FFMOP 2021: Nico

Nico beginnt als beschwingte Berliner Indiekomödie: Milde Farbtöne, gut besuchte Spätis, schönes Wetter im belebten Neukölln und eine bestens gelaunte Protagonistin (Sara Fazilat), die auf dem Fahrrad durch die Straßen fährt. Von der Autofahrerin hinter sich wird sie beschimpft, aber das ist kein Grund sich unterkriegen zu lassen, Nico gibt ihr ohne zu zögern und mit keckem Gesichtsausdruck eine schmierige Retourkutsche. Kurz darauf, in ihrer Rolle als Altenpflegerin, scherzt sie bereits wieder fröhlich mit Brigitte (Brigitte Kramer) über amouröse Kurschatten und überschäumende Punkfrisuren.  Am selben Tag Jedoch trifft es Nico mit voller Wucht: Eine rassistische Schläger:innengruppe treibt sie auf der Straße in die Enge und prügelt sie bewusstlos, bis alles verschwimmt, nicht nur die Unbeschwertheit dieses Sommertages.

© Francy Fabritz ___STEADY_PAYWALL___

Für ihr Langfilmdebüt arbeitete dffb-Regiestudierende Eline Gehring auf Basis einer grob festgelegten Handlung gemeinsam mit den Darsteller:innen und der Crew auch mit improvisatorischen Elementen. Authentisch wirkende Dialoge und Szenenteile machen den Film dadurch lebendig, ohne zwingenderweise eine Funktion in der Geschichte zu erfüllen. Der Rave im Park, die Diskussion über Kopftücher zwischen Nico und ihrer besten Freundin Rosa (Javeh Asefdjah) oder der Besuch eines Spiegelkabinetts vermitteln ungekünstelte Stimmungen und kreieren eine unspektakuläre und zugleich oft witzige Alltäglichkeit, die Nicos Umfeld greifbarer werden lassen. Unbeschwertheit und tiefer sitzende Probleme alltäglicher Diskriminierungsformen treffen immer wieder aufeinander. Die (Hand-)Kamera von Francy Fabritz agiert flexibel und verliert Nicos emotionale Perspektive zugleich nicht aus dem Fokus.

Nico erzählt von den Spuren, die sich durch den rassistisch-gewalttätigen Angriff in der Psyche seiner Protagonistin festsetzen und, die sich nicht so einfach verdrängen lassen. Im Gegenteil: Nico erlebt Flashbacks, sie wird nachdenklicher, ihre Stimmung gedrückt. Die Schwellungen um die blauen Augen mögen nach und nach abheilen aber die Wut sitzt tief. Im Karateunterricht möchte Nico ihre physische Kraft trainieren, ihre Schreie hallen durch den Turnsaal:  “Nie wieder tut mir jemand weh”. Ihr Lehrmeister (Andreas Marquardt) stützt sich nach Außen hin auf harte Worte und militärischen Gehorsam. Für Nico scheint es naheliegender, sich selbst verteidigen zu lernen als auf strukturelle gesellschaftliche Veränderungen hoffen. Ihre Freundin Rosa nimmt die Rolle der unterhaltsamen Ablenkerin ein, auf Deutsch und Persisch spricht sie über Alltägliches, sichtlich bemüht, Nico auf andere Gedanken zu bringen, bis ihr selbst irgendwann der Kragen platzt, weil Nico nur noch abblockt.

© Francy Fabritz

Regisseurin Eline Gehring gelingt es mit ihrem Team – für die Drehbuchcredits sind auch Hauptdarstellerin Sara Fazilat und Kameraverantwortliche Francy Fabritz gelistet – ein Figurenensemble zusammenzustellen, das Charaktere unterschiedlicher Herkunftsgeschichten, Altersklassen, Körperlichkeiten, Geschlechter und sexueller Identitäten vereint, darunter auch Laiendarsteller:innen. Wenn Nicos Freundin Rosa ihre Drogen bei einer blonden Frau über vierzig in schlichter ordentlicher Kleidung kauft, die ein Tatort klassischerweise als Apothekerin oder als Rechtsanwältin besetzen würde, freut eins sich über das Aufbrechen der vertrauten stereotypen Rollen- und Besetzungsschemata. 

Der zweite Teil der Erzählung bringt noch eine dritte Figur ins Spiel. An einer Schießbude lernen Nico und Rosa die junge Mazedonierin Ronny (Sara Klimoska) kennen, die sofort ein Auge auf die Protagonistin wirft. Mehrmals versucht Ronny ihr etwas zu gestehen, worüber wir als Publikum zum Rätseln angehalten sind: Möchte sie ihre Zuneigung mitteilen oder ein anderes Geheimnis lüften? Hier spielt der Film mit Erwartungshaltungen und baut Spannung auf. Der daraus entstehende Konflikt zwischen Nico und Ronny, wirft zwar ambivalente moralische Fragen auf, löst sich allerdings auch wieder auf. Ein bisschen mehr Zeit hätte den Figuren und ihrer Entwicklung zum Ende hin gut getan. Oder steckt hinter diesem Gedanken eigentlich mein Verlangen, Nico und den anderen vielseitigen und lebendigen Charakteren noch viel länger zusehen zu können? Denn  mehr Filmzeit für Protagonistinnen wie Nico, Rosa oder Brigitte ist generell sehr wünschenswert und notwendig.

© Francy Fabritz

Sara Fazilats Spiel macht Nicos Wut und innere Kraft mit ihrer gleichzeitigen Verletzlichkeit spürbar, eine Dreidimensionalität wie wir sie in Filmen noch viel zu selten zu sehen bekommen. Während Nico im Kampfsport ihr Ventil findet, um das Erlebte zu verarbeiten und einen starken Selbstschutz aufzubauen, schreitet Rosa in den alltäglichen Situationen ein. Etwa wenn der Chef der Schießbude sich in Mansplaininig-Manier viel zu nahe an Nico drängt, um ihr das Schießgewehr zu erklären. Sobald sie eine für viele Frauen als normal erlebte und beinahe unsichtbare Grenzüberschreitung bemerkt, erhebt sie die Stimme. Javeh Asefdjah schafft in ihrer Rolle als Rosa eine beeindruckende Mischung aus Ernsthaftigkeit und Humorismus, der Text aus Konstantin Weckers im Abspann erklingenden Song “Sage Nein!“  passt dazu: “Steh auf und misch dich ein”.

 Nico ist noch bis zum 24. Januar im Rahmen des Max-Ophüls-Preis Festivals zu sehen.

Bianca Jasmina Rauch
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