Die Frau des Dichters

Für Die Frau des Dichters begab sich Regisseurin Helke Misselwitz auf die Halbinsel Datça im Südwesten der Türkei, um die Künstlerin Güler Yücel (1935 – 2020) zu porträtieren. In den farbenfrohen Bildern Yücels sind Tradition, Natur und Emanzipation eng miteinander verknüpft. Sie malt, eher realistisch als abstrakt, was sie sieht und erlebt – etwa Feste in Datça oder vergangene, persönliche Ereignisse – und führt ein Leben im Einklang mit der Natur und mit der Erinnerung an ihren verstorbenen Ehemann, den Dichter Can Yücel. In Misselwitz‚ Film philosophiert die Malerin über das Leben und die Frauen auf Datça, die in dieser Region der Türkei das Sagen haben.

Güler Yücel in ihrem Hof

© missingFILMs

Von der wichtigen Rolle der Frauen auf Datça ist neben Yücel eine weitere Protagonistin (die namentlich leider nicht eingeführt wird) überzeugt. Diese bemerkt, dass seit etwa 10 Jahren die handwerkliche Arbeit von Frauen mehr und mehr anerkannt würde – ohne genauer auszuführen von wem und welche Auswirkungen dies konkret habe. Wir sehen sie beim Betreiben ihres Guts (ihr Mann agiert im Hintergrund) und beobachten sie und andere Frauen in den Pausen während der Ernte. Sie sprechen über längst verworfene berufliche Träume, auch eine jüngere Frau erzählt mit einem Lächeln, dass sie nach ihrer Heirat die Karriere aufgab. Nach dem Studium hätte sie nur weit entfernt vom Dorf Arbeit gefunden und sie wollte doch ihrem Mann nah bleiben. ___STEADY_PAYWALL___

Misselwitz lässt Frauen unterschiedlichen Alters in Gesprächen zu Wort kommen und präsentiert uns Lebensentwürfe, die zwar von starken Frauen vorangetrieben aber dennoch im Kern trägen patriarchalen Strukturen verhaftet bleiben, in denen Landwirtschaft und Familienleben noch immer tief verankert sind. Zwischen den Gesprächen verfolgt Die Frau des Dichters für einige Zeit Hochzeitszeremonien, Bilder von Musik und Tanz entfalten ihre Wirkung, stehen für sich oder werden von einer Dorfbewohnerin kommentiert. Die Kamera nimmt die Position einer Beobachterin ein, die sich wie ein Gast in das Fest einfügt. Misselwitz wechselt so Aufnahmen des alltäglichen und festlichen Lebens auf Datça mit Interviewsequenzen ab; der Fokus bleibt trotz dieser Auffächerung auf Güler Yücel und ihren Kunstwerken, die sie auch immer wieder selbst vor die Linse hält.

Portrait Can

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Daneben erzählt Yücel aber auch von ihrem Mann Can, seiner kommunistischen Positionierung durch Übersetzungen von Texten Che Guevaras oder Maos, von seiner daraus resultierenden Haftstrafe und von ihren Besuchen im Gefängnis, während sie selbst als Grundschullehrerin drei Kinder alleine durchbringen musste. Mit einem Lächeln blickt Yücel auf ihr Leben zurück und wir können nichts anderes als Bewunderung für ihre Stärke als Frau des Dichters aufbringen.

Verwunderung löst hingegen aus, dass der Film nicht „Die Malerin“ oder “Die Künstlerin” heißt, schließlich würde diese Einordnung von Güler Yücels Leben, das sie, unabhängig von ihrem Mann, zuletzt führte, gerechter werden. Denn nach der Kunstakademie hatte sie sich selbst und ihr Schaffen zunächst lange Zeit zurückgenommen, um die Familie zu finanzieren und Care-Arbeit zu leisten. Misselwitz’ Porträt gibt den größten Raum der letzten Phase ihres Lebens, in der sie sich ganz ihren Bildern und der Bildenden Kunst gewidmet hat. Ein wenig lernen wir diese Frau so zwar kennen, doch bleibt nach dem Film die Sehnsucht, noch mehr über ihre Vergangenheit und ihren herausfordernden Weg zu erfahren, den sie vor ihrem Ruhestand gegangen ist. 

 

Über die Regisseurin:

Helke Misselwitz begann nach ihrem Regiestudium (1978 – 1982) an der damaligen DDR-Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg als freie Autorin und Regisseurin zu arbeiten. Ihr international vielfach beachteter DEFA-Dokumentarfilm Winter Adè (1988) rückte kurz vor dem Mauerfall Hoffnungen und kritische Einsichten von DDR-Bürgerinnen ins Licht. Nach der Wende setzte Misselwitz ihre Arbeit im dokumentarischen und fiktionalen Bereich fort (z.B. mit Herzsprung im Jahr 1992 oder Engelchen 1996). Anlässlich ihres 75. Geburtstages erschien zuletzt eine Sammelbox einiger ihrer DEFA-Dokumentarfilme in restaurierter Fassung (bei absolutMEDIEN).

Kinostart Deutschland: 3.11.2022

Bianca Jasmina Rauch
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