Berlinale 2020: Schwesterlein

Theaterschauspieler Sven hat Krebs. Die Knochenmarksspende von Zwillingsschwester Lisa ist seine letzte Hoffnung. Zunächst scheint es bergauf zu gehen. Sven verlässt das Krankenhaus in Berlin und zieht für unbestimmte Zeit zu seiner Schwester, die inzwischen mit ihrem Ehemann Martin und zwei Kindern in der Schweiz lebt. Zudem plant Sven, bald schon wieder als Hamlet auf der Bühne zu stehen, und auch Lisa setzt alle Hebel in Bewegung, um Regisseur David von dieser Besetzung zu überzeugen. Dabei übersieht oder vielmehr ignoriert sie die eindeutigen Warnsignale.

Lisa und Sven auf der Rückbank eines Taxis. Lars trägt eine Sonnenbrille und eine Perücke. Er lehnt sich an die Schulter von seinem Schwesterlein

© Vega Film

Die Regisseurinnen Stéphanie Chuat und Véronique Reymond inszenieren mit Schwesterlein ein Drama, in dem es neben dem Thema Krebs auch um Aspekte wie Familie, Kunst und Emanzipation geht. Leider ist „immer wieder“ nicht die richtige Strategie, um aus den verschiedenen Teilen ein überzeugendes Ganzes zu machen. Da ist beispielsweise die Nebenhandlung von Lisas Ehekrise mit Martin (Jens Albinus), der über ihren Kopf hinweg entscheidet, länger in der Schweiz zu bleiben. Und da ist Lisas Schreibkrise, die der Theaterautorin gerade den eigenen Karriereweg blockiert. Anhand der weiblichen Hauptfigur erzählen Chuat und Reymond hier also auch von ungleichen heterosexuellen Beziehungskonstellationen, in denen der beruflichen Laufbahn des Mannes mehr Bedeutung zukommt als der seiner Partnerin. Leider verbleibt diese Thematik ebenso in der Andeutung wie die Aufopferungsbereitschaft Lisas, die von ihr im Alleingang bestrittene Sorgearbeit für den kranken Bruder.

Lisa mit ernstem und traurigem Gesicht. Martin steht neben ihr und spricht mit ihr, doch sie schaut ihn nicht an.

© Vega Film

Der Verzicht darauf, die beiden Nebenstränge von Beziehung und beruflicher Entwicklung konsequent weiterzuverfolgen, steht auch der Charakterzeichnung Lisas im Wege, erschwert die Einfühlung in ihre Lebenssituation. Schwesterlein gelingt es kaum, die Emotionen der Hauptfigur spürbar zu machen. Dabei ist der Film handwerklich klar auf Realitätsnähe angelegt: Lange Einstellungen der schwebenden Handkamera versuchen eindeutig Unmittelbarkeit zu erzeugen. Auch die Besetzung von Lars Eidinger und Thomas Ostermeier, die im echten Leben ebenfalls als Hauptdarsteller und Regisseur gemeinsam Hamlet auf die Bühne bringen, lässt Wahrheit und Fiktion miteinander verschwimmen. Aus all dem entsteht aber bedauerlicher Weise nicht mehr, sondern weniger Authentizität. Lars Eidinger wirkt trotz seiner gewohnt eindringlichen Performance immer nur wie Lars Eidinger in der Rolle eines Krebspatienten. Die Idee, durch diese Besetzung mehr Lebensnähe zu erzeugen, geht nicht auf. Dies mag auch an der starken Präsenz Eidingers liegen, der hier – obwohl nicht die Hauptfigur – im übertragenen Sinne zu viel Raum einnimmt. Für Lisa und ihre Entwicklung bleibt schlicht und einfach zu wenig Platz.

Lars mit einer Krone. Seine Perücke ist verrutscht. Er ist blass und wirkt geistig abwesend.

© Vega Film

Und so stellt sich die Frage: Was wollen Stéphanie Chuat und Véronique Reymond eigentlich erzählen? Die Geschichte eines sterbenden Schauspielers, der nicht nur gegen den Krebs, sondern auch um seinen letzten Auftritt kämpft? Oder die Geschichte einer Frau zwischen Sorgearbeit und künstlerischer Selbstverwirklichung, zwischen geschwisterlicher Hingabe und einem berechtigten Streben nach Unabhängigkeit?

Schwesterlein hinterlässt den Wunsch nach einem Mehr – einem Mehr an Komplexität von Handlung und Figuren oder alternativ einem mehr an Emotionen, um aus dem inhaltlichen auch ein gefühltes Krebsdrama zu machen. Zu wenig aber vermögen uns Chuat und Reymond emotional zu bewegen oder inhaltlich mit auf den Weg zu geben. Zu sehr erscheint ihr Film als bloße Bühne für Lars Eidinger und Nina Hoss, auf der die beiden Stars des deutschen Schauspiels, insbesondere aber Eidinger, betont anspruchsvolle Rolle verkörpern dürfen.

Dabei ist Schwesterlein nicht grundsätzlich ein schlechter Film. Wohl aber ist er ein Film, dem in jeder Minute anzuspüren ist, was er hätte sein können und einfach nicht ist. Und das ist schließlich deprimierender als das Krebsdrama selbst.

Sophie Charlotte Rieger
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