Interview mit Eline Gehring und Sara Fazilat: Nico
Auf dem Reeperbahnfestival 2021 feierte der Spielfilm Nico seine Hamburg-Premiere. Filmlöwin Bianca Jasmina Rauch traf Regisseurin Eline Gehring mit Produzentin und Schauspielerin Sara Fazilat, die ihr Projekt gemeinsam konzipiert und unter herausfordernden Bedingungen durchgeführt haben. Nico handelt von der gleichnamigen Berliner Pflegerin (Sara Fazilat), die eines Tages zum Opfer eines rassistisch motivierten Angriffes wird. Vor den Zeise Kinos sprachen die drei über die Arbeit am Film, über eine Besetzung, die mit stereotypen Sehgewohnheiten bricht, über unwichtige Anschlussfehler, über die Diversität der deutschen Filmbranche und darüber dass Nico noch weit mehr Themen aufgreift als Rassismus.
Bianca: Es ist so schön, hier live mit euch zusammensitzen zu können und den Film mal auf der großen Leinwand gesehen zu haben. Wie ging denn die Festivalreise von Nico nach dem Max-Ophüls-Preis weiter, der ja online stattgefunden hat?
Sara: Nach dem Max-Ophüls Festival stand das erste Screening in Shanghai an. Da konnten wir aber leider nicht dabei sein wegen Corona. Das erste Mal auf der Leinwand war Nico jetzt im September am Achtung Berlin Festival als Eröffnungsfilm zu sehen.
Bianca: Wie war das für euch?
Eline: Aufregend. Als das Saallicht gedämmt wurde und es ruhiger wurde, hatte ich das Gefühl, ich höre mein Herz pochen. Nach so langer Zeit mit so vielen Menschen in einem Kinosaal zu sitzen, hat mich ganz schön beeindruckt. Und dann das tolle Gefühl, wenn an den passenden Stellen laut gelacht wird. Oder die Stille nach dem Überfall. Das ging mir ganz schön unter die Haut. Am schönsten fand ich aber Brigittes (Anmerkung: die Darstellerin Brigitte Kramer) Gesicht, die sich selbst ja natürlich noch nie auf so einer großen Leinwand gesehen hat. Sie wusste ja gar nicht, was da auf sie zukommt. Als sie nach Filmschluss mit ihrem Stützwagen auf die Bühne kam – von diesem tobenden Applaus begleitet, da hatte ich kurz Tränen in den Augen. Dieser Moment rührt mich bis heute sehr!
Bianca: Wie schön! Gratulation übrigens zum NO FEAR Award von First Steps. In der Jurybegründung hab ich vom „äußerst langen und schwierigen Weg der Umsetzung“ gelesen?
Sara: Wir hatten nicht wirklich viel Budget für den Film und waren meistens nur im kleinen Team zu Dritt unterwegs – zum Teil auch bewusst, weil es unser Konzept war und uns ein Closed Set oft wichtig war. Dann die ganze Postproduktion während Corona, das kam noch oben drauf.
Eline: Monate im eigenen Wohnzimmer schneiden!
Sara: Eline musste dann nochmal zur Uni, um einen leistungsstarken Rechner zu besorgen, auf dem der Schnitt eines Langfilms möglich ist. Dadurch hat sich auch die Fertigstellung verschoben.
Bianca: Wahnsinn. Als Kernteam wart ihr zu dritt. Zu dritt habt ihr auch das Drehbuch erarbeitet?
Eline: Sara und ich haben schon ziemlich früh angefangen an Nico zu arbeiten. Nach dem zweiten Lehrjahr haben wir begonnen die ersten Schlüsselszenen zu drehen um auszuprobieren, ob das, was wir uns vorgenommen haben, mit dem Rahmen unserer Möglichkeiten umsetzbar ist. Schnell war klar: Wir brauchen ein Drehbuch. Auf diesem Weg haben wir dann unsere Kamerafrau Francy Fabritz kennengelernt. Francy hat auch viele Kurzfilme als Regisseurin gemacht. Wir haben schnell gemerkt, dass wir uns über die technische Umsetzung der Bilder hinaus viel zu sagen haben. Und dass es total Spaß macht, zu dritt zusammenzusitzen und diesen Film zu entwickeln.
Bianca: Kam denn auch inhaltlich vieles von den Darsteller:innen, z.B. Brigittes Armabdrücke vom Abstützen auf dem Fensterbrett?
Sara: Das ist gescriptet. Eline und ich haben unseren Zweitjahresfilm zusammen gemacht, für dessen Dreharbeiten uns Brigitte ihre Wohnung zur Verfügung gestellt hat. Während wir Brigitte näher kennenlernten, war schnell klar, dass sie zu charakterstark ist, als nur Motiv-Geberin zu bleiben. Also haben wir unsere Filmrolle „Brigitte“ auf sie zugeschrieben. Der Satz z.B.: „Das Leben ist zu kurz für so ein langes Gesicht“, könnte zwar durchaus aus Brigittes Mund stammen, ist aber von uns geschrieben. Genau wie das Gespräch über den Kurschatten usw.
Bianca: Beeindruckend! Auch die Chemie zwischen dir und Javeh Asefdjah fand ich großartig. War da auch viel Improvisation dabei?
Sara: Javeh ist eine tolle Schauspielerin und hat viel Input gegeben, war aber auch sehr gut vorbereitet auf die Rolle der Rosa, die wir vorher gebaut hatten. Wir hatten ein festes Drehbuch. Also thematisch und emotional war klar, wohin jede Szene gehen muss aber wir haben den Spieler:innen die Worte und wie was gesagt werden soll nicht in den Mund gelegt, es sollte authentisch sein.
Bianca: Und Nico ist dein Abschlussfilm, Eline?
Eline: Nein. Irgendwer hat sich bei Wikipedia einmal erlaubt zu schreiben, Nico sei mein Abschlussfilm, seitdem steht das überall.
Sara: Es ist mein Abschlussfilm. Eline und Francy schreiben noch an ihren Abschlussbüchern.Deswegen konnten wir beim First Steps auch nicht für Kamera und Regie einreichen – weil nur die Person, die abschließt, einreichen kann.
Bianca: Verstehe. Was ich mich noch gefragt habe, als ich den Film wieder gesehen habe: Habt ihr Rückmeldungen bekommen, ob viele Leute Ronny am Rummel als diejenige, die anfangs Nico im Stich lässt, wiedererkannt haben?
Eline: Tatsächlich kam dazu bis jetzt keine Rückmeldung.
Sara: Was bedeuten könnte, dass die Zuschauenden sie wiedererkannt haben oder dass es im Laufe des Films dann keine Rolle mehr spielt.
Eline: Natürlich hatte es eine dramaturgischen Grund, dass wir sie am Anfang zeigen. Aber im Laufe der Handlung verliert diese große Frage – wer ist sie – an Gewicht. Das lerne ich aber auch jetzt erst. Während des Drehbuchprozesses war ich der Überzeugung, es ist wahnsinnig wichtig, diese dramaturgische Entwicklung zu haben – dass die Zuschauenden sich fragen: Ist es die gewesen oder nicht? Aber offenbar – und da haben wir wohl alles richtig gemacht – fiebern die Zuschauenden so mit Nico mit, dass es dann auf dem Weg völlig egal wird und man einfach dem zuschaut, was sich zwischen den beiden entwickelt. Daraus hab ich viel gelernt.
Sara: Wenn man selbst einen Film dreht, ist dieser Lerneffekt noch einmal ein ganz anderer. Dazu fällt mir ein, dass wir mal ein Regieseminar bei einer amerikanischen Dozentin gemacht haben, die uns einen Ausschnitt aus Goodfellas zeigte. Wir sollten darauf achten, ob uns irgendwas Bestimmtes auffällt. Niemand von bestimmt 12-14 Leuten im Raum hat während der ersten Sichtung gemerkt, dass die Szene voll mit Anschlussfehlern ist. Da saßen zwischen einzelnen Bildern zum Teil weniger Menschen am Tisch oder trugen andere Kostüme. Auf dem Tisch standen mal unzählige Gläser und Flaschen und mal nur ein kleiner Aschenbecher. All das ist uns nicht aufgefallen, bis uns die Dozentin darauf aufmerksam gemacht hat. Das hat uns gelehrt: Sobald die Dynamik zwischen den Spielenden passt und das Schauspiel trägt, wird alles andere zweitrangig. Wir haben uns während des Filmdrehs einige Male an diesen Aha-Moment erinnert und konnten uns dadurch häufig stärker auf das Wesentliche konzentrieren. Damals waren wir alle so „Ja, das ist ja auch Goodfellas“, aber dann selbst im Arbeitsprozess zu merken, dass es stimmt, ist etwas anderes.
Bianca: Ja und es geht ja auch nicht darum, dass Nico sich rächt. Sie sucht nicht nach der Täterin, es ist kein Revenge Film – Racism Revenge. Das finde ich schön an eurem Film aber halt auch nüchtern realistisch, dass auch die Schläger:innentruppe nicht bekehrt oder gerächt wird, sondern dass Nico darauf setzt, Selbstverteidigung zu erlernen.
Sara: Das ist auch ein Feedback, dass ich öfter gehört habe: Viele Leute meinten, gut dass Nico sie am Ende nicht mit einem Karatekick umnietet.
Bianca: Oh ja! Könnt ihr mir noch etwas über die Auswahl des Namens Nico erzählen?
Sara: Wir wollten einen Namen, der bewusst genderneutral ist und keine vermeintliche Herkunft in sich birgt. Alle Namen im Film basieren auf dieser Idee: Rosa, Ronny, die Schlägerin Toni.
Bianca: Das fügt sich total gut zum gesamten Film. Geschlecht, Herkunft – das ist alles kein Thema für die Figuren selbst aber wird doch implizit thematisiert.
Sara: Ja, uns war es sehr wichtig mit Stereotypen zu brechen und alle möglichen Figuren selbstverständlich als Teil unserer Gesellschaft zu zeigen. Wir haben uns sehr viele Gedanken gemacht – nicht nur um die Namen, auch um bestimmte Bilder und Sprachen, die wir erzählen.
Bianca: Wie wird denn eurem Empfinden nach in den letzten Jahren in der deutschen Filmszene mit Diskriminierungs- und Genderthematiken umgegangen?
Sara: Spannend ist, dass bei Nico Rassismus zwar ein Thema ist, wir aber eigentlich viel mehr Themen behandeln, ohne dabei den Zeigefinger erheben zu wollen. Wir haben bestimmte Bilder erschaffen, gegen Stereotypen gearbeitet, auch was die Besetzung angeht. Zum Beispiel wenn eine PoC-Person und eine Person mit Kopftuch im Bild vorne stehen und im Hintergrund ein weißer Mann den Boden wischt. Das ist in Filmen für gewöhnlich anders herum. Wir zeigen die unterschiedlichsten Frauenfiguren, oft sind Frauen in Filmen nur Beiwerk oder werden ab einem bestimmten Alter unsichtbar gemacht und/oder ihre Sexualität wird ihnen abgeschrieben. Viele Eigenschaften werden Frauen nicht zugetraut oder sie werden auf ihre äußeren Attribute reduziert. Wir wollten unsere Realität zeigen und die lässt sich nicht so leicht reduzieren. Dass das vom Publikum nicht sofort aufgegriffen wird, die Rassismus-Thematik hingegen schon, zeigt wie bestimmte Bilder einfach angenommen wurden und nicht hinterfragt werden.
Nur zwanzig Prozent der Regiepersonen für den Tatort sind Frauen. Wir sind ein komplettes Frauenteam. Natürlich geht’s hier nicht um Männerhass sondern um Gleichberechtigung. Und da sind wir leider lange noch nicht. Es ist schön, dass Diversität jetzt häufiger thematisiert wird aber man muss sich auch bewusst machen, wie die Lebensrealität von Menschen aussieht. Es geht nicht darum, Diversität aus einer Wirtschaftlichkeit hinaus anzustreben. Es geht v.a. darum sich zu fragen: Wer steht hinter der Kamera, wer schreibt die Bücher? Wer führt Regie? Zum Glück passiert da jetzt immer mehr aber es ist noch ein weiter Weg. Das zeigt sich auch durch unser Abspann-Lied „Sage Nein“ von Konstantin Wecker. Das ist vor dreißig Jahren geschrieben worden und die Themen sind noch immer aktuell. Das wird sich so leicht nicht ändern. Hoffentlich können wir ein Stück dazu beitragen.
Bianca: Da wäre z.B. auch die gegen das Klischee besetzte Drogenlieferantin im Park.
Sara: Ja. Es ist gut, wenn unterbewusst wahrgenommen wird, dass wir in dem Moment andere Bilder zeigen aber dass das letztendlich in den Reaktionen auf den Film gar nicht so präsent ist, zeigt wie die Landschaft insgesamt aussieht. Eine Reaktion, die oft kam war, dass viele erst dachten, dass die Rolle Rosa, der anderen Frau etwas verkauft. Das zeigt wie sehr uns Bilder beeinflussen und sich in den Köpfen festgesetzt haben.
Bianca: Definitiv. Habt ihr denn selbst Film- oder Serienempfehlungen, in denen ihr eine tolle Umsetzung dessen seht?
Sara: Z.B. Ivie wie Ivie von Sarah Blaßkewitz. Das ist ein ganz toller Film, der auch anders mit der Thematik umgeht. Auch Futur Drei vom Jünglinge-Kollektiv. Das sind die Filme, die aktuell auf unserem deutschen Markt zu sehen sind.
Eline: Ich finde alles von Céline Sciamma ganz toll. Bandes de filles ist so ein Film – da schwärme ich für jedes Bild. Sciamma ist schon ein Vorbild. Sonst, gestehe ich auch gerne, dass ich Serienfan bin, z.B. The Handmaid’s Tale ist ganz große Liga für mich.
Bianca: Da bin ich ganz bei euch! Habt ihr selbst auch Serienprojekte in Planung oder was steht generell als nächstes an?
Eline: Also ich schreibe gerade meine Abschlussfilm. Ich würde total gern mal eine Serie inszenieren aber am deutschen Serienmarkt fehlt noch etwas der Mut, mit bestimmten Themen progressiv umzugehen. Das liegt auch daran, dass achtzig Prozent der umgesetzten Serien und Filme einen Sender, also eine Redaktion im Boot haben müssen, die wiederum auf ihre Zielgruppen achten usw. Das führt dazu, dass bestimmte Themen, die aktuell sind und unter die Haut gehen, mit großer Vorsicht behandelt werden. Das ist ein großer Unterschied zum internationalen Markt und das merkt man den Ergebnissen sehr stark an. Nicht nur, weil mehr Geld pro Projekt in die Hand genommen wird, sondern weil die Filmemacher:innen ein größeres Vertrauen und damit einhergehend wesentlich mehr Freiheit genießen.
Sara: Ich schreibe gerade an einer Serie und an einem Spielfilm.
Bianca: Sara, ich habe gesehen, du hast die dffb-Produktion Jiyan von Süheyla Schwenk mitproduziert. Ist der Film irgendwo zu sehen, der hätte mich sehr interessiert?
Sara: Das war einer meiner Vordiplomfilme. Jiyan heißt Leben und handelt von einem Paar, die seit kurzem in Berlin sind und ihrem ungeborenen Kind eine sichere Zukunft bieten wollen. Es ist die Geschichte von hoffnungsvoller Heimatsuche und der Frage, was Menschlichkeit bedeutet. Der Film lief auch auf vielen Festivals.
Eline: Und hat einige Preise gewonnen!
Sara: Ja, aber leider haben wir noch immer keinen Verleih, weil der Film auf Türkisch und Kurdisch erzählt wird. Für viele Verleiher ist es ein Hindernis. Corona hat’s natürlich auch erschwert.
Bianca: Ach, das ist ja schade, dass die Sprache da ein Hindernis sein muss.
Sara: Ja, das ist am deutschen Markt genau geregelt. Für Nico habe ich jetzt auch ein deutsches Ursprungszeugnis beantragt. Da musst du angeben, wie viel Prozent Deutsch gesprochen wird, wie viele aus dem Team aus Deutschland sind usw.
Bianca: Ich hoffe, dass der Film doch noch seinen Weg findet. Vielen Dank für das tolle Gespräch und dass ihr euch Zeit genommen habt. Ich freue mich schon auf eure nächsten Projekte!
Nico startet 2022 in den deutschen Kinos.
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