Berlinale 2023: 20.000 especies de abejas
„Wieso weißt Du, wer Du bist, und ich nicht?“ fragt die achtjährige Cocó ihre Mutter Ane. Das Thema Identität ist verwirrend für das Mädchen, das von ihrer Familie mit einem Jungennamen und männlichem Pronomen angesprochen wird. Das passt nicht, fühlt sich falsch und unangenehm an. So etwas wie Jungs- oder Mädchensachen gibt es nicht, beharrt Ane ganz im Sinne des modernen Queerfeminismus und übersieht dabei, dass für Cocó – so ihr aktueller Spitzname – diese Unterscheidung eben doch bedeutsam ist. Und es eben nicht egal ist, wie sie heißt und angesprochen wird. 20.000 especies de abejas erzählt vom Transformationsprozess einer Familie: Während Cocó mit ihrer Mutter und den beiden Geschwistern die Familie im Baskenland besucht, brechen verschiedene Generationenkonflikte auf, müssen Menschen sich neu finden und definieren und lernen, einander so zu sehen wie sie wirklich sind.
Regisseurin Estibaliz Urresola Solaguren erzählt ihren Film mehrheitlich aus der Perspektive Cocós, die sich später für den Namen Lucía entscheiden wird und deshalb im weiteren Text auch so genannt werden soll. 20.000 especies de abejas transportiert die Erfahrungswelt des kleinen Mädchens so nachvollziehbar, dass Lucía auch in Momenten des Widerstands niemals wie ein „schwieriges“, sondern ausschließlich wie ein schmerzhaft herausgefordertes Kind wirkt. So gelingt es der Filmemacherin, für ihre Heldin Empathie statt Mitleid zu erzeugen, das Publikum ihre Gefühle spüren, statt nur beobachten zu lassen.___STEADY_PAYWALL___
Gleichzeitig widmet sich der Film auch der Perspektive Anes, die durch die Bewerbung an einer Kunsthochschule unter großem Druck steht und darüber die Suche ihrer jüngsten Tochter nach Anerkennung ihrer geschlechtlichen Identität aus dem Blick verliert.
Es ist eine große Stärke von 20.000 especies de abejas, die Perspektiven von Lucía und Ane nicht gegeneinander auszuspielen: Ane darf als Mutter von den Entwicklungen überfordert sein, ohne dass ihr Handlungsstrang den hier zentralen Prozess ihrer Tochter verdrängen würde. Vielmehr nutzt Estibaliz Urresola Solaguren verschiedene Nebenstränge und -figuren, um die zentralen Themen ihrer Geschichte – Identität, Körper und Transformation – motivisch zu etablieren. Da ist die Frage nach Gott und seiner unfehlbaren Schöpfung, die sich verbindet mit der Rolle Anes als Künstlerin und Bildhauerin und sich wiederum im Kern auf die Macht des Individuums bezieht, sich selbst zu erschaffen und zu definieren. Da gibt es verschiedene Kämpfe der Emanzipation und Abgrenzung der Frauen unterschiedlicher Generationen, die im Grunde alle dafür kämpfen, als Menschen mit ihren Lebensentscheidungen akzeptiert und geliebt zu sein. Da sind Eidechsen, die ihren Schwanz abstoßen, wenn sie in Gefahr sind, und Larven, die sich in Bienen verwandeln. Da findet eine christliche Namenstaufe statt, in deren Kontext Lucía sich namenlos fühlt. Estibaliz Urresola Solaguren verbindet all diese Elemente kunstvoll zu einem Gesamtwerk, das seine Geschichte nicht nur mit Worten, sondern auch mit Bildern und Zwischentönen erzählt. Die Handkamera von Gina Ferrer García tut ihr Übriges, um das Publikum in Lucías Erfahrungswelt eintauchen zu lassen, sucht stets die Nähe zur Hauptfigur und vermittelt durch ruhige beziehungsweise wacklige Bilder Stimmungen von Ausgeglichenheit und Freude, Angst und Stress.
Eine nennenswerte Leistung des Films ist der Respekt gegenüber Lucía und ihrer Geschlechtsidentität, die zu keinem Zeitpunkt in Zweifel gezogen wird. Im Gegenteil ermöglicht Estibaliz Urresola Solaguren ihrem Publikum die immense Stärke dieser kleinen Person anzuerkennen, die sich in einer größtenteils unverständigen Welt selbst verstehen lernt. 20.000 especies de abejas zeigt sowohl, wie die Erwachsenen Lucías Weg erschweren, als auch, wie sie das Mädchen dabei unterstützen, ihn zu gehen, beschränkt sich also nicht auf die Rührung seines Publikums, sondern ist eine Einladung, sich mit einem trans Kind auf Augenhöhe zu begeben.
Am Ende von 20.000 especies de abejas ist die Familie noch am Anfang. Doch eines hat sich verändert: Die Eingangsszene spiegelnd, schaut Ane ins Gesicht ihres jüngsten Kindes und sieht… ihre Tochter.
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