Minjan

New York 1986: der 17- jährige David (Samuel H. Levine), Nachkomme russischer Immigrant:innen, lebt mit seiner Familie in Brighton Beach, wo er auch die jüdische Schule besucht. Seine adoleszenten Erfahrungen bewegen sich zwischen den jüdischen Traditionen seiner Familie und der Entdeckung einer schwulen Subkultur. Minjan erzählt von drei Generationen, deren Erinnerungen an ihre Vergangenheit in Europa und die Suche nach Antworten im Hier und Jetzt. Hauptsuchender ist der stille David, der seine Homosexualität so versteckt entdeckt und lebt wie er russischen Wodka aus der Küche der Eltern entwendet.

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Davids  Großvater Josef (Ron Rifkin), ein Kriegsveteran und Holocaust-Überlebender, verbringt viel Zeit mit ihm. Sie spazieren gemeinsam zur Synagoge und David begleitet Josef zum Bewerbungsgespräch im subventionierten Wohnheim für ältere Personen. Als  dieser unter der Bedingung des rabbinischen Leiters, dass David mit ihm regelmäßig am Minjan – einem mindestens zehnköpfigen Gottesdienst – teilnimmt, einen Platz bekommt, lernt David dort auch Josefs Nachbarn kennen: Zwei Witwer, von denen es heißt, sie wären bereits zu Lebzeiten ihrer Frauen befreundet gewesen. David ahnt mehr als ein platonisches Verhältnis zwischen den beiden: Das zeigen seine neugierigen Blicke, die auf Details in der Wohnung der zwei Männer fallen. Die Lebensläufe der Bewohner verbergen mehr als auf den ersten Blick sichtbar ist. 

Tatsächliche Verhältnisse zwischen Personen hinter der Fassade – wie die Liebesbeziehung von Josefs Nachbarn -, sowie Davids Gedanken und Sehnsüchte teilt Minjan seinen Zuschauer:innen solange als Andeutungen mit, bis diese sich zur Eindeutigkeit häufen. Davids Großvater und seine jüdischen Altersgenoss:innen sprechen in Bildnissen, Gleichungen und Zitaten. Sie haben darüber eine gemeinsame Sprache gefunden, durch die sie sich auch implizit über Unaussprechbares austauschen. Als David kurz vor einem seinem Coming-Out steht, ergreift sein Großvater vor ihm das Wort, spricht von der jüdischen Gemeinschaft und der Tora. Ihr anschließendes Lächeln erzählt von gemeinsamer  Verständigung auf einer Ebene, die über direkte Worte hinauszugehen scheint. 

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Regisseur Eric Steel entzieht solche Szenen häufig klarer Deutungsmöglichkeiten: Erkennt der Großvater tatsächlich, was in seinem Enkel vorgeht? Gerade in seiner Dezenz, seiner fehlenden Einspurigkeit, liegt ein großer Teil von Minjans filmischer Stärke. In vielen Szenen hört David der älteren Generation einfach zu, deren Erlebnisse von Vertreibung und der Shoah für sich sprechen. Die Verschwiegenheit des Helden lässt die visuelle Ebene umso relevanter für das Zuschauer:innen-Verständnis seiner inneren Reise werden. Die Entdeckung seiner Sexualität erzählt Steel so auf subtile Weise.

Nahe Einstellungen von Blicken, Close-Ups von Berührungen oder männlichen Körperteilen zeigen Momente schwulen Begehrens in der Schule, im Aufzug des Altersheims oder in der Wohnung des Liebhabers. Der Film zeugt von einer feinen Bildsprache, die plumpe Zuschreibungen vermeidet. So erzählt Minjan auch Davids Konflikte mit seinen Klassenkameraden nicht aus – ein Blick hier, ein Blick da, zwei Fausthiebe – mehr brauchen wir nicht zu wissen, um zu verstehen, dass sich der Protagonist mit seinen Peers nicht auf einer Wellenlänge befindet. Sein Vater, der mit toxischer Maskulinität agiert, stellt für David wenig Orientierung dar und erscheint nur als Randfigur.

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Das von der Mutter (Brooke Bloom) gutgeheißene Verhältnis mit einer Schulfreundin ist ein ebenso typisches queer Coming-of-Age-Erzählelement (ohne dabei in Minjan, wie sonst oft üblich, zu viel Raum einzunehmen) wie der Literaturunterricht in der Schule und über-alkoholisierte Nächte in der Bar. Dort lernt David auch seinen Liebhaber kennen, der während der Arbeit hinter dem Tresen James Baldwins Giovannis Zimmer liest – eine queer codierte Requisite, die David später dazu bringt, den ersten Schritt einer Annäherung zu wagen.

In der Küche des Liebhabers stehen Namen seiner an Aids erkrankten Freunde an der Wand, manche mit einem kleinen Kruzifix versehen und manche (noch) ohne. Dass die Aids-Krise in den 1980er Jahren sich in seinem Freundeskreis verheerend auswirkte, erzählt Regisseur Eric Steel in einem Interview. Wie er dabei selbst überleben konnte, sei genauso wenig rational erklärbar, wie manch einer es schaffte, dem Holocaust zu entkommen, so Steel. Für das Drehbuch verband der Regisseur eine in Toronto angesiedelte Kurzgeschichte von David Bezmozgis mit eigenen Erfahrungen als junger Homosexueller in Brighton Beach. In diesem Stadtteil New Yorks lebten in den 1980er Jahren viele emigrierte Jüdinnen und Juden sowie Emigrant:innen aus der Sowjetunion, was ihm auch den Beinamen „Little Odessa“ einbrachte. 

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In Minjan bewegt sich David zwischen Läden mit russischen Aufschriften, hebräischen Lektüren, jiddischen Gesprächen im Altersheim und englischen Dialogen in der Schule oder mit den Eltern. Die häufig eingesetzte Handkamera von Ole Bratt Birkeland schwebt hin und her, wie auf der Suche, um seinen Protagonisten herum. Sein Inneres können die Bilder aber nicht einfangen, das Publikum muss es sich selbst erschließen. Auch die an jüdischer Klezmermusik orientierten Klarinettenmelodien (David Krakauer), die Close-Up Passagen von Davids in die Welt blickendem Gesicht begleiten, lassen das Erbe jüdischer Traditionen mehr mitschwingen, als dass sie Einblicke in seine Gefühlslage oder Gedankengänge bringen. Als junges Individuum schwimmt der 17-Jährige in dem Meer an Erzählungen und Traditionen aus der Vergangenheit, das die Gemeinschaft für ihn bereithält. Seine Großväter-Generation, die tabuisierte Lebenssituationen – wozu auch Homosexualität gehört – höchstens indirekt zu thematisieren weiß, wird zu Davids Vertrauenskreis. Dezent, feinfühlig, vielschichtig: Das Spielfilmdebüt von Steel überzeugt als narrativ und thematisch reichhaltige Coming-of-Age Erzählung.

Minjan ist diesen Februar im Rahmen der Queerfilmnacht einen Monat online zu sehen.

Bianca Jasmina Rauch
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