Drei Gedanken zu: Nosferatu

Es ist Advent im Jahre 1838: Eine Reihe mysteriöser Vorkommnisse erschüttert den Backstein-Biedermeier der kleinen Hafenstadt Wisborg in seinen Grundfesten. Zunächst kehrt der Makler Thomas Hutter (Nicholas Hoult) von einer Reise in die Karpaten nicht zurück. Dann wird Ellen Hutter (Lily-Rose Depp), die mit Thomas frisch vermählt ist, von mysteriösen, dunklen Visionen, Krampfanfällen und Schlafwandlerei geplagt. Schließlich wird Knock (Simon McBurney), der Vorgesetzte von Thomas Hutter, in die lokale Psychiatrie eingeliefert und ein Pestschiff mit toter Besatzung und tausenden Ratten an Bord läuft im Wisborger Hafen ein. Statt besinnlich Weihnachten zu feiern, versuchen der wieder aufgetauchte Thomas, sein Freund und Reederei-Besitzer Friedrich (Aaron Taylor-Johnson) und der renommierte, wenn auch wegen okkulter Interessen von seinem Lehrstuhl verwiesene Prof. Von Franz (Willem Dafoe) das Böse zu stoppen. Oder ist es am Ende doch Ellen, die die Stadt und ihre Bewohnenden rettet?___STEADY_PAYWALL___

Farbfoto: Zwei Personen in Kleidern aus dem 19. Jahrhundert an einem strand. im Hintergrund ein Friedhof. Lily-Rose Depp als Ellen Hutter und Emma Corrin als Anna Harding in Robert Eggers’ NOSFERATU.

Lily-Rose Depp als Ellen Hutter und Emma Corrin als Anna Harding in Robert Eggers’ NOSFERATU, a Focus Features release. Credit: Aidan Monaghan / © 2024 FOCUS FEATURES LLC.

Exkurs in die Filmgeschichte: Von Dracula zu Nosferatu

Nosferatu heißt Nosferatu und nicht Dracula, weil die Prana-Film, die den originalen Stummfilm produzierte, sich zwar an Bram Stokers Schauerroman orientierte, die Rechte für die Verfilmung aber nicht erworben hatte. Also versetzte Drehbuchautor Henrik Galeen die Handlung kurzerhand nach Deutschland. Aus Mina wurde Ellen, aus Harker wurde Hutter und aus Dracula Nosferatu. Statt in London spielte die Handlung nun in der fiktiven Hafenstadt Wisborg (gedreht wurde in Wismar). Regie führte F. W. Murnau. Der Film kam 1922  in die Kinos und war ein Misserfolg. Obendrein ließ Florence Stoker, die Witwe von Bram, die Urheberrechtsverletzung nicht auf sich sitzen und zog vor Gericht. Die Prana-Film musste Konkurs anmelden und das Gericht ordnete schließlich die Vernichtung aller Filmkopien von Nosferatu an. Heute ist Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens nicht nur ein Klassiker des expressionistischen Stummfilms, sondern auch einer der ältesten Horrorfilme.

Dr Von Franz und Ellen Hutter im Schneetreiben.

Willem Dafoe als Professor Albin Eberhart von Franz und Lily-Rose Depp als Ellen Hutter in Robert Eggers’ NOSFERATU, a Focus Features release. Courtesy of Focus Features / © 2024 FOCUS FEATURES LLC. All Rights Reserved.

Stolperfalle Detailversessenheit

Nun hat der amerikanische Regisseur Robert Eggers den Stoff neu verfilmt. Eggers ist für historische Authentizität bekannt  – in seinem Debüt The Witch ließ er sich von Prozessakten aus dem 17. Jahrhundert inspirieren und achtete darauf, dass die Darstellenden Stricken und Melken lernten; in The Lighthouse verwendete Eggers dem Sujet angemessenes Filmmaterial und legte wert auf historisch akkurate Holzböden und in The Northman ließ er gleich ein ganzes Wikingerdorf nachbauen.

In Nosferatu ist diese Detailversessenheit Fluch und Segen zugleich. Der Film ist Buddenbrooks meets Hammer-Horror. Eggers rekonstruiert das Biedermeier-Bürgertum des frühen 19. Jahrhunderts so genau, dass es sich anfühlt, als steckten wir in den Korsetts und Gehröcken der Figuren, als könnten wir den Backstein von Wisborg unter den Fingern spüren und den feuchten Moder in Graf Orloks (Bill Skarsgård) zugigem Schloss riechen.

Farbfoto: Ein sichtlich verängstigter Thomas Hutter

Nicholas Hoult als Thomas Hutter in NOSFERATU von Robert Eggers. Courtesy of Focus Features / © 2024 FOCUS FEATURES LLC.

Das Setting ist perfekt, der Soundtrack dröhnt bei jeder Gelegenheit creepy und so basslastig, dass die Kinolautsprecher an ihre Grenzen kommen. Lily-Rose Depp hat einen Krampfanfall nach dem anderen, sie windet sich vor Erregung und vergeht vor Schmerz; Nicholas Hoult laufen vor Angst die Tränen übers Gesicht – und nichts davon ist nachvollziehbar.

Nosferatu erzählt wie aus der Vogelperspektive; er schaut emotionslos auf seine Figuren, als bewegten sie sich durch ein Biedermeier-Puppenhaus und vermittelt dabei absolut nichts von ihrer Angst, von der existenziellen Bedrohung, die sie heimsucht und der dunklen Anziehung, die Nosferatu ausüben soll. Der Film ist nicht gruselig, er trägt nichts zum Nosferatu-Stoff bei und ab und an wirkt er sogar unfreiwillig komisch, wenn die Bilder zu nah an eine der zahlreichen Dracula-Parodien herankommen (allen voran natürlich Dracula – Tot aber glücklich).

Ellen Hutter und die „Waffen einer Frau“

In Stokers Dracula besiegen die männlichen Figuren um Jonathan Harker und van Helsing den Vampir, während Mina Harker lediglich unter Hypnose Draculas Aufenthalt preisgibt. In Murnaus Nosferatu opfert sich Ellen Hutter freiwillig dem Vampir und erlöst so die Stadt von der Pestplage. Damit ist sie zwar die Heldin, darf aber weder überleben noch heroisch gegen Nosferatu kämpfen (sie muss sich ihm „hingeben“).

Farbfoto bei Nacht: Eine Person im Nachthemd vor dem offenen Fenster, davor wehender Vorhang, auf dem der Schatten von Nosferatu zu sehen ist.

Courtesy of Focus Features. Aidan Monaghan / © 2024 FOCUS FEATURES LLC.

Robert Eggers‘ Nosferatu bleibt seiner Vorlage treu, was dem Film am Ende zum Verhängnis wird. Anstatt sie neu zu denken, übernimmt Eggers an zentralen Punkten die gegenderten Handlungen der Figuren. In einem interessanten Twist opfert sich Ellen schließlich für das Wohl der Stadt und wird als held*innenhafte Erlöserin inszeniert, während Thomas abgelenkt und in dem Glauben gelassen werden muss, er würde das Monster männlich-heldenhaft besiegen.

Ellen besiegt zwar das Monster, allerdings besteht dieses Besiegen darin, bis zum ersten Hahnenschrei Vampirsex mit Nosferatu zu haben und dabei ausgesaugt zu werden. Ellen lenkt das Monster ab und das Sonnenlicht tut sein Übriges. Ellen opfert sich zwar freiwillig, tut dies aber wenig selbstbestimmt – mit weiblicher Handlungsmacht (female agency) hat das wenig zu tun.

Farbfoto: Ellen Hutter reißt sich das Korsett auf.

Courtesy of Focus Features / © 2024 FOCUS FEATURES LLC.

Weibliche Handlungsmacht in Nosferatu – und das übernimmt der Film ohne es zu hinterfragen von seinem mehr als hundert Jahre alten Vorgänger – beschränkt sich auf „die Waffen einer Frau“, also die zutiefst sexistische Vorstellung, dass weibliche Figuren nur durch ihre sexuelle Attraktivität, ihre als erotisch definierte Körperlichkeit, handeln können.

Gruseliger als jeder blutsaugende Untote ist der Umstand, dass die erotischen Untertöne von Murnaus Nosferatu (und Bram Stokers Dracula) heute herausgearbeitet werden – dass also etwas darstellbar geworden ist, was vor hundert Jahren nicht im gleichen Maße darstellbar war – während es unvorstellbar und undarstellbar bleibt, weibliche Figuren jenseits ihrer Sexualität zu denken.

Willem Dafoe lachend mit einer Laterne in der Hand und Flammen im Hintergrund.

Aidan Monaghan / © 2023 FOCUS FEATURES LLC.

Ebenso problematisch ist Eggers‘ Darstellung von Sinti*zze und Rom*nja. Thomas Hutter übernachtet auf seiner Reise zu Graf Orloks Schloss in einem Gasthaus und wird dort zum ersten Mal mit dem Vampirmythos konfrontiert. Zwar sind die Kostüme der Bauern, ihre Sprache und der Volksglauben rund um Vampire besser recherchiert als in den Vorgängerfilmen, doch auch Eggers stellt Sint*izze und Rom*nja als unheimlich und fremd dar und reduziert sie so zur Horrorfilm-Staffage mit problematischem Unterton.

Easter Eggs statt Handlungsstränge

Interpretationen von Stokers Dracula sind so vielfältig wie populär; es gibt ganze Forschungszweige, die sich mit dem Thema beschäftigen. Dracula kann als Roman über rassistisch motivierte Ängste vor Überfremdung, als antisemitische Streitschrift oder als Schauerroman über monstergewordene, unterdrückte Sexualität gelesen werden. Dracula/Nosferatu ist je nach Interpretation ein Sinnbild für Verführung und Verderben, eine Metapher für sexuell übertragbare Krankheiten oder für Seuchen allgemein.

Anstatt sich für eine Lesart zu entscheiden, stopft Eggers alle Vampir-Interpretationen in seinen Film. Das Ergebnis spielt mal auf bürgerliche Sexualmoral und „dunkles“ Begehren an (das übrigens so schwammig bleibt, dass nicht klar ist, was damit gemeint ist), mal verhandelt es eine als monströs und bedrohlich wahrgenommene weibliche Sexualität bzw. Lust.

Thomas Hutter in Orloks Schloss, hinter ihm ein Fenster.

Aidan Monaghan / © 2024 FOCUS FEATURES LLC.

Der Handlungsstrang um Thomas Hutter wiederum stellt Nosferatus Blutsaugerei als Form sexualisierter Gewalt dar, was allein deshalb interessant ist, weil die homosexuellen Anspielungen in Stokers Buch in bisherigen Verfilmungen entweder geflissentlich übersehen wurden oder – wie in Bram Stokers Dracula (1992, Francis Ford Coppola) – in heterosexuelle (Männer-)Fantasien umgewandelt wurden.

Keiner dieser Erzählstränge bekommt aber genug Aufmerksamkeit, um zum Thema des Films zu werden. Robert Eggers reißt die unterschiedlichen Interpretationen nur Easter Egg-artig an und führt keinen von ihnen konsequent zu Ende. So entsteht ein merkwürdig vages Mosaik aus einzelnen Deutungsmöglichkeiten.

Kinostart: 2. Januar 2025

Theresa Rodewald
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