Drei Gedanken zu: Menschliche Dinge

Achtung: Dieser Text behandelt die Darstellung sexualisierter Gewalt im Film

Aussage steht gegen Aussage als die 17jährige Mila (Suzanne Jouannet) den 21jährigen Alexandre (Ben Attal) der Vergewaltigung beschuldigt. Es ist der Sohn der neuen Lebensgefährtin ihres Vaters, einer bekannten Journalistin und feministischen Aktivistin, und des landesbekannten TV-Moderators Jean Farel – ein Sohn aus gutem und wohlhabendem Hause also, gebildet, Student in Stanford. Regisseur Yvan Attal erzählt diese Geschichte in Menschliche Dinge – basierend auf dem Roman von Karina Tull und dem Fall von Brock Allen Turner – aus verschiedenen Perspektiven und im Kontext der beiden Familien wie auch einer von Sexismus und Misogynie geprägten Gesellschaft.

Darüber wie der Film das Thema sexualisierte Gewalt verhandelt, ob er rape culture Mythen dekonstruiert oder fortschreibt, habe ich mir „Drei Gedanken“ gemacht.

Die Mär der Grauzone: Eine Frage der Perspektive?

„Er“ – so heißt der erste Akt von Menschliche Dinge, der sich vornehmlich der Perspektive Alexandres sowie seiner Familie widmet. Wir sehen, wie der Stanford-Student zu Besuch in Paris eintrifft, seinen vielbeschäftigten Vater nur telefonisch erreicht, die Mutter und deren neuen Partner zum Abendessen besucht und dabei Mila kennenlernt. Am nächsten Tag taucht die Polizei auf, um den völlig verwirrten Alexandre festzunehmen, der sich keiner Schuld, ja nicht einmal einer Tat bewusst ist. Ebenso wenig wie wir, weil die Nacht, um die es geht, in der filmischen Erzählung nicht vorkommt. Sehen wir hier den zigsten Film über die Falschaussage eines angeblichen Opfers sexualisierter Gewalt?

„Sie“ heißt dann der nächste Akt, der diese Befürchtung entkräftet. Wir sehen Mila, wie sie in der Tatnacht verängstigt in die Wohnung ihrer strenggläubigen, jüdischen Mutter zurückkehrt, wie diese sie aus Scham von einer Anzeige abhalten will, Mila aber trotzdem zur Polizei geht, die Ereignisse der Nacht in ihrer Aussage erneut durchleben und anschließend nicht enden wollende körperliche und psychologische Untersuchungen im Krankenhaus über sich ergehen lassen muss.

Im dritten Akt erzählt Yvan Attal das Gerichtsverfahren sowie in Rückblenden Teile der Tatnacht, jedoch niemals die Tat selbst.

Szenenbild aus MENSCHLICHE DINGE: Mila und Alexandre nachts auf der Straße. Alexandre legt den Arm um Mila. Sie schaut ängstlich.

Copyright Jérôme Prébois © 2021 CURIOSA FILMS

Eine ausgewogene Perspektive also? Nein, mitnichten. Alexandres Geschichte nimmt auffällig mehr Raum ein, ebenso wie die Darstellung seiner Familie. Infolgedessen ist er uns trotz der Einblicke in Milas Erfahrungswelt stets näher als sie, werden wir viel stärker in die Perspektive des Täters und seiner Familie mitgenommen als in die Welt des Opfers, dessen religiöse Familie lediglich Zweifel an der Anklage säen soll. Warum ist das so? Warum überhaupt den Versuch der Blickvielfalt wagen, um schließlich doch so klar Stellung zu beziehen?

Yvan Attal gaukelt uns in Menschliche Dinge vor, eine neutrale Position zu vertreten, während sein Film doch zweifelsohne eine Haltung einnimmt. Eine Haltung, die der Staatsanwalt wie auch der Verteidiger in ihren Schlussplädoyers zusammenfassen: Wir müssen auch die Stimmen der Täter hören und das Strafmaß darf sich nicht an den Taten, sondern an der Persönlichkeit eben jener orientieren.

Szenenbild aus MENSCHLICHE DINGE: Claire und Jean im Gerichtssaal. Um sie herum viele Menschen. Beide schauen besorgt.

Copyright Jérôme Prébois © 2021 CURIOSA FILMS

Hat Feminismus eine Grenze?

 Die Kritik am dramaturgischen Ungleichgewicht der Perspektiven außen vorgelassen, ist die Figur von Alexandres Mutter Claire (Charlotte Gainsbourg) aus feministischer Sicht mit Sicherheit die interessanteste. Nicht nur, dass Claire für eben jene Generation weißer Feministinnen steht, die durch ihre Absage an intersektionale Perspektiven und dem Fokus auf migrantische Sexualstraftäter Rechtspopulisten in die Hände spielen. Sie ist auch hin- und hergerissen zwischen ihrer Rolle als Kämpferin für Frauenrechte und Mutter eines Vergewaltigers. Die moralische Grenze, mit der Claire hier kollidiert, wäre einen eigenen, unter Umständen deutlich interessanteren Film wert. Bedauerlich ist aber das Fazit, das sie schließlich in ihrer Aussage vor Gericht zieht: Feminismus hat Grenzen.

Ist das so? Auch hier wieder droht Menschliche Dinge trotz der offensichtlichen Versuche, die Normalisierung von sexualisierter Gewalt, Sexismus und Misogynie kritisch offenzulegen, rape culture fortzuschreiben. Gibt es denn wirklich nur das eine oder das andere? Warum kann Claire nicht Mutter UND Feministin sein, sexualisierte Gewalt verurteilen und dafür eine Strafe einfordern, während sie ihrem Sohn eine fürsorgliche Mutter ist? Doch Yvan Attal und Co-Autorin Yaël Langmann verlangen ihrer Figur nicht nur eine Entscheidung ab, sondern lassen sie auch die Täterperspektive stärken, wenn Claire um die Zukunft ihres Sohnes bettelt, die Konsequenzen einer Verurteilung für sein Leben unterstreicht. Was ist das für ein Bild von Feminismus, das ihn auf derart fragilen Boden stellt, so anfällig macht für Emotionen, das einen Feminismus zeichnet, der nicht mit Mutterschaft vereinbar ist? 

Szenenbild aus MENSCHLICHE DINGE: Mugshot von Alexandre bei der Polizei. Er hat Augenringe und wirres Haar, hält ein Schild mit seinen Personalien in die Kamera.

Copyright Jérôme Prébois © 2021 CURIOSA FILMS

Auch gute Jungen können böse sein

Die große Stärke von Menschliche Dinge ist die Nebeneinanderstellung von Jean und Alexandre Farel. Jean (Pierre Arditi), der alte weiße Mann, der keine Scheu hat, frauenverachtende Positionen zu beziehen, weil er in seiner Machtposition ohnehin unantastbar ist, erscheint zu Beginn des Films als prototypischer Kandidat für Machtmissbrauch durch sexualisierte Gewalt. Die Affäre mit seiner blutjungen Praktikantin macht dies noch wahrscheinlicher. Umso überraschender ist es dann, als die Polizei nicht ihn, sondern seinen freundlichen und wohl erzogenen Sohn wegen der Anzeige einer Vergewaltigung in Gewahrsam nimmt. Dabei wäscht Menschliche Dinge Jean nicht rein, zeigt klar seine sexistische und egozentrische Weltanschauung, seine Rolle in der Fest- und Fortschreibung eines patriarchalen Systems, das letztlich eben auch den Kontext für Alexandres Taten bildet. Dennoch: Jean mag ein Narzisst und Sexist sein, aber ein Vergewaltiger ist er nicht.

Und Alexandre? Freundlich hilft er in der ersten Szene des Films einer älteren Dame am Flughafen mit ihrem Gepäck. Höflich ist er, gebildet und wohl erzogen. Ein wenig zu hartnäckig vielleicht im Umgang mit seiner Ex-Freundin, aber schließlich doch respektvoll gegenüber ihrer Abgrenzung. Und da wir im Film so nah an seinem Erleben, an seiner Welt und Perspektive sind, so mögen wir ihm vielleicht sogar glauben, dass er sich keiner Schuld bewusst ist. Dass er taub war für Milas körperliches Nein war, dass er sich in einer einvernehmlichen Situation glaubte. Nur – und das ist eben genau die Lektion, die uns Menschliche Dinge viel expliziter lehren sollte – das entbindet ihn nicht der Verantwortung, macht ihn nicht weniger schuldig. Er muss kein „schlechter Mensch“ sein, um schlechte Dinge zu tun. Er kann alles andere in seinem Leben richtig gemacht und an dieser Stelle trotzdem ein Verbrechen begangen haben.

Und damit gibt Menschliche Dinge vor allem dem cis männlichen Publikum etwas ganz Wichtiges mit auf den Weg: Nur weil Du Dir keiner Schuld bewusst ist, heißt das noch lange nicht, dass Du unschuldig bist. Es heißt nur, dass Du nicht begriffen hast, was Deine Taten für einen anderen Menschen bedeuten.

Und dasselbe gilt übrigens auch für Yvan Attal: Vermutlich wollte der Regisseur einen konstruktiven Beitrag zur #MeToo-Debatte leisten. Immerhin achtet er auf vorbildliche Weise darauf, die Vergewaltigung selbst nicht zum Schauwert zu machen, sondern indirekt und elliptisch zu erzählen. Und vermutlich ist er sich dem dramaturgischen Ungleichgewicht, der deutlichen Haltung zu Gunsten des Täters gar nicht bewusst. Aber die besten Absichten können leider trotzdem zu einem ganz anderen Ergebnis führen. Und nicht um dieses Ergebnis zu wissen, macht die Sache – oder den Film – leider nicht besser.

Kinostart: 3. November 2022

Sophie Charlotte Rieger
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