Berlinale: Sworn Virgin

Wir alle wollen im Leben unseren Platz finden. Man sollte ja meinen, dass dies in einer heteronormen Gesellschaft, die jedem Geschlecht eine feste Rolle zuschreibt besonders einfach sei. Aber was ist, wenn wir uns mit diesen Rollen nicht identifizieren können?

Sworn Virgin zeigt eine Welt, in der diese Zuschreibungen besonders limitiert sind. Im Mikrokosmos der albanischen Provinz ist das Leben einer Frau durch patriarchale Traditionen vorgezeichnet. Es gehört sich nicht, alleine in den Wald zu gehen. Es gehört sich nicht, Männerarbeit zu verrichten. Und es gehört sich nicht, einen Ehemann selbst zu wählen. Hanna weiß schon als junges Mädchen, dass sie sich diesen Regeln nicht beugen möchte, dass sie nicht auf eine passive Rolle festgelegt sein, sondern dieselben Rechte wie die Männer besitzen möchte. Um das zu erreichen, gibt es nur einen Weg: Sie muss ihre weibliche Identität, vor allem aber ihre Sexualität aufgeben und zum Mann werden. Doch die Identität einer „eingeschworenen Jungfrau“ ist damit nicht minder restriktiv als die Rolle der Frau.

© Berlinale

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Regisseurin Laura Bispuri hat sich entschieden, diesen dramatischen Entscheidungsprozess nicht ins Zentrum ihrer Geschichte zu stellen, sondern nur in Rückblicken anzudeuten. Die Haupthandlung begleitet Hanna (Alba Rohrwacher), nun unter dem Namen Mark bekannt, in ihrem verzögerten Selbstfindungsprozess. Was sie in der Pubertät nicht erleben konnte – das Entdecken des eigenen Körpers und seiner Sexualität, die Erforschung und Definition der eigenen Weiblichkeit – holt sie als erwachsene Frau nach, wenn sie die Isolation der albanischen Berge verlässt und zu ihrer Stiefschwester Lila (Flonja Kodheli) nach Italien zieht. Hier hat sie die Freiheit, ihre Geschlechtsidentität neu und individuell zu entdecken. Auf die Frage, welche Frau sie sein möchte, gibt es plötzlich mehr als nur eine Antwort.

Bispuri erzählt ihre Geschichte mit großer Ruhe. Obwohl sie große Dramen konsequent vermeidet, kann Sworn Virgin tief berühren. Es ist vor allem die große Nähe zur Hauptfigur und das grandiose, sehr körperliche Spiel von Alba Rohrwacher, die das Publikum durch das Interesse an der Heldin auch an die Geschichte binden Der gezielte Einsatz der Musik verstärkt emotionale Momente, erschafft sie aber niemals aus dem Nichts, ist nur Begleitung und Betonung.

Die Inszenierung ist sanft, opfert die Figuren niemals dramaturgischen oder emotionalen Effekten. Auch die Kamera begegnet Rohrwacher mit auffälligem Respekt. Ihr zierlicher, gebückter Körper wird niemals voyeuristisches Anschauungsobjekt. Stattdessen sind es die männlichen Figuren, allen voran Lars Eidinger, deren Körperlichkeit hier eine sexuelle Betonung findet. Es ist Marks/Hannas erwachender weiblicher Blick auf das Sexobjekt Mann, den wir hier miterleben dürfen. In einer wunderschönen Montage verschiedener halbnackter Körper im Schwimmbad zeigt Bispuri eindrucksvoll die Mannigfaltigkeit der menschlichen Rasse und verleiht dabei jedem Körper – egal ob dick, dünn, alt, jung, männlich oder weiblich – individuelle Schönheit.

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Mark/Hanna darf entscheiden, wer sie sein will. Ob sie Rock oder Hose, vielleicht einen BH tragen möchte. Sworn Virgin präsentiert dabei keine Lösung, sondern begleitet die Protagonistin nur ein kurzes Stück auf ihrem Weg, der am Ende des Films noch lange nicht abgeschlossen ist.

„… als ich noch nichts wahr“ beschreibt Hanna am Ende den Zustand bei ihrer Ankunft in Italien. Ein Satz, der tief berührt, vielleicht gerade deshalb, weil er so mancher_m bekannt vorkommt. In einer Gesellschaft, in der wir uns zu allererst über unsere Geschlechtsidentität definieren, stellt sich schnell das Gefühl der Verlorenheit ein, wenn wir den vorgefertigten Rollen nicht entsprechen können oder wollen.

In Sworn Virgin ist Italien ein Ort der Freiheit, der im Kontrast zum ländlichen Albanien steht. Ich würde jedoch die These wagen, dass es hier um mehr geht als nur die Darstellung eines lokalen Patriarchats. Hannas Kampf ist auch der unsrige. Viele Frauen experimentieren – vor allem in ihrer Jugend – mit jungenhaften Attributen. Dahinter steht in vielen Fällen die Hoffnung, dass mit dem entsprechenden Verhalten auch der erwünschte Respekt eintrete. Insofern unterscheidet sich unsere Gesellschaft vielleicht gar nicht so sehr von Hannas und Lilas Heimat. Auch bei uns versuchen sich Frauen beispielsweise in männlich dominierten Berufsfeldern dadurch profilieren, dass sie gängige männliche Verhaltensnormen kopieren. Und auch bei uns hört der Spaß genau an dem Punkt auf, an dem eine Frau nicht nur erfolgreich, sondern auch noch sexuell befreit sein möchte. Vermutlich würde Hannas Schwur, sich niemals von einem Mann berühren zu lassen, auch in unserer Gesellschaft so einige Gemüter beruhigen. Nicht umsonst wird von vielen Karrierefrauen verlangt, von Mutterschaft abzusehen. „Entweder oder, liebe Damen. Ihr könnt nicht alles haben!“ ist auch heute noch der patriarchale Subtext in vielen Quotendiskussionen.

Es ist diese Nähe zu unserem eigenen Leben, die uns an diese Geschichte fesselt und mitfühlen lässt. Doch Sworn Virgin erreicht mehr, als nur zu berühren. Der Film blickt uns direkt in die Augen und fragt: Welcher Mensch, welche Frau oder welcher Mann, willst Du sein?

Und wenn wir mutig genug sind, wie Hanna/Mark Traditionen hinter uns zu lassen, dann dürfen auch wir darauf ganz frei eine Antwort finden.

Kinostart: 23. Juni 2016

Sophie Charlotte Rieger
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