Berlinale 2023: Im toten Winkel

Die deutsch-kurdische Filmemacherin Ayşe Polat kreiert mit Im toten Winkel einen im Nordosten der Türkei angesiedelten mysteriösen Thriller über Verlust, transgenerationales Trauma und den Konflikt zwischen Kurd:innen und Türk:innen. Eingeteilt in drei Kapitel entspinnt sich die Geschichte über einen komplexen Bogen, der sich rational erklärbaren Kausalitäten zwischen den dargestellten Ereignissen mitunter entzieht. Als formal spannungssteigerndes Element setzt Polat verschiedene, entpersonalisierte Kamera- bzw. Film-im-Film-Perspektiven ein, die die unheimliche Omnipräsenz einer unbekannten Größe suggerieren. 

© Mitosfilm

Die Handlung von Im toten Winkel beginnt mit einer deutschen Filmcrew, die eine Dokumentarfilm über ein Dorf und eine kurdische Bewohnerin dreht, deren Sohn vor langer Zeit verschleppt wurde, vermutlich vom türkischen Geheimdienst. ___STEADY_PAYWALL___Die Frau hofft immer noch auf seine Rückkehr und hält den Glauben daran mit Ritualen aufrecht. Übersetzerin Leyla (Aybi Era) nimmt zum Treffen mit der Crew, die auch von einem Anwalt begleitet wird, die 7-jährige Melek (Çağla Yurga), die Tochter ihres Nachbarn, mit. Diese erzählt in der Drehpause von einem wiederkehrenden Mann, den die Erwachsenen für ihren imaginären Freund halten. Leyla informiert die Crew kurz darauf, dass ihr Nachbar ihnen interessante, geheime Informationen bieten könnte, wenn sie ihm helfen würden, nach Deutschland zu emigrieren. Die Crew willigt ein, doch das Unterfangen endet in einer schrecklichen Begegnung, die das Ende des ersten Teils bildet.

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Im zweiten Teil folgt Im toten Winkel der Perspektive von Zafer, des Vaters von Melek. Dieser scheint in einer Art Untergrundnetzwerk organisiert zu sein und beobachtet Leylas Kollaboration mit dem deutschen Filmteam argwöhnisch. Vor allem den Anwalt, den er als Terrorist bezeichnet, nimmt Zafer mit seinen Kollegen ins Visier.  Zafer selbst wird jedoch auch beobachtet: immer wieder erhält er auf seinem Smartphone Videos, auf denen er deutlich in Posen zu erkennen ist, die er erst wenige Momente zuvor eingenommen hat. Im dritten Kapitel schafft Polat mehr Raum für die Mutter von Melek, deren Verbindung zu ihrem imaginären Freund immer mysteriöser wird. Über alle drei Kapitel verschieben sich die Zeitebenen, sodass sich im Laufe der Zeit so manches Puzzleteil fügt, sehr vieles aber bis zum Ende auch offen bleibt. 

Wir sehen in einem verzerrten Kamerabild wie ein Mädchen geradeaus in die Kamera blickt, während eine Frau sich zu ihr hinunter beugt.

© Mitosfilm

Im toten Winkel ist ein Film, der einen nach der Sichtung mit Rätseln zurücklässt – das kann einerseits zu anregenden Gesprächen führen, andererseits auch unbefriedigend ausfallen. Polat lässt uns mit unseren eigenen Interpretationen zurück. Eine lückenhafte Filmsprache für Gefühle und Verhältnisse, die sich auch im Realen kausaler Logiken entziehen, könnte man als formal konsequente Erzählstrategie lesen. In der Frau mit dem verschleppten Sohn und in Melek leben die Geister kollektiver und transgenerationaler Traumata fort, die die fortwährenden Konflikte zwischen Völkern auslösen. Auch Zafer wird ständig verfolgt, aber wir sehen nie ein konkretes, handelndes Subjekt, eine:n Verfolger:in. Aus Sicherheitsgründen lässt er in seiner eigenen Wohnung Überwachungskameras installieren, deren Steuerung ihm selbst obliegt, doch auch diese Perspektiven schützen ihn nicht vor der Beobachtung durch eine unsichtbare Instanz. Der Film wechselt oft zwischen diesen entsättigteren  Bildern von Weitwinkelkameras, Smartphones oder der Kamera des Filmteams und den Standardbildern – das erzeugt im Zusammenspiel mit dem düsteren Soundtrack Atmosphäre, verstrickt sich zuweilen aber auch in fehlender Logik, wenn innerhalb einer Szene nicht nachvollziehbare Perspektivwechsel erfolgen. Die Beziehungen zwischen einigen Figuren, die miteinander durch  Morde und Verfolgungen interagieren, fallen zum Teil verwirrend aus. Der atmosphärisch dichte Thriller Im toten Winkel verlangt aufmerksame Zuschauer:innen, die offen für die Lücke in der Erzählung bleiben.

 

Bianca Jasmina Rauch
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