Drei Gedanken zu: Wicked
Mit Jon M. Chus Wicked kam Ende 2024 eines der erfolgreichsten Broadway-Musicals aller Zeiten erstmals auf die Kinoleinwand. Das Stück basiert lose auf Gregory Maguires gleichnamigem Roman, welcher wiederum ein Prequel zu L. Frank Baums Kinderbuchklassiker Der Zauberer von Oz und dessen bekannter Filmadaption von 1939 darstellt. Wie auch das Musical erzählt Chus Verfilmung die Geschichte von Elphaba Thropp (Cynthia Erivo), der späteren „bösen Hexe des Westens“ aus Der Zauberer von Oz. Die erste Hälfte des Zweiteilers, der 2025 fortgesetzt werden soll, konzentriert sich dabei auf Elphabas Zeit an der Universität Shiz, während der sie ihre magischen Kräfte ausbaut, sich mit ihrer Mitschülerin Glinda (Ariana Grande-Butera) anfreundet, und davon träumt, eines Tages den großen Zauberer von Oz (Jeff Goldblum) zu treffen. Wickeds groß angelegte Musicalnummern und farbenfrohe Sets machen Spaß, doch hinter der magischen Fassade verbergen sich auch politische und soziale Botschaften und ein erfrischender Fokus auf weibliche Freundschaft.
Achtung: Der folgende Text enthält Spoiler für den Film sowie für die Handlung des Broadway-Musicals!
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Die Politik von Gut und Böse
Ein zentrales Thema und der moralische und politische Fokus von Wicked sind die vermeintlich simplen Kategorien Gut und Böse. „Die böse Hexe des Westens ist tot!“ — Mit diesem triumphierenden Ausruf beginnt der Film und verdeutlicht Elphabas Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung: Sie ist die kollektive Feindin, deren Tod alle Probleme in Oz zu lösen scheint. Den Rest des Films, als lange Rückblende inszeniert, verbringt Wicked damit, diese verlockend simple Darstellung aufzudröseln und zu hinterfragen, was gute und böse Taten ausmacht, wer diese Begriffe definiert und mit welchen Intentionen und Folgen.
Mensch sollte danach streben, gut zu sein und Gutes zu tun — Darin sind sich viele Charaktere in Wicked einig, doch ihr Verständnis von Gutem unterscheidet sich teilweise stark. Glinda beispielsweise scheint es primär darum gehen, dass andere sie als gut wahrnehmen, wofür sie sich an die Moralvorstellungen der Mehrheit anpasst. Bei ihrer ersten Begegnung bietet sie Elphaba beispielsweise ungefragt an, ihre grüne Haut zu verwandeln, statt sie gegen die Ausgrenzung zu verteidigen, die sie aufgrund ihrer Hautfarbe erfährt. In einer anderen Szene wehrt sie die Avancen des Munchkin Boq (Ethan Slater) ab, indem sie ihn ermutigt, stattdessen die „arme“ Nessarose (Marissa Bode) — Elphabas Schwester, die ihm Rollstuhl sitzt — auf ein Date einzuladen, nicht aufgrund tatsächlichen Interesses sondern als „Heldentat“. So mag Glinda zwar gute Intentionen haben, präsentiert jedoch Nessarose indirekt als aufgrund ihrer Behinderung nicht begehrenswert und reproduziert damit ableistische Vorurteile.
Auch Elphaba, deren Vater sie von klein auf als Sündenbock genutzt hat, sehnt sich nach Anerkennung. Dies nutzt die Zauberei-Lehrerin Madame Morrible (Michelle Yeoh) bewusst aus, indem sie ihr immer wieder versichert, sie könne eines Tages gemeinsam mit dem allseits bewunderten Zauberer von Oz Gutes tun. Dieses verlockende Angebot stellt sich jedoch als Manipulation heraus, mit der Morrible Elphabas starke magische Kräfte für die politisch fragwürdigen Ziele des Zauberers einspannen und gleichzeitig kritische Nachfragen unterbinden will. Wie auch der Zauberer selbst nutzt sie vage Darstellungen von Gut und Böse vor allem als Rechtfertigung für dessen diktatorische Herrschaft.
Hier zeigt sich Wicked als erstaunlich aktuelle Allegorie auf faschistische Systeme und populistische Propaganda. Wie der Zauberer selbst es etwas plakativ ausdrückt: Nichts bringt die Leute mehr zusammen als ein guter Feind. Um seine Macht zu festigen und sich als die Lösung aller Probleme zu präsentieren, hat er mit den Tieren — die in Oz sprechen können und einst ein gleichberechtigter Teil der Gesellschaft waren — einen Sündenbock geschaffen, denen er die Schuld an allen Missständen zuschiebt. Auf konkrete Probleme in Oz und geplante Lösungen oder auf Beweise für seine Behauptungen geht er dabei nicht ein und lässt so offen, was genau die Tiere angeblich böse und ihn gut macht. In der darauf folgenden stückweisen Entmündigung der Tiere — vom Verlust ihrer Jobs hin zu ihrem mysteriösen Verschwinden, dem die meisten Menschen in Oz nichts entgegensetzen — lassen sich beispielsweise Parallelen zum Holocaust erkennen. Zudem erinnert das vom Zauberer verbreitete Bild einer gesellschaftlich vergleichsweise machtlosen Minderheit, die dennoch angeblich die Mittel haben soll, der Mehrheit zu schaden, an aktuelle Parolen gegen Geflüchtete.
Neben vagen und flexiblen Definitionen hängt der Erfolg der Propaganda des Zauberers auch von der Grundannahme ab, dass gute Taten für die Mehrheitsgesellschaft nicht unbequem sein sollten und moralische Zweifel am System nur Unruhe stiften, im schlimmsten Fall sogar selbst ein Zeichen von Bösartigkeit sind. Im Geschichtsunterricht äußert beispielsweise Glinda, mit Zustimmung der Klasse, Unmut darüber, dass der Lehrer Dr. Dillamond (gesprochen von Peter Dinklage) die gesellschaftliche Ausgrenzung der Tiere kritisch beleuchtet. Als die Schergen des Zauberers ihn später ohne Begründung verhaften, wollen sowohl Glinda als auch Nessarose Elphaba davon abhalten, öffentlich zu widersprechen. Nachdem Elphaba sich im Finale schließlich offen gegen den Zauberer richtet, erklärt Morrible sie in letzter Konsequenz zur Staatsfeindin und „bösen Hexe“, um das Image des Zauberers zu wahren und Elphaba unglaubwürdig wirken zu lassen.
So hinterfragt der Film Elphabas Image als böse Hexe, während er gleichzeitig dessen Entstehung erklärt. Denn Gut und Böse sind in Wicked nicht nur moralische Kategorien, die sich als komplexer als gedacht herausstellen, sondern vor allem ein Mittel der politischen Kommunikation und gesellschaftlichen Manipulation, bei dem der Zauberer den Wunsch nach Anerkennung und Harmonie ausnutzt, um Gehorsam zu erwirken.
Anderssein als Stärke?
Dass neben den Tieren selbst zunächst einzig Elphaba die Gut/Böse-Definitionen des Zauberers hinterfragt und sich offen auf die Seite der Tiere stellt, liegt unter anderem daran, dass sie selbst Ausgrenzung und falsche Anschuldigungen erfährt, in denen sich beispielsweise eine Rassismus-Metapher erkennen lässt. Ihr Vater, entsetzt über ihre grüne Haut, überließ ihre Erziehung dem Kindermädchen und bevorzugte stets ihre jüngere Schwester. In einem Flashback hänseln die anderen Kinder in Munchkinland sie wegen ihres Aussehens und als Elphaba sich unabsichtlich mithilfe ihrer magischen Kräfte wehrt, wirft ihr Vater ihr nur vor, ihre Schwester zum Weinen gebracht zu haben. Auch in Shiz reicht die allgemeine Reaktion auf ihre Hautfarbe von Entsetzen bis Ekel und als Elphabas Kräfte bei einem Versuch, Nessarose zu helfen, außer Kontrolle geraten, ist ihre Schwester enttäuscht, ihre Chance auf einen Neuanfang ohne das Stigma des Andersseins verpasst zu haben. Auch, wenn Elphaba einfach nur sie selbst ist, betrachten die meisten anderen Personen sie nicht unvoreingenommen, sondern nehmen sofort das Schlimmste von ihr an. Zu Beginn des Films ist ihr größter Wunsch daher auch, an der Seite des Zauberers endlich Anerkennung zu erfahren und von ihm das Angebot zu bekommen, er könne sie „entgrünen“.
Angesichts Elphabas Hintergrunds überrascht es nicht, dass sie im Geschichtsunterricht mit dem Ziegenbock Professor Dillamond mitfühlt, als Glinda sich über seine anatomisch bedingte falsche Aussprache ihres Namens beschwert und eine unbekannte Person tierfeindliche Parolen an die Tafel schmiert. Für Elphaba ist klar: „Vielleicht sind manche von uns einfach anders“ und dass Dillamond und viele andere Tiere in Oz derlei Diskriminierung erfahren, geht ihr sichtlich nahe und inspiriert ihren politischem Aktivismus. Ihr Gerechtigkeitssinn ist auch der Katalysator für ihre starken magischen Kräfte, denn zunächst bringt primär Frust über ungerechte Behandlung – sowohl ihrer selbst als auch anderer Personen – ihre Magie zum Vorschein. Dies entgeht auch Madame Morrible nicht, die sowohl Elphabas moralischen Kompass als auch ihren Schmerz über ihre Ausgrenzung ausnutzt, um sie für die Zwecke des Zauberers zu manipulieren.
Als Elphaba die Wahrheit über dessen Machenschaften erfährt, steht sie vor ihrem größten Konflikt: Soll sie ihrem Gerechtigkeitssinn folgen, auch, wenn die ozianische Gesellschaft sie dann als „böse“ wahrnehmen wird, oder ihre Prinzipien verraten, um an der Seite des Zauberers endlich dazuzugehören, wie sie es sich immer gewünscht hat? Dennoch fällt es ihr leichter als Glinda, sich gegen den Zauberer und für die Rebellion zu entscheiden. Glinda, die anscheinend schon immer beliebt war und vom politischen System des Zauberers wenn überhaupt nur profitiert hat, kann die Wahrheit über dessen Machenschaften nur schwer mit ihrer Weltsicht vereinbaren. Sie versucht zunächst, Elphaba zu beschwichtigen, und entscheidet sich letztlich dazu, nicht mit ihr gemeinsam zu fliehen. Elphaba, so scheint es, fällt der Bruch mit dem Zauberer und der ozianischen Gesellschaft leichter, da ihr marginalisierter Status sie für Ungerechtigkeiten sensibilisiert, ihr Kräfte verleiht und sie ohnehin kaum Privilegien genießt, die sie durch ihre Rebellion verlieren könnte.
Doch diese Lesart ist nicht zwangsläufig empowernd, denn berühmte Antagonist*innen in einem Prequel wohlwollend zu interpretieren führt zu einem entscheidenden Dilemma: Die Original-Geschichten, die ihnen chronologisch folgen, bringen meist ein düsteres Ende für die neugewonnenen Held*innen mit sich. Wicked baut Elphaba zwar als missverstandene Aktivistin auf, lässt das Publikum jedoch im selben Zuge wissen, dass sie am Ende ihrer Geschichte sterben wird, wie es auch in Der Zauberer von Oz geschieht. Zumindest im Musical täuscht sie ihren Tod zwar nur vor und taucht stattdessen unter, doch sie „stirbt“ als böse Hexe, während Glinda den Zauberer vertreibt, von dessen wahren Machenschaften die ozianische Bevölkerung nicht erfährt. Anderssein, Eintreten für die Gerechtigkeit und eine offene Rebellion sind in Wicked daher zwar verknüpft und moralisch gut konnotiert, doch Elphaba selbst bleibt Opfer einer Gesellschaft, die ihr nie eine Chance gegeben hat. Wohlwollend lässt sich dieser Umstand als bewusst zynischer Kommentar zu politischer Veränderung interpretieren, aus deren Geschichte marginalisierte Vorreiter*innen häufig rausgeschrieben werden. Kritischer gesehen ist das Konzept neuinterpretierter Antagonistinnen — der Wunsch, Böses zu vermenschlichen, rationalisieren und „girlbossifyen“ — in sich nicht ausgereift.
Frauen im Fokus
Bereits im Marketing — dem pink-grünen Farbschema, den Filmpostern mit Glinda und Elphaba, den vielen gemeinsamen Interviews von Cynthia Erivo und Ariana Grande-Butera — macht Wicked eines klar: Die Beziehung der beiden Frauen ist für den Film von entscheidender Bedeutung. Es ist Glinda, die in der Anfangsszene beginnt, Elphabas Geschichte zu erzählen, und keine andere Figur hat so viel Screentime mit Elphaba wie sie. Obwohl sie sich zunächst nicht leiden können, kommen sich die beiden näher, nachdem Elphaba Glinda auf Nessaroses Bitte hin einen Gefallen tut. Von da an scheinen sie plötzlich unzertrennlich: Glinda verspricht Elphaba, sie beliebt zu machen, sie vertrauen einander Geheimnisse an und als der Zauberer Elphaba in die Smaragdstadt einlädt, nimmt sie Glinda kurzerhand mit. Auffällig ist dabei der Fokus auch auf physische Nähe zwischen den beiden Frauen, die sich z.B. häufig umarmen, an den Händen halten, und in einer gelöschten Szene sogar auf der Zugfahrt in die Stadt auf dem Schoß der jeweils anderen oder an sie angelehnt schlafen. In einer besonders zärtlichen Szene im Ozdust Ballroom wischt Glinda Elphaba in einer Nahaufnahme die Tränen von der Wange und später verlassen die beiden händchenhaltend den Club, während Glindas Date Fiyero (Jonathan Bailey) zurückbleibt.
Was eine erfrischend intime Darstellung weiblicher Freundschaft sein könnte, ist in Fankreisen auch ein beliebtes „Ship“. Buch-Autor Gegory Maguire bestätigte, dass er die Beziehung zwischen Elphaba und Glinda bewusst mehrdeutig beschrieben hat und die beiden auch romantische und sexuelle Gefühle füreinander gehabt haben könnten. Im Musical folgt „Gelphies“ Beziehung in dieser Lesart dem aus Liebesromanen bekannten enemies-to-lovers-Muster, auf das auch der Song What Is This Feeling anspielt. Einige der im Lied erwähnten Klischees passen zur Abscheu, um die es offiziell geht, dürften dem Publikum jedoch auch aus Beschreibungen romantischer Gefühle bekannt sein, z.B. eine starke, instinktive Emotion „auf den ersten Blick“, erhöhter Puls, Erröten und Feuer/Brennen als Metapher für starke Gefühle. Bezeichnend ist auch, dass der Zauberer, als er Elphaba eine Zukunft im Palast in Aussicht stellt, anbietet, auch Glinda könnte dort zusammen mit ihnen wohnen. Ob platonisch oder romantisch, der Fokus auf eine innige Beziehung zwischen Frauen ist in jedem Fall erfrischend im Musical-Genre, in dem häufig wichtige Frauenfiguren kaum miteinander agieren und/oder eine heteronormative Liebesgeschichte im Vordergrund steht.
Ein Wermutstropfen in „Gelphies“ Beziehung könnte Fiyero sein, den Glinda offiziell datet und für den Elphaba insgeheim Gefühle entwickelt. Treibt ausgerechnet eine männlicher love interest auf so klischeehafte Art einen Keil zwischen die beiden Frauen? Zumindest in diesem ersten Teil scheint Wicked diesen Weg jedoch nicht gehen zu wollen. Im Vergleich zu Glinda bleibt Fiyero als Figur generell eher unterentwickelt und ihre Beziehung entsteht schnell und oberflächlich, als fühlten die beiden sich primär aufgrund ihrer Beliebtheit und Attraktivität zueinander hingezogen. Auch Elphabas sichtlich schlechtes Gewissen ob ihrer aufsteigenden romantischen Gefühle zeigt sich nur kurz, denn mit der gemeinsamen Reise nach Oz rückt ihre Freundschaft mit Glinda wieder in den Fokus und Fiyero scheint vergessen, so wie auch die meisten anderen zwischenmenschlichen Beziehungen in Wicked (z. B. Elphabas Beziehung zu Nessarose) kaum Aufmerksamkeit erhalten.
Als zentraler Konflikt in „Gelphies“ Beziehung stellt sich stattdessen Politik heraus: Glinda hat wenig Verständnis für die klare politische Haltung ihrer Freundin, während Elphaba ihr Unterwürfigkeit und Systemtreue vorwirft. Zwar vertragen die beiden sich wieder und auch nach Elphabas „Tod“ zu Beginn des Films denkt Glinda sichtlich wohlgesonnen an sie zurück, doch Elphabas Rebellion und Glindas Entscheidung, nicht mit ihr zu fliehen, bedeuten dennoch das Ende der offenen Freundschaft zwischen den Frauen. Wicked: For Good, der am 21. November 2025 in die Kinos kommen und den zweiten Akt des Musicals erzählen soll, wird diesen Konflikt vermutlich weiterentwickeln und weiterhin zwei Frauen in den Fokus und somit auch in das Zentrum seiner politischen Thematik stellen.
Wicked läuft seit dem 12. Dezember im Kino. Ab dem 13. Februar wird der Film digital, ab dem 27. als DVD und Blu-ray erhältlich sein.
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