstellen und somit für sich stehen  können, finden Leser:innen dennoch schnell Übereinstimmungen in den individuellen filmischen Erzählwegen der Interviewten. So sprechen alle zehn gleichermaßen über einen Fokus auf Frauenfiguren, in dem Intimität, Verlangen aber auch Wut wichtige Formen des Widerstands gegen einen male gaze sind. In den getrennt geführten Interviews tauchen auch immer wieder ähnliche Schlagworte auf, die ein umfassendes Bild der Verweigerung von Konventionen im Erzählen der Regisseu:rinnen und den Taten ihrer Figuren schaffen. Der Akt des Raumschaffens und -eroberns rückt hier besonders in den Vordergrund. Vor allem die Figur der Streunerin, Wanderin, Umherstreifenden und Flaneurin ist ein wiederkehrendes Thema in den geführten Interviews und den darin näher betrachteten Filmen, um über das Einnehmen von und der Behauptung in öffentlichen Räumen zu erzählen. Die Flaneurin als Figur (und ihre verwandten Varianten) sucht, blickt und schreitet (manchmal auch ziellos) voran, während auch sie, besonders in Räumen, aus denen sie zuvor ausgeschlossen wurde, von Blicken beurteilt wird. Auf ihrem Weg sammelt die Flaneurin Eindrücke und Erfahrungen, während sie ihre Umwelt durch ihre bloße Anwesenheit verändert. 

God Exists, Her Name Is Petrunya, © Sisters and Brother Mitevski, Insomnia World Sales

Ähnlich sieht auch Kolonko ihre Position im eigenen Forschungsprojekt: Ihre Interviews gestaltet sie nicht als vorgefertigte Q&As, sondern lädt im Sinne des kollektiven Sammelns von individuellen Anliegen und assoziativen Gedanken zum gemeinsamen Flanieren durch die unterschiedlichen Wege der Filmästhetik ein. Das Ergebnis ist ein Zusammenspiel aus Gesprächen, die über Bilder erzählen, und Bilder, die Geschichten im Film erzählen. Vielstimmig und facettenreich kommen so Gedanken über Bildsprache als Form des Widerstands und Aufrufe zur Herausforderung der Sehgewohnheiten als Teil einer stetig voranschreitenden feministischen Filmgeschichte zum Vorschein.

Widerspenstige Blicke 

So verweist diese Interviewsammlung als Geste des Flanierens im Sinne des Raum-Einnehmens und -Eroberns auf eine Vielzahl von Vorschlägen, wie eine Verweigerung des male gaze aussehen kann.  Eine eindeutige Antwort auf die Frage, unter welchen Bedingungen z. B. ein wie von Kolonko benannter ungesagter und unsichtbarer Female*Feminist*Gaze überhaupt entstehen kann, bleibt Unsichtbares und Ungesagtes seinen Leser:innen am Ende schuldig. Hier sind die Antworten der Interviewten vielfältig – sowohl von einem Spiegel als auch von einer Umkehr des formal als Maßstab geltenden male gaze ist in den Interviews die Rede. Auch wenn eine klare (weil sicherlich unmögliche) Antwort ausbleibt, sind alle Regisseur:innen in Unsichtbares und Ungesagtes ganz individuell an einem Entgegentreten, einem Durcheinanderwürfeln und einem Lösen von dominierenden Blicken interessiert und wollen hin zu einer kritischen Distanz durch eine eigene Filmsprache. Sie sprechen sich gegen einen einzig wahren, kollektiven Female*Feminist*Gaze als Kontrapunkt zum male gaze aus und positionieren sich eher für persönlichen und individuellen ästhetischen Widerstand. So versammelt Unsichtbares und Ungesagtes Vorschläge weg von dem einen, alles bestimmenden male gaze hin zu fragmentierten, intimen und widerspenstigen Blicken, die nur in der Pluralität existieren können und sollen.

The Seen and Unseen, © Treewater Productions, Cercamon World Sales

Am Ende des Forschungsprojekts steht somit eine kollektive Suchbewegung, in der Widerstand durch Bilder des Intimen, narrative Versatzstücke, kleine Gesten, Streunen und Wandern und vor allem die Verweigerung des bis dato als Maßstab geltenden male gaze entsteht und zu einem emanzipierten Blick hinführt. Ein Flanieren hin zu einem „personal gaze“ (S. 81), wie ihn Laura Bispuri im Interview beschreibt, einem „new gaze“.

Unsichtbares und Ungesagtes: 10 Female*Feminist*Gazes ist im April 2023 im Schüren Verlag erschienen.

Sabrina Vetter