NMT: Bestandsaufnahme – CINEMATOGRAPH:INNEN beim Tatort

Ich durchforste das Tatort-Archiv auf der Webseite der ARD. Die Beweise, die hier zu finden sind, können von jeder beliebigen Person eingesehen werden. Ich registriere: am 10.01.2021 sind 59 Tatorte verfügbar, bei Vieren sind die Informationen nur unzureichend aufgeführt, die Datensätze der restlichen 55 sind komplett.

Männliche Kommissare, weibliche Kommissare, gemischte Teams… Ich überlege nicht lange und wähle den Ludwigshafener Tatort aus. Das Ermittler:innenteam besteht aus zwei Frauen, alles Weitere übernimmt der Algorithmus, der mir die Folge „Vom Himmel hoch“ (Originaltitel: „Vom Himmel hoch”, Erstausstrahlungsdatum: 09.12.2018, Buch: Tom Bohn, Regie: Tom Bohn, Kamera: Jürgen Carle, Schnitt: Isabelle Allgeier, Musik: Jan Kazda, Produktion: SWR Südwestrundfunk, Redaktion: Ulrich Herrmann) anbietet – ich schlage zu!

© Carla Muresan (privat)___STEADY_PAYWALL___

Ok. Wonach suche ich noch… wonach suche ich…? Ich gehe alle 55 Tatorte noch einmal durch. Regisseure, Filmmusik, Kameraleute… Ok, erste Frau – längere Zeit nichts – noch eine Frau – wieder lange nichts… die dritte Frau und noch eine – sie hab ich doch eben schon gezählt… Um während der Suche nicht zu vergessen, wie viele Frauen ich schon habe, halte ich die Zahl mit den Fingern meiner Hand. Ich achte darauf, sie nicht zu bewegen, um das Ergebnis nicht durcheinanderzubringen. Seite um Seite rufe ich auf, die Arbeit ist mühselig. Am Ende angekommen, zählt meine linke Hand 5 Finger.

Wo sind bloß die Kamerafrauen?

Die Beweislage ist erdrückend. Die Beweislage ist so schwer, wie die alte Batterie eines Elektroautos, deren Nutzung ich im Haushalt als Briefbeschwerer fortsetzen kann: von insgesamt 55 Tatorten, die aktuell auf der Seite der ARD verfügbar sind, sind lediglich 4 von Menschen an der Kamera gedreht, die ich als Frauen identifizieren konnte. Eine der vertretenen Frauen hat zwei Folgen gedreht. Das bedeutet, dass 50 Folgen Tatort von Kameramännern gedreht wurden, während im Vergleich dazu nur 5 Folgen von Kamerafrauen.

Wie ist das möglich? Wie kann es sein, dass ich bei insgesamt 55 Folgen nur eine Hand voll Frauen zählen kann, welche die Kameraarbeit übernehmen durften? Gibt es insgesamt zu wenig Kamerafrauen? Oder liegt hier nicht vielmehr ein Fall von mangelhafter bis sogar ungenügender Kompetenz der Verantwortlichen in Sachen Gendergerechtigkeit und diverser Personalpolitik vor, wodurch blockiert wird, qualifizierte Kamerafrauen ausfindig zu machen und in den Tatort zu holen?

Empört mache ich mich auf die Suche nach Hinweisen und starte den Film. Die Kamera blickt über die Dächer von Ludwigshafen. Das Fadenkreuz in der Mitte des Bildes ist perfekt – genau das, was ich bei meinen Nachforschungen jetzt brauchen kann. Während ich langsam mit der Bewegung der Kamera in die Stadt hinab fliege, habe ich Zeit, meinen Gedanken nachzuhängen.

In Wirklichkeit gibt es eine Vielzahl von Kamerafrauen. Es gibt sogar eine Vielzahl ganz hervorragender Kamerafrauen, die nicht nur bestens ausgebildet sind, sondern dazu auch noch meisterlich im visuellen Erzählen, im Umgang mit Technik und Licht. Frauen, die super fokussiert, diszipliniert, bestens organisiert sind. Frauen die wissen, was sie wollen und gut kommunizieren können. Frauen, die kooperativ, sensibel und durchsetzungsfähig sind – denn als Frau in einer Männerdomäne kann mensch es sich schlichtweg nicht leisten, unfokussiert, undiszipliniert, leistungsschwach oder nicht durchsetzungsfähig zu sein. Auch körperliche Schwächen kannst Du Dir nicht wirklich erlauben, denn wenn Du vor den ganzen Typen vor Kälte oder Nässe zusammenbrichst, dann bist Du sofort raus aus dem Spiel und kannst einpacken.

Frauen gelten in der Filmbranche als großes Risiko

Wenn wir Frauen uns dafür entschieden haben, diesen Beruf auszuüben, dann haben wir das Terrain bestens sondiert und wissen sehr genau, worauf wir uns einlassen und was wir leisten müssen. Wir haben auch ein hervorragendes Gespür für das entwickelt, was wir – mit den Worten der französischen Schriftstellerin, Philosophin und Feministin Simone de Beauvoir – als das andere Geschlecht bezeichnen können. Wir wissen, dass wir von unserer Gesamtkonstitution her nicht zu denjenigen gehören, die als Norm das Maß der Dinge definieren – was nebenbei bemerkt ohnehin absurd ist, weil auch Männer völlig unterschiedlich voneinander konstituiert sind. Aber dennoch wissen wir um die grundlegenden Differenzen, die im gesellschaftlichen Konsens traditionellerweise zwischen uns und den Männern installiert werden und wir verstehen es auch, diese um ein Vielfaches zu kompensieren. Und dennoch (!) begegnen wir der gesamten Bandbreite an subtilen, negativen Zuschreibungen und werden als Risikofaktoren für den Erfolg eines Films wahrgenommen und dementsprechend marginalisiert. Die FFA-Studie “Gender und Film” von 2017 kommt zu dem Schluss, dass “durch stereotype Zuschreibungen von Fähigkeiten und Charaktereigenschaften Erfolg eher mit Männern als mit Frauen assoziiert wird und Frauen (in der Filmbranche) per se als größeres Risiko gelten” (“Gender und Film”, S. 37).

Während unsere beiden Kommissarinnen in Ludwigshafen auf den Spuren des Mordes an einem renommierten Psychiater wandeln, versuche ich zu ermitteln, wie ich eigentlich auf die fixe Idee gekommen bin, die gleichberechtigte Teilhabe von Kamerafrauen im Tatort zu fordern. Ja, wie komme ich eigentlich darauf?

Ich finde die Antwort schnell. Der Tatort wird aus unser aller Beiträge finanziert, so dass ich zwei Dinge erwarten kann: erstens, dass sich die Filme mit aktuellen gesellschaftlichen Themen und Diskursen auseinandersetzen und zweitens, dass Gleichberechtigung und Diversität bei der Vergabe der Positionen sowohl vor, als auch hinter der Kamera selbstverständlich sind.

Dass diese Forderung auch in der Filmpraxis umgesetzt werden kann, weil man nicht nur theoretisch 28 von 55 Tatorten mit 28 qualifizierten Kamerafrauen besetzen könnte, zeigen die Zahlen: Frauen studieren inzwischen selbstverständlich in den Kameraklassen der Hochschulen – wo es jedoch, nebenbei bemerkt, mit den genderspezifischen Vorbehalten und Diskriminierungen bereits losgeht. Frauen gehen an den verschiedenen Sets ihrer Arbeit nach und partizipieren im Wettkampf um die besten Filme und die wichtigsten Preise. 30 Kamerafrauen kann ich im BVK, dem Berufsverband der Kameraleute, zählen. 105 bei den Cinematographinnen, dem Netzwerk von Kamerafrauen im deutschsprachigen Raum – teilweise gibt es doppelte Mitgliedschaften. Aber schlussendlich sind es auch ohne Überschneidungen immer noch über 100 Kamerafrauen, die in der deutschen Film- und Fernsehbranche arbeiten. Nicht zu vergessen diejenigen Kamerafrauen, die nicht in diesen Verbänden organisiert sind.

Energisch hebe ich meine linke Hand. Diese Hand, die nur 5 Frauen unter den Tatort-Kameraleuten zählen konnte, erhebt sich angesichts dieser mutwilligen Ignoranz gegenüber der Präsenz exzellenter Kamerafrauen entschieden zum Protest. Gleichzeitig verliere ich den Überblick bei den Ermittlungen auf meinem Bildschirm. Ich kann mich nicht weiter auf die Frage konzentrieren, wie dieser Film visuell funktioniert und wie er funktionieren würde, wenn er von einer Frau gedreht wäre. Genervt komme ich zu dem Schluss, dass es überflüssig ist, die Fähigkeiten von Frauen in direkten Vergleich mit den Fähigkeiten von Männern zu stellen, wenn die Studien keinen Zweifel daran lassen, dass Kamerafrauen als minderwertig angesehen werden. Sie stehen unter Generalverdacht, die Qualität zu senken und nicht die gleichen Leistungen wie ihre männlichen Kollegen zu erbringen.

Der Sexismus zeigt sich am Ereignis

Es ist empörend, dass es an den Frauen hängen bleibt, sich und ihre Arbeit gegen diese haltlosen Vorwürfe behaupten zu müssen. “Der Sexismus zeigt sich am augenfälligsten und beweisbarsten am Ergebnis – in diesem Fall an der Abwesenheit der Frauen aus dem Beruf. Seine Existenz wird von den Sexisten geleugnet.” Dieses Zitat stammt aus dem Text “Nimmt man Dir das Schwert, dann greife zum Knüppel” der Filmemacherin und Autorin Helke Sanders, der 1974 – also vor 47 Jahren (!) – in der Zeitschrift “Frauen und Film” erschienen ist. Ich halte die Luft an.

Ich stecke in einer Sackgasse, während die Ereignisse um Lena Odenthal (gespielt von Ulrike Folkerts) unbeirrt weiterlaufen.

Ich schaue mir an, was meine bisherigen Ermittlungen ergeben haben. Vor mir liegt ein Abdruck. Er ist immer noch frisch. 55 Filme zeichnen sich darin ab, und 50 Männer, die ihre Arbeit in diese Filme eindrücken konnten. Das Bild fängt vor meinen Augen an zu schwirren. Ich versuche einen klaren Kopf zu bewahren und Schlüsse zu ziehen. Wenn von 55 Filmen 50 von Männern gedreht worden sind, während gleichzeitig genügend hervorragende Kamerafrauen auf dem Markt verfügbar sind, dann kann das nur heißen, dass der Tatort ein abgesteckter und bestens bewachter Hoheitsbereich ist. Es sind vor allem männliche Kameraleute, die dort zugelassen werden, um das Format durch ihre Arbeit zu repräsentieren.

Jetzt überschlagen sich die filmischen Ereignisse. Plötzlich befindet sich die Kommissarin im Gerangel mit der Mörderin, welche das Gefecht für sich entscheiden kann und zum Schuss auf den Staatssekretär des US-Verteidigungsministeriums ansetzt. Und da ist es auch schon passiert. Die Kommissarin feuert den ersten Schuss ab und dann auch noch den zweiten. Sie kann die Tragweite der Situation nicht überblicken. Die Folge geht allmählich zu Ende und Kommissarin Odenthal wird bald feststellen müssen, dass sie eine schwer traumatisierte Frau erschossen hat.

Auch meine Ermittlungen neigen sich dem Ende zu und auch mir soll etwas aufgehen:

wenn Männer traditionellerweise aufgrund ihres Geschlechts und unter Ausschluss eines Großteils der Frauen bei einem Format, das aus den Geldern aller Beitragszahler (= ca. 50% Frauen, 50% Männer) finanziert wird, bei der Vergabe der Positionen an der Kamera bevorzugt werden, dann kann das Qualitätsargument, das in unserer patriarchalen und sexistischen Filmbranche von Fernsehredakteur:innen und Produzent:innen gerne verwendet wird, doch eigentlich nur ein grauenvoller Mythos und Brandstifter sein. Er kommt im Pelz eines weißen, potenten Kameramannes daher, und dient dem Zweck, den Zweifel und das Misstrauen an den Fähigkeiten und Qualitäten der Kamerafrauen in den Hainen der Filmbranche zu säen.

Ernüchterung tritt ein. Bei den Kommissar:innen, wie auch bei mir. Ein klares, unverblümtes Licht – das gleiche Licht, das auch am Morgen des Neujahrstages ankündigt, dass der ganze Spuk der Weihnachtsfeiertage vorbei ist, kommt über uns. Der Fluss der Dinge ist jäh unterbrochen und die Zeit scheint plötzlich still zu stehen.

Ein klarer Moment. Es muss sich etwas ändern. Wir Kamerafrauen sind da und wir fordern die gleichen Rechte wie unsere männlichen Kollegen. Damit wir Gendergerechtigkeit erreichen können, brauchen wir eine Quote 50/50 Quote – auch für Kamerafrauen.

Liste von Kamerafrauen im deutschsprachigen Raum (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):

Beate Scherer, Sabine BerchterUte Freund, Britta Becker, Christina Karliczek Skoglund, Katharina Diessner, Christine Wagner, Tanja Häring , Bella Halben, Dixie Schmiedle, Christiane Buchmann, Eeva Fleig, Sonja Rom, Stephanie Hardt, Merle Sarah Jothe, Judith Kaufmann, Julia Weingarten, Isabelle Casez, Ulle Hadding, Justyna Feicht, Britta Mangold, Kristina Kerekes, Kirsten Weingarten, Julia Lohmann, Jutta Tränkle, Patricia Lewandowska, Birgit Gudjonsdottir, Jennifer Günther, Leah Striker, Astrid Heubrandtner, Susanne Schüle, Eva Maschke, Kathrin Krottenthaler, Emma Rosa Simon, Miriam Tröscher, Sophie Maintigneux, Christiane Schmidt, Jana Marsik, Eva Katharina Bühler, Isabelle Arnold, Eva Testor, Christine A. Maier, Miriam Kolesnyk, Susanna Salonen, Friederike Hess, Alicja Pahl, Conny Beissler, Jutta Pohlmann, Natalia Mikhaylova, Siri Klug, Annegret Sachse, Lotta Kilian, Yoliswa Von Dallwitz, Daniela Knapp, Smina Bluth, Sanne Kurz, Judith Benedikt, Birgit Bebe Dierken, Leena Koppe, Julia Daschner, Ines Thomsen, Anne Misselwitz, Petra Korner, Katinka Zeuner, Christine Munz, Luana Knipfer, Deniz Blazeg, Darja Pilz, Caroline Bobeck, Julia Lemke, Julia Schlingmann, Monika Plura, Sabine Panossian, Marie Zahir, Carla Muresan, Joanna Piechotta, Jana Lämmerer, Zara Zandieh, Agnesh Pakozdi, Anna Intemann, Mariel Baqueiro, Stefanie Reinhard, Claire Jahn, Gabriela Betschart, Christina Heeck, Sonja Aufderklamm, Lydia Richter, Antje Heidemann, Constanze Schmitt, Katja Rivas Pinzon, Anna Motzel, Anne Lindemann, Luise Schröder, Aline László, Anne Bolick, Paola Calvo, Teresa Kuhn, Carina Neubohn, Julia Geiss, Aleksandra Medianikova, Jana Pape, Marie-Thérèse Zumtobel, Christine Lüdge, Carmen Treichl, Julia Jalnasow, Doro Götz, Lisa Voelter, Theresa Maué, Rebecca Meining, Samira Oberberg, Viola Laske, Nathalie Wiedemann, Beate Scherer, Hille Sagel, Kristina Marlen Schulte-Eversum, Viktoria Anette Haellmigk, Christine Ajayi, Zoe Schmederer, Sarah Rotter, Julia Swoboda, Laura Kansy, Melanie Brugger, Carolina Steinbrecher

Über die Gast-Löwin

© Carla Muresan (privat)

Carla Muresan ist freischaffende Kamerafrau. Sie studierte Kamera/Bildgestaltung an der Hochschule für Fernsehen und Film München und dreht Spielfilme, wie auch Dokumentarfilme. Aktuell wird der Kinodokumentarfilm “Fieber” (AT), der in Zusammenarbeit mit der Regisseurin Helen Simon entstanden ist, fertiggestellt. Ihre letzte gemeinsame Zusammenarbeit, der Kinodokumentarfilm “Nirgendland”, war für den Grimme Preis nominiert.

Der Artikel ist ursprünglich auf dem Blog von „Nicht Mein Tatort“ erschienen.