Berlinale 2023: Ukrainische Regisseurinnen im Fokus

Es ist ein großer Gewinn für das Programm der Berlinale, dass die Stimmen ukrainischer Regisseurinnen in den letzten Jahren einen wohlverdienten Platz auf dem Festival finden konnten. Nach Kateryna Gornostais Stop-Zemlia und Maryna Er Gorbachs Klondike in den Jahren 2021 und 2022 finden sich in diesem Jahr mit Alisa Kovalenko und ihrem Film We Will Not Fade Away und Do You Love Me? von Tonia Noyabrova gleich zwei Filme von ukrainischen Regisseurinnen im Line Up der Berliner Filmfestspiele. Formal und inhaltlich könnten die beiden unterschiedlicher kaum sein, im Kern ähneln sie sich allerdings stark: Beide Filme zelebrieren das Leben im Angesicht des Todes und des Krieges und senden so eine unfassbar starke Botschaft.

Alisa Kovalenkos dokumentarisches Jugendporträt We Will Not Fade Away wurde von 2019 bis 2022 in der Luhansk-Region im Donbass gedreht, einem Teil der Ukraine, der bereits seit Start des Krieges im Jahr 2014 von regelmäßigen Kampfhandlungen geprägt ist. Fünf Jugendliche – Andriy, Illia, Lera, Liza und Ruslan – stehen im Fokus dieses ruhig gedrehten und strikt beobachtenden Dokumentarfilms, den die ukrainische Regisseurin fertig gestellt hat, obwohl sie nach dem 24. Februar 2022 vier Monate an der Front kämpfte. Mit der Rückkehr zur Post-Produktion von We Will Not Fade Away hörte ihr Kampf für den Frieden allerdings nicht auf, denn der Film ist ein Monument für eben jenen.___STEADY_PAYWALL___

© Alisa Kovalenko

Die erste Hälfte des Filmes zeigt die fünf Jugendlichen in ihrem Alltag in der ruralen Gegend, in der sie leben. Die Kamera begleitet sie zuhause, in der Freizeit beim Spielen und mit Freund:innen, in der Schule, beim Sport, beim Tanzen – beim Leben eines normalen Teenagers halt. Wären nicht die im Film als Selbstverständlichkeit behandelten Schusssalven, die ab und an im Hintergrund zu hören sind oder der fast schon alltägliche Gang ins Minenfeld, wäre es kaum ersichtlich, dass diese sympathischen, frechen und so hoffnungsvoll in die Zukunft blickenden Jugendlichen seit über fünf Jahren in einem Kriegsgebiet leben. Das Bild, das Menschen, die in Frieden aufgewachsen sind, von einem Leben und Alltag im Krieg haben, ist stark von hochstilisierten Kriegsdramen geprägt – Filme, wie We Will Not Fade Away sind auch deswegen so enorm wichtig, weil sie als Korrektiv gegen diese verzerrte Wahrnehmung wirken und uns zeigen, wie stark, wie resilient und unerschütterlich die ukrainische Gesellschaft der russischen Invasion standhält.

Obwohl Alisa Kovalenko für ihren Film eine so beobachtende und nüchterne Perspektive gewählt hat, in der sich die Jugendlichen als Protagonist:innen absolut frei entfalten können, lässt der Film eine überwiegende, narrative Tendenz erkennen. Nicht nur die am Ende des Films eingeblendeten Texttafeln, die über den Verbleib der Protagonist:innen nach Drehende aufklären, machen deutlich, dass der Blick in die Zukunft eine übergeordnete Rolle in We Will Not Fade Away spielt. Am Rande des Erwachsenwerdens befassen sich alle fünf Protagonist:innen mit der Frage, wie es für sie nach der Schule weitergehen soll. Sie träumen von Karrieren und von der großen Welt. Wenigstens einer dieser Träume, wird ihnen im Laufe des Films noch erfüllt: Eine geführte Expedition in den Himalaya lässt die fünf den Kriegsalltag entfliehen und eine andere Welt erkunden.

© Alisa Kovalenko

Die Expedition, die im letzten Teil des Films begleitet wird, öffnet dabei nicht nur den Jugendlichen die Augen, sondern auch dem Publikum: “Es ist als wenn ich nie gewusst habe, was Schönheit ist und sie jetzt zum ersten Mal sehe”, weint Liza durchnässt im nepalesischen Hochwald, überwältigt von den neuen Erfahrungen die sie machen durfte – keine fünf Minuten später wird eingeblendet, dass sie nach der Reise ein Design-Studium in Charkiw begonnen hatte, das sie nach ihrer Evakuierung im März 2022 in Gent weiterführen konnte. Es ist eine der glücklicheren Zukünfte, die uns das Ende des Films verrät und eine bittere Rückkehr in die ukrainische Realität. Die russische Invasion des kompletten ukrainischen Gebiets hat jede:n einzelne:n der fünf Jugendlichen und ihre Familien eingeholt und ihre Zukunftspläne in Gefahr gebracht. Man kann nur hoffen, dass sie sich ihre Träume allerdings bewahrt haben.

Nicht von der Zukunft, sondern mehr von der Vergangenheit handelt Do You Love Me? von Tonia Noyabrova. Die Handlung des Films spielt im Winter 1990, ein Jahr vor Zerfall der Sowjetunion in der sowjetischen Ukraine. Protagonistin ist die 17-jährige Kira (Karyna Khymchuk), die sich nicht nur durchs Erwachsenwerden, die erste Liebe und die Trennung ihrer Eltern navigieren muss, sondern auch die kräftezehrende und von Armut sowie Hunger geprägte Zeit vor der ukrainischen Unabhängigkeit zu meistern hat. Dabei ist Kira so lebensfroh und so voller Sehnsucht nach Schönheit und Liebe. Die titelgebende Frage stellt sie im Laufe des Films ihrem Vater, ihrer Mutter und ihrem Partner – eine Antwort bekommt sie nie.

© Family Production

Auch die Produktion von Do You Love Me? war unmittelbar von der russischen Invasion betroffen. Die Dreharbeiten endeten am 19. Februar 2022, knappe fünf Tage bevor der Überfall Russlands den Krieg eskalieren ließ. Vor der Premiere des Films wird nicht nur eine Videobotschaft des an der Front kämpfenden Produzenten des Films abgespielt, sondern auch Bilder der ausschweifenden Freude nach dem letzten Drehtag gezeigt. Diese Kontrastierung – die Zelebrierung des Lebens im Angesicht des Todes – leitet einen Film ein, der Ähnliches leistet. Kiras Geschichte ist stark autobiographisch geprägt. Regisseurin Tonia Noyabrova wollte ihre eigenen Erfahrungen als extrovertierte Heranwachsende in einer zerfallenden sozialistischen Republik auf die Leinwand bringen und hat dies mit Bravour geschafft.

Dass die Regisseurin ihren Film dabei liebt wie ein eigenes Kind, macht sich in der detailverliebten und stark von der Perspektive einer 17-jährigen geprägten Inszenierung bemerkbar. Kira neigt zu emotionalen Extremen und Autoaggressivität – in einem Moment stürzt sie als Reaktion auf die Krise ihrer Eltern Alkohol und Tabletten in sich rein, im nächsten Moment verliebt sie sich wie auf dem ersten Blick in den Mediziner Misha und zieht nur wenige Tage später bei ihm ein. Noyabrovas Inszenierung schafft es dabei das Publikum an eben diesen Emotionen stets teilhaben zu lassen. Man leidet mit ihr, man liebt mit ihr – und verliert dabei allerdings auch die notwendige Distanz, um sofort zu erkennen, dass die Männer in Kiras Leben, ihr Freund Misha, ihr Vater und ein überaus unangenehmer Freund der Familie, starke Machtgefälle in der Beziehung zu ihr kultivieren. Für eine Problematisierung dieser Beziehungen räumt die Regisseurin allerdings neben den nostalgisch verklärten Erinnerungen an ihre eigene Jugend zu wenig Platz ein.

© Family Production

Sowohl Do You Love Me? als auch We Will Not Fade Away sind in Anbetracht der alltäglichen, sehr militärisch und realpolitisch geprägten Berichterstattung des Krieges in der Ukraine wichtige Monumente. Sie bringen uns die Menschen, ihre Geschichten und Lebensrealität näher, die jeden Tag bedroht werden und drücken gleichzeitig die unerschrockene Liebe zum Leben einer jungen Generation ukrainischer Regisseurinnen aus, die den Diskurs um die Ukraine mitbestimmen wollen und sollten. Der Berlinale tut es gut, solche Filme neben der selbstdarstellerischen Präsidentenverehrungen Superpower und den Zerstörungschroniken Iron Butterflies und W Ukrainie im Programm zu haben, denn uns allen tut es gut nicht zu vergessen, dass die Ukraine nicht nur aus Trümmern und Kriegshandlungen besteht.

Die Spielzeiten für die Berlinale 2023 finden sich hier: Do You Love Me? und We Will Not Fade Away

Sophie Brakemeier