Berlinale 2024: Ellbogen
„So siehst Du aus, wenn Du Dich unbeobachtet fühlst“, sagt Hazals Tante zu der knapp 18-jährigen jungen Frau, die sie gerade in der Küche mit dem Handy fotografiert hat. Hazal (Melia Kara) blickt auf das Display und ist erstaunt. So sieht sie aus?
Unbeobachtet ist Hazal nie. Als in Deutschland geborene Tochter türkischstämmiger Eltern ist sie in ihrem Alter neben sexistischen, auch immer rassistischen Blicken ausgeliefert. Das Privileg des unbeobachteten Moments ist Hazal nicht vergönnt. In diesem Zusammenhang scheint die Kameraführung von Andaç Karabeyoğlu-Thomas fast aufdringlich, sucht sie doch immer die größtmögliche Nähe der Hauptfigur, hält sie in Großaufnahmen fest und folgt ihren Bewegungen, egal wie hektisch diese sein mögen. Die Ruhelosigkeit, die die Handkamera auf diese Weise erzeugt, ist jedoch auch im Stande Hazals Lebensrealität zu spiegeln und für das Kinopublikum erfahrbar zu machen: In der Verfilmung des gleichnamigen Romans von Fatma Aydemir transportiert Regisseurin Aslı Özarslan mit Ellbogen eben jenen Zustand permanenter Wachsamkeit, die Gewissheit, sich immer wieder schützen und verteidigen zu müssen und für diese Gegenwehr jederzeit gewappnet zu sein.
Und es ist diese Gegenwehr, die die Geschichte von Hazal schließlich in eine neue Richtung treibt, denn als sie nachts im U-Bahnhof von dem Studenten Thorsten sexistisch und rassistisch attackiert wird, entlädt sich all der Frust, der sich in Hazal im Zuge ihrer vergeblichen Suche nach einem Ausbildungsplatz, den vielen Alltagsrassismen und Auseinandersetzungen in der Familie aufgestaut hat. Die Überwachungskamera des Bahnhofs hält fest, wie sie Thorsten schlägt und tritt und Richtung Gleise schubst… Von sich und der Situation schockiert flieht Hazal in die Türkei. Doch kann sie dort Ruhe finden? Wie weit muss sie rennen, um der eigenen Angst zu entkommen?
Ellbogen macht anhand der Hauptfigur die Omnipräsenz von Alltagsrassismus in Deutschland ebenso spürbar wie seine Konsequenzen. Letztlich ist auch Hazals Bildungskarriere, ohne dass hierfür Schuldige gesucht würden, von dieser Lebenserfahrung geprägt. Welche Chancen hat Hazal in der deutschen Gesellschaft? Und was muss sie dafür an Mehrarbeit leisten?
Dass sich Ellbogen in dieser Erzählung nicht in einem Opfer-Narrativ verrennt, ist die große Stärke des Films. Bei allen Umweltfaktoren, die Hazal das Leben erschweren, ist ihr Weg doch stets von ihren eigenen, manchmal fragwürdigen Entscheidungen geleitet. Auch die Flucht in die Türkei bringt sie nicht an einen besseren, sondern schlichtweg einen anderen Ort, mit anderen Konflikten und Vorurteilen. Auch dort ist sie wieder die Frau mit dem Akzent.
Und gleichzeitig findet Aslı Özarslan eine Alternative zum öffentlichen Raum der Diskriminierung und Verletzung: Es ist zum Beispiel der Akt des gemeinsamen Schminkens vertrauter Freundinnen, die Berührungen mit Händen und Pinseln, das Zelebrieren, verwöhnen und dekorieren des eigenen Körpers hinter verschlossenen Türen, der einen intimen Schutzraum erschafft, einen Ort für weibliche Solidarität und Zärtlichkeit. Özarslans Inszenierung macht Momente wie diesen erfahrbar, auch für das Kinopublikum zu einem Moment des Aufatmens, des Genießens, und erzeugt einen ästhetischen Kontrast zum von Bedrohung und Unruhe geprägten Alltag.
Doch Schutzräume sind keine Lösung genauso wenig wie Hazals Flucht in die Türkei das Erlebnis in der U-Bahn ungeschehen machen kann. Ellbogen mutet es seinem Publikum zu, weder Trost noch Lösung zu präsentieren, ja nicht mal einen Ausblick darauf. Am Ende ist alles offen, ist Hazal in gewisser Weise immer noch am Anfang – ihres Lebens und ihres Weges zu sich selbst. Und doch verabschiedet Aslı Özarslan die Heldin des Films mit einem Moment voller Kraft und Selbstbestimmung, mit einem nun ruhigen und entschiedenen Blick durch die vierte Wand auf ihre Beobachter*innen. „Eure Blicke können mir nichts anhaben“, scheint Hazal uns zu sagen. „Ich sehe euch.“
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