Dokumentale´24: Catching fire – The story of Anita Pallenberg
„I’ve been called a witch, a slut and a murderer“ mit diesem Satz aus Anita Pallenbergs unveröffentlichten Memoiren mit dem Titel „Black magic“ beginnt die Dokumentation von Alexis Bloom und Svetlana Zill Catching fire – The story of Anita Pallenberg. Sie deuten damit bereits an, mit welche gesellschaftlichen Normen und Zuschreibungen Pallenberg, die während der 1960er und 1970er Jahre als Schauspielerin und Model berühmt wurde, zu kämpfen hatte.
Die Dokumentation ist ein radikaler Ritt durch alle Kapitel des Lebens der Anita Pallenberg. Vom Aufwachsen in einer konservativen Familie, dem raschen Aufstieg durch die eigenständige Flucht in die USA, wo sie zu einem der factory girls von Andy Warhol avancierte, dem Zusammentreffen mit den Stones, dem Missbrauch durch Brian Jones, der Beziehung zu Keith Richards, dem Neustart ihres Lebens nach ihrem Entzug.
Möglich wird das unzensierte Porträt Pallenbergs durch das Super 8 Filmaufnahmen, die sie regelmäßig mit Mick und Keith auf Tour und im Alltag austauschte. Diese Aufzeichnungen vertraute sie ihrem engen Freund, Sandro Sursock, zur Aufbewahrung an, der es dann wiederum ihrem und Keith Richards Sohn Marlon übergab. Hinzu kommen Familienfotos sowie Exzerpte aus Pallenbergs unvollständigen Memoiren„Black magic“, die im Film von Schauspielerin Scarlett Johansson vertont wurde.Durch die Veröffentlichung dieses noch nie zuvor gesehenen Materials bekommt nun Pallenberg selbst das Mikrofon, erhält die Möglichkeit „to reclaim her soul“ wie sie selbst sagt, um ihre Version der Geschehnisse wiederzugeben, wie es Richards bereits in seiner bereits erschienenen Autobiographie „Life“ getan hat.
Dazu gehört auch die Schilderung des erlebten Sexismus, den sie einerseits durch ihre Partner erfuhr, die ihr die Rolle der Mutter und Hausfrau an ihrer Seite gewährten und nicht mehr den Raum ließen zur eigenen Selbstverwirklichung, andererseits den Druck durch Presse und ihre eigene Familie, die ihren Drogenkonsum in Kontrast zu dem der männlichen Rockstars in ihrem Orbit nicht als „part of the game“ empfanden, sondern sie stattdessen als unfähige Mutter abstempelten, woraufhin Pallenberg und Richards später zur Überzeugung gelangten ihre Tochter Angela bei den Großeltern aufwachsen zu lassen.
Die Dokumentation ist kein Rückblick, sondern kommt insbesondere durch die privaten Videoaufzeichnungen unterlegt mit dem voice over Pallenbergs eher einem Portal gleich. Um die Ereignisse historisch und popkulturell zu kontextualisieren und die Bedeutung von Pallenberg sowie anderen Frauen wie Marianne Faithfull für deren Einfluss auf Musik, Mode, Geschlechterverhältnisse der 1960er und 1970er zu erfassen, hätte es wohl weiterer Expert:innen und Weggefährt*innen bedurft. Lediglich ab und zu werden Details eingestreut, einerseits inwiefern Pallenberg das Antlitz und den Stil der Rolling Stones beeinflusste, wenn Wegbegleiter*innen erzählen dass „you could see Anita on him (Keith),“ nicht aber dezidierter hingewiesen dass bereits das “cross-dressing” und “gender-bending” zu Beginn der 60er noch undenkbar schien und der Beginn des Glam Rock sich dadurch ankündigte. Andererseits in welchem Maß neben der Mode Pallenberg zudem Einfluss auf die Musik der Stones nahm, etwa der Song „Gimme shelter“ entgegen der heutigen Assoziation mit den Protesten gegen den Vietnam Krieg als eine Reaktion auf Anitas Flirt mit Frontmann Mick Jagger in deren gemeinsamen Film „Performance“ von Donald Cammell, Nicolas Roeg verfasst wurde.
Durch den Rückgriff auf Vertraute und Anitas Familie erhalten die Zuschauer*innen selten eine Einordnung, sondern vielmehr eine Innenansicht und einen intimen Blick „behind the scenes.“ Catching fire ist nicht bloß stringente filmische Autobiographie, sondern zudem bittersüße Liebesgeschichte und Familientragödie. Denn die Berichte des näheren Umfeldes und von Anita selbst beleuchten, welche Konsequenzen und Herausforderungen dieses auf der einen Seite sehr luxuriöse und berauschende, doch oftmals auch chaotische Leben mit sich brachte. Vergebens suchen Zuschauer*innen nach einer Romantisierung des Rock ´n´Roll Lifestyles, sondern die Filmemacher*innen zeigen bewusst gerade auch die Abgründe des Ruhms. Beispielhaft dafür steht ein Ausschnitt in dem Marlon Richards, Anitas und Keith’s Sohn und Produzent des Films, sich vulnerabel macht, indem er preisgibt, wie er bereits im Kindesalter darauf trainiert worden war nach den Parties im Haus seiner Eltern alle zurückgebliebenen Substanzen zu entsorgen. Jedoch trotz aller selbst erlittenen Traumata stets die Resilienz seiner Mutter bewundert und ihr den Dienst erweisen will sie nicht nur als Opfer, als „irgendjemands“ Muse in die Geschichte eingehen zu lassen, sondern sie selbst als den jemand zu porträtieren.
Mit Catching fire haben Alexis Bloom und Svetlana Zill eine Dokumentation geschaffen, die Zuschauer*innen nachdenklich stimmen wird, eingefleischten Stones Fans neues Filmmaterial bietet und gleichzeitig Lust darauf macht sich mehr mit der komplizierten, inspirierenden Person Pallenberg zu beschäftigen, die von einer ihrer letzten Wegbegleiter*innen Kate Moss posthum als „everything you want a rockstar to be, actually everything you want a woman to be“ beschrieben wird. Als Zuschauerin bleibt man zurück mit dem Verlangen mehr darüber zu erfahren aus welcher Quelle Pallenberg ihre Inspiration und ihre Kraft schöpfte, um sich nach Krisen immer wieder aufzurichten und von jüngeren Generationen als ultimatives Rock Chic für ihren Stil und ihre schauspielerischen Darbietungen verehrt zu werden. Hilfestellung geben können hierzu beispielsweise Bücher wie das erst 2023 von Elizabeth Winder’s veröffentlichte Buch Parachute women. Marianne Faithfull, Marsha Hunt, Biance Jagger, Anita Pallenberg and the women behind the Rolling Stones.
Vom 18. bis 21. Juli veranstaltet das neue Berliner Filmfestival Dokumentale ein Summer Special, bei dem die Dokumentation „Catching fire“ am Sonntagabend den Abschluss bilden wird.
Über die Gast-Löwin:
Michelle Rauschkolb hat einen M.Ed Englisch und Geschichtswissenschaft, organisiert beruflich aber vor allem Wahlkämpfe und Kampagnen. Zuvor war sie ehrenamtlich seit ihrer Jugend als Mitglied der Jusos und Vize-Präsidentin der Young European Socialists aktiv um linke Bündnisarbeit auf internationaler Ebene voranzutreiben. Ansonsten beschäftigt sie sich privat leidenschaftlich gerne mit den musikalischen und gesellschaftlichen Umwälzungen der 60er und 70er Jahre.