Viennale 2022: Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen

Mit Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen nähert sich die deutsche Regisseurin Claudia Müller – die sich u.a. auch für VALIE EXPORT – Ikone und Rebellin verantwortlich zeigte – mit der Produzentin Claudia Wohlgenannt (Die Dohnal) dem Werk Jelineks und dessen Verzahnung mit der österreichischen Geschichte und Gesellschaft. Die als linke Feminisitin – wie könnte es anders sein – polarisierende Schriftstellerin hält in ihren Prosatexten und Theaterstücken ihrem Heimatland samt seinen politischen Handlungsträger:innen immer wieder den Spiegel vor und nennt unbequeme Wahrheiten ungeschönt beim Namen. Als „Nestbeschmutzerin“ vielfach verschmäht und auch in der medialen Berichterstattung oft auf wenig Verständnis stoßend, zog sie sich nach dem Erhalt des Nobelpreises im Jahr 2004 weitestgehend aus der Öffentlichkeit zurück. Müller und ihr Team stellten sich der Herausforderung, Jelineks Leben und Werk verknüpft mit dem Zeitgeschehen und Österreichs politischen Umschwüngen filmisch zu vermitteln. Das Ergebnis zeigt sich nicht als bloße biografische Abhandlung einzelner Stationen ihres Lebens, sondern damit verbunden auch als das streckenweise Eintauchen in ihre Sprachkunst, mit der sie sich von Beginn an gegen die Konventionen behauptete – indem sie sie “von der Leine” ihrer Normen ließ.

© Polyfilm

___STEADY_PAYWALL___ Die Kindheit bestimme bereits wesentlich darüber, was eine Künstlerin ein Leben lang beschäftige, so Jelinek, als sie in Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen von den Sommern ihrer Kindheit am Lande erzählt. Zunächst im steirischen Mürzzuschlag geboren, wuchs sie in Wien auf, das seitdem die meiste Zeit über ihre Heimat blieb und zu dem sie ein durchaus ambivalentes Verhältnis entwickelte. Die katholische Erziehung von der Mutterseite prägte Jelinek maßgeblich, auf der Vaterseite kämpfte das Gedenken an das vergossene Blut der jüdischen Verwandten gegen die Vergessenheit, mit der sich Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg so gern scheinheilig umwölkte. Bis zur Matura erfuhr die junge Elfriede Jelinek eine musikalische Erziehung, die ihr durch den repressiven Drill der Mutter weder Freizeit noch Freund:innenschaften ermöglichte. Nachdem dieser Leistungsdruck zur psychischen Überlastung wurde, orientierte sich die Gymnasialabsolventin neu und entdeckte die Sprache für sich – die einzige Kunstform, die die Mutter nicht zu fördern im Sinne hatte.

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Jelinek spricht in einer Vielzahl von Archivinterviews und in für den Film neu aufgenommenen Off-Texten, über ihr Leben. Diese Gespräche werden v.a. in den Sequenzen über ihre Kindheit und Jugend mit Super 8-Aufnahmen aus den 1950er und -60er Jahren bebildert und mit neu gedrehten Super 8-Sequenzen kombiniert. Ab dem Zeitpunkt in ihrem Leben, in dem die Autorin im Fernsehen auftrat und mediale Aufmerksamkeit erhielt, lassen Müller und die Editorin Mechthild Barth auch diese Versatzstücke österreichischer Fernsehgeschichte als Teil eines öffentlichen Diskurses um ihre Person mit in ihr filmisches Porträt dringen (ein Beispiel ist die Diskussion um ihren Roman Lust, der in voller Länge auch auf YouTube zu sehen ist). Hierdurch veranschaulichen die Filmemacherinnen, dass die Wiener Gruppe, die avantgardistische, linke Künstler:innenszene der 1960er, die Verdrängungsmentalität der Nachkriegszeit, die patriarchale Obrigkeitshörigkeit, das Aufleben von Populisten wie Jörg Haider oder H.C. Strache, aber auch das Fernsehen als Konsumpraxis untrennbar mit dem Schaffen der Künstlerin verbunden sind. Ihre Texte verstehen sich seit jeher als Kritik an der Gesellschaft, dem System und den Wattebäuschchen der Schickeria mit ihrer opportunistischen, männlich dominierten Freunderlwirtschaft.

Jelineks Werkliste umfasst eine große Reihe an Texten, von denen die Presse und der Feuilleton manche mehr, manche weniger beachteten bzw. skandalisierten. Ausschnitte hören wir aus dem Off gelesen von einer Reihe von Schauspieler:innen, darunter Sandra Hüller, Maren Kroymann, Sophie Rois und Stephanie Reinsperger, die meist visuell begleitet sind von Aufnahmen von Berglandschaften und Kamerafahrten durch Dörfer. Was von der Bildwirkung her wenig einfallsreich erscheint, erweist sich aber als dankbare Brücke zum Gehörten, von dem die Aufnahmen wenig ablenken. Die Sprachkunst kann sich entfalten, indem die Bilder einen Augenblick in den Hintergrund treten: Darin liegt ein großes Plus des Films, der eben das Werk von Jelinek selbst zum Gegenstand seiner Erzählung macht. Die chronologisch an ihrer Erscheinung und dem politischen Zeitgeschehen orientierte Reihenfolge und Auswahl der Texte erweist sich als konsequent.

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Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen funktioniert als Öffner, stellt einen Zugang zu Jelineks Werk her, das sich durch die Direktheit und Forderung nach Veränderungen eines patriarchalen Systems auszeichnet. Dass die sogenannte “Öffentlichkeit”, also der Gros der Berichterstattung sie als Kämpferin nicht anerkannt, sondern vielmehr immer wieder zur Feindin erklärt (hat), lässt genau die wunden Punkte gewahr werden, die Jelinek als Systemkritikerin trifft. Die feministische Kritik an Geschlechter- und Klassenverhältnissen in Die Liebhaberinnen, die musikalische Erziehung in Jelineks berühmtem Roman Die Klavierspielerin, die „Unwissenheit“ der beliebten Burgtheaterschauspielerin Paula Wessely über ihre eigene Mitwirkung im Nazi-Propagandafilm Heimkehr in Jelineks  Theaterstück Burgtheater: Mit Exzerpten aus den jeweiligen Texten bringt der Film seinem Publikum viele Texte der Autorin näher, die  ohne diese Zusammenhänge nicht immer leicht zu erfassen wären. Mit ihrem 1995 erschienenen Roman Die Kinder der Toten (übrigens 2019 von Kelly Cooper und Pavol Liska verfilmt) sei alles, was sie sagen wollte, in einem Text kulminiert, so Jelinek in einem der Interviews. Also einfach dieses Werk lesen und den Rest sein lassen? Nein, Müllers Film gelingt es Neugier zu wecken, tiefer in das Werk der Autorin einzudringen und den medialen Diskurs um die feministische Schriftstellerin als höchst relevanten gesellschaftlichen Seismograph zu betrachten, in dem die Nadel zum toxischen Patriarchat ständig verheerend hoch anschlägt.

Kinostart Ö: 10.11.2022
Kinostart D: 11.11.2022

 

Bianca Jasmina Rauch
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