SHAHID – Narges Kalhor im Interview
Narges Kalhor möchte einen Teil ihres Nachnamens ablegen: Shahid, Märtyrer. Es ist ein bürokratischer Akt, hinter dem sich eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Entwicklungen und Konventionen verbirgt. Mit Shahid macht Narges Kalhor diese sichtbar und sucht die Konfrontation mit den Schatten ihrer Vergangenheit.
Mit FILMLÖWIN Lea Gronenberg sprach Narges Kalhor über den feministischen Widerstand gegen patriarchale Strukturen in der Gesellschaft und der Filmbranche.
Wie bist du zu der Auseinandersetzung mit deinem Namen gekommen?
Das ist schon feministisch. Im Iran kommen die Namen nur über die Väter. Auf der anderen Seite behalten Frauen, wenn sie heiraten, auch ihren Nachnamen. Aber dass wir als iranische Frauen den Nachnamen der Männer tragen, heißt eigentlich, dass, was wir heute tun, schon vor uns von den Männern entschieden wurde.
Shahid ist ein Ehrenname, den deine Familie erhielt, weil dein Urgroßvater vor 100 Jahren im Iran zum Märtyrer ernannt wurde
Wir wollen das nicht mehr, wir wollen dieses Wort nicht mehr. Wir brauchen auch diese ganze Wertung und Heiligkeit, von der die Männer uns bis heute erzählen, nicht mehr.
Der Film spielt mit dieser Heiligkeit, mit religiöser Symbolik
Shahid kommt eigentlich von den Christen und wurde dann vom Islam übernommen. Wir wussten, dass Shahid mit dem Christentum anfängt, deswegen haben wir Elemente davon benutzt. Ich wollte keine bestimmte Religion kritisieren, weil das Problem darüber hinaus geht. Aber diese Religionen beschäftigen uns und beeinflussen unser Leben. Wenn man über männerdominierte Machtgeschichte spricht, können wir Religion nicht einfach beiseite lassen.
„Mein Problem ist, dass wir keine Erzählung von der weiblichen Seite haben.“
Worin liegt das Problem für dich?
Mein Problem ist, dass wir keine Erzählung von der weiblichen Seite haben. Wenn es um meine Urgroßmutter geht, habe ich keine Ahnung, warum sie ihren Nachnamen geändert hat. Wir haben das erst am Ende gecheckt: Der Nachname kommt von meiner Urgroßmutter. Sie hat es geschafft, den Namen aller nächsten Generationen an sich zu binden. Das ist krass. Aber mehr wissen wir auch nicht. Ich habe nichts zum Erzählen über sie. Über meinen Vater, seinen Vater und seinen Vater weiß ich alles. Das habe ich auch im Film verwendet, aber von der Frauenseite aus nichts, außer dass sie Kinder auf die Welt gebracht haben.
Diese Auseinandersetzung mit deiner Familiengeschichte ist sehr persönlich. Wie ist es für dich, das öffentlich zu teilen?
Ich bin ziemlich bekannt in der iranischen Diaspora, meine Geschichte ist bekannt. Alles, was im Film besprochen wird, ist mir passiert. Deswegen inszeniere ich es. Ich habe 15 Jahre autobiografische Filme in Deutschland gemacht. Ich habe meine Aufgabe getan, ich kann mich nicht mehr positionieren. Alles, wozu ich mich positionieren wollte, habe ich zusammengetragen und einen Film daraus gemacht. Das hat mir gutgetan.
„Authentische Momente von Filmen sind die Momente, die Filmemacher*innen rausschneiden.“
Deine Figur wird im Film von Baharak Abdolifard dargestellt, in einigen Szenen bist du als Regisseurin auch selbst sichtbar oder hörbar. War dir diese Präsenz wichtig, weil Shahid von dir handelt?
Eigentlich kommen diese Szenen daher, dass ich von Beruf Editorin bin. Dabei habe ich gecheckt: Authentische Momente von Filmen sind die Momente, die Filmemacher rausschneiden. Wenn die Schauspieler denken, die Kamera ist aus und ganz sie selbst sind. Ich habe das bewusst in mein Drehbuch eingebaut, weil wir da ganz andere Charaktere haben als die, die wir inszenieren. Wir haben das mit Baharak so geschrieben, weil wir einer Schicht von Migrant*innen in Deutschland eine Stimme geben wollten, die nicht VIP sind. Mir war auch wichtig, dass ich als Filmemacherin Antagonistin sein kann. Wenn ich nicht die Haltung von anderen reflektiere, dann bleibt ein Teil meiner Wahrhaftigkeit verborgen. Deshalb habe ich bewusst entschieden, dass die Darsteller*innen über mich reden und über meine Fehler.
Im Presseheft heißt es, Shahid sei eine gesellschaftskritische Satire über die Pflicht zum Widerstand. Worin besteht diese Pflicht deiner Meinung nach?
Wir denken, dass doch alles in Ordnung ist. Leider ist nicht alles in Ordnung. Es ist alles in Ordnung, wenn die ganze Welt in Ordnung ist. In der Weltpolitik ist es genau wie in der Szene der nackten Frau mit gewalttätigen Männern um sie herum. Wir sind ungeschützt bis heute. Wir denken, dass wir im feministischen Sinne so weit gekommen sind, dass wir gesellschaftlich endlich mal genauso viel wert sind wie Männer. Aber aus meiner Perspektive ist vieles wie vorher und wir haben nicht viel erreicht. In weltweiten Konflikten, den ganzen Kriegen, geht die Gewalt in erster Linie von Männern aus und wir Frauen und Kinder sind die ersten Opfer. Daran habe ich bei der Szene gedacht. Die Frau steht immer wieder auf, sie kommt aus dem Albtraum raus und sie durchbricht den Teufelskreis.
Auch in seiner Form ist Shahid widerständig. Wie hast du diesen Stil, der sich jedem Genre entzieht, entwickelt?
Wir bauen unsere heutigen Filme mit den klassischen drei Akten, die wir von den Griechen kennen. Das heißt, es gibt immer eine Heldenreise und es ist immer eine gewisse konzentrierte Geschichtenerzählung. Aber ich glaube daran, dass unser Leben vielschichtiger ist. Es kann sein, dass wir in einem Moment lachen und in den nächsten drei Sekunden doch weinen. Ich versuche mich bewusst nicht auf ein bestimmtes Genre zu reduzieren. Ich befreie mich von diesen gegebenen Rahmen: Wenn ein Film so aussieht, ist es ein Dokumentarfilm. Wenn er so aussieht ein Musical. Jetzt muss man lachen, jetzt muss man weinen. Emotionen sind nicht konstant dramatisch oder lustig oder traurig, sondern unser Leben ist eine Mischung von allem. Das möchte ich im Film stark machen.
„Ich muss mir erlauben, über Grenzen zu gehen. Sonst wiederhole ich alles, was bis heute war.“
Du hast bereits gesagt, dass es an weiblicher Erzählung mangelt. Inwiefern gilt das auch fürs Filmemachen?
Männer haben über 100 Jahre die perfekten Filme gemacht. Man hat diese ganzen Emotionen bei Titanic zum Beispiel. Es ist so echt, so glaubwürdig. Ich brauche das nicht nachmachen. Ich habe keine Angst, dass meine Zuschauer*innen sagen „Oh das ist doch aber Fake“. Nein, ich benutze bewusst Green Screen, weil ich keine perfekten Männerfilme nachmachen möchte. Ich möchte mit ihrem Element etwas Weibliches erzählen.
Damit gehst du ein Risiko ein
Ich muss mir erlauben, über Grenzen zu gehen. Sonst wiederhole ich alles, was bis heute war. Als wir gedreht und geschnitten haben, wussten wir nicht, dass es klappt. Man muss ein Risiko reingehen. Deswegen sind Produzenten wie Michael Kalb so wichtig, die an andere, neue Erzählungen glauben und nicht sagen: „Ach, Narges, da mache ich keinen Gewinn, da bin ich nicht dabei“. Das Filmgeschäft braucht solche feministischen Männer wie meinen Produzenten, der sich hundertprozentig hinter das Projekt gestellt hat.
Für die Gestaltung der Kostüme und des Bühnenbilds hast du mit Künstler*innen aus dem Iran zusammengearbeitet. Wie seid ihr dabei mit der aktuellen Situation vor Ort umgegangen?
Ich arbeite immer mit Künstler*innen aus dem Iran oder auch international. Als wir angefangen haben zu schreiben, haben wir alle ins Boot geholt. Dann kam Women, Life, Freedom. Das Internet war aus und wir mussten die Kostüme aus dem Iran bekommen. Die sind richtig durch die Welt gereist und am Ende habe ich zwei Koffer aus London geholt. Es gab einen Maler im Südiran, der uns über WhatsApp geschrieben hat, was zwischendurch immer wieder aus war. Wir haben es dann geschafft, die Dateien zu bekommen und hier auszudrucken. Früher habe ich immer andere Namen angegeben, symbolisch. Dieses Mal haben wir bewusst entschieden zu schreiben, dass die Kunst aus dem Iran kommt.
„Als Frau durfte ich nicht laut sein. Ich bin glücklich, dass wir jetzt so frech sind und uns das erlauben.“
Neben der Kunst sind Gesang und Musik sehr präsent in Shahid
Meine Komponistin ist Marja Burchard. Der Gesang ist von Roya Arab. Es ist so schön, wenn sie anfängt zu singen. Mir ist jetzt erst bewusst geworden, welche Sehnsucht ich hatte, laut zu sein auf der Straße. Marja kennt sich mit orientalischer Musik sehr gut aus und hat verstanden, warum ich mir so wünsche, dass eine Frau im Film laut auf persisch singt. Die Frauen im Iran dürfen nicht als Solo singen. Als Frau durfte ich nicht laut sein. Ich bin glücklich, dass wir jetzt so frech sind und uns das erlauben.
Kinostart: 1. August 2024
- SPIELERINNEN – Aysun Bademsoy im Interview - 12. November 2024
- HRFFB 2024: Democracy Noir - 4. Oktober 2024
- filmPOLSKA: Girls‘ Stories und Imago - 13. September 2024