FFMOP 2021: Stollen

Im sächsischen Pöhla, einer 1000-Einwohner-Gemeinde im Erzgebirge steht die Zeit nicht still. Auch wenn gerade dieses geflügelte Wort sehr beliebt ist, wenn von traditionell geprägten Landstrichen, Orten und Gegenden die Rede ist. Die Zeit steht nicht still, denn das Leben in der Gemeinde ist von strukturellen Veränderungen geprägt, die den Einwohner:innen gar nicht genehm sind. Ihre geographische Identität, ihre  alltagsrahmenden Traditionen sind tief verwurzelt in der stolzen Zunft des Bergbaus. Diese – euphemistisch ausgedrückt – nicht unumstrittene Industrie liegt im Sterben und mit ihr gehen die Kumpel, die “Glück auf!”s und die Lieder, die so stark verbunden sind, mit den alten Bergbaustätten des Erzgebirges und des Ruhrgebiets. Es ist kein attraktives Thema, dem sich Laura Reichwald mit ihrem lakonischen Dokumentarfilm Stollen annimmt, keine aufregende Geschichte, nicht absurd oder witzig, und dennoch auf vielen Ebenen spannend, denn der Film eröffnet Raum für ein Sammelsurium an Reflektionen.

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Die Zerrissenheit der Einwohner:innen, die Reichwald in ihrem Film dokumentiert, lässt sich in der Diskrepanz zwischen Tradition und Fortschritt nicht vollständig fassen. Sie lässt sich spüren entlang der Grenzen zwischen dem Status des Erzgebirges als UNESCO-Welterbe und dem immer noch anhaltenden Abbau der natürlichen Ressourcen durch den technischen Nachfolger der Wismut AG. Entlang der Verflechtungen der fast schon aufdringlichen Christlichkeit mit der schamlosen Heimatliebe; und entlang der Konfliktpunkte zwischen der schmerzlichen Sehnsucht nach der alten Zeit und der Furcht vor dem Ausbruch eines Lungenkarzinoms, auch noch 25 Jahre nach dem letzten Stollengang. Stollen muss dabei gar nicht viel inszenieren, um diese Zerrissenheit an das Publikum zu transportieren. In seiner Behutsamkeit, dem Fehlen von direktem Kommentar und der zurückhaltenden Beobachtungsposition lässt der Film die Protagonist:innen ein authentisches Bild ihrer Lebensrealität präsentieren. Und er überlässt die Wertung des Gesagten und Gezeigten vollkommen den Zuschauer:innen.

©Janine Pätzold

Diese dürften es nicht leicht haben, sich durch die Geschichten und Gefühle mit der Pöhlaer Bevölkerung zu identifizieren, denn die Männer und Frauen, die der Film zu Wort kommen lässt sind nicht nur sprachlich, sondern auch von ihrer Mentalität her schwer zu fassen. Ihre Geschlechterrollen sind konservativ, ihr christlicher Glauben umspannend und ihre Heimatlieder, die eingeleitet werden mit den Worten “Heil ihr deutschen Brüder …”, übertreten die Schmerzgrenze der noch zu ertragenden Traditionalität. Sie lieben ihren Fußballverein “Erzgebirge Aue”, verklären die Vergangenheit und backen Christstollen, als würde ihr Leben davon abhängen. Und in einem gewissen Sinne hängt auch ihr Leben von diesem Stollen ab, denn dieser bleibt, auch wenn der Bergbaustollen und das Leben unter Tage an Bedeutung verlieren.

Und so steht das Publikum vor der Wahl: Blickt es kritisch auf diese antiquierte und lokalpatriotische Lebensweise oder erlaubt es sich Mitgefühl mit diesen Menschen und ihrem schmerzhaften Identitätsverlust? Oder geht sogar beides? Fordert Pöhla unsere Solidarökonomie heraus oder vergewissert es uns, dass die traditionellen Vorstellungen der Bergbaugegenden zurecht aussterben? Stollen ist ein Film der sich ambivalent zwischen diesen Fragen bewegt. Er weigert sich vehement selbst Stellung zu beziehen, sondern wälzt diese Verantwortung auf jene ab, die sich entscheiden müssen, ob sie in dem Film ein sensibles Porträt oder ein nüchternes Dokument erkennen. Das Potenzial für beides hat Laura Reichwald geschickt in ihren Film hinein gewoben. 

©Janine Pätzold

Es lässt sich auf jeden Fall nicht abstreiten, dass Stollen es vermag eine Traurigkeit zu hinterlassen, der sich die Zuschauer:innen nur schwer entziehen können. Und dass er uns mit emotionalen Problemen konfrontiert, die der Lebensrealität vieler fremd sein dürften. Der Bergbau in Pöhla ist noch längst nicht zum erliegen gekommen, Wolfram, ein Schwermetall, das hauptsächlich in der Werkzeugproduktion angewendet wird, ist das neue Element der Begierde, in das die Industrie im Erzgebirge und die Kumpel ihre Hoffnungen legen. Ein Befürworter des Wolfram-Abbaus sagt im Film “Man darf nicht nur über Traditionen reden, sondern muss auch zulassen, dass neue Traditionen entstehen”. Eventuell lässt sich diese Sicht mit einem kritischen Blick versöhnen, denn auch wenn Bergbau eine der schmutzigsten Industrien bleiben wird, eröffnet sein Wandel doch die Möglichkeit neue Identitätsangebote für diejenigen zu machen, die stark mit ihm sozialisiert sind – und dann vielleicht auch welche, die weniger einhergehen mit einem Leben, in dem es ein wünschenswertes Konzept ist, dass der Mann unter Tage fährt, während die Frau Heimarbeit macht und Christstollen backt.

©Janine Pätzold

 

Stollen ist noch bis zum 24. Januar im Rahmen des Max-Ophüls-Preis Festivals zu sehen

Sophie Brakemeier