Berlinale 2019: Der Boden unter den Füßen

Lola (Valerie Pachner) ist eine erfolgreiche Karrierefrau* und ihr ahnt es schon: Das bleibt nicht ohne Konsequenzen. Die Unternehmensberaterin steht zwar kurz vor der Beförderung, doch – wie sie selber später sagt – sie ist Vollwaise, alleinstehend und kinderlos. Oder anders gesagt: Für Familie bleibt in Lolas Leben zwischen Flughäfen, Konferenzräumen und Hotelzimmern keine Zeit. Deshalb verschweigt sie ihrem Team auch den Selbstmordversuch ihrer paranoid-schizophrenen Schwester Conny (Pia Hierzegger). Selbst ihrer Chefin Elise (Mavie Hörbiger), mit der Lola ein Verhältnis hat, erzählt sie zunächst nichts davon. Zurecht, wie sich später zeigt, denn kaum hat sich Lola ihrer Partnerin gegenüber geöffnet, steht plötzlich die Beförderung auf dem Spiel. Oder bildet sich Lola diesen Zusammenhang nur ein? Und was ist mit den Anrufen ihrer Schwester, die doch angeblich in der Klinik gar nicht telefonieren darf? Verliert Lola nun selbst den Boden unter den Füßen?

© Juhani Zebra / Novotnyfilm

Dass sich Lola und Elise in einer Männer*welt bewähren müssen, in der sie immer wieder auf Grund ihres Geschlechts weniger ernst genommen oder sexuell belästigt werden, ist sicherlich als feministisches Ansinnen von Marie Kreutzers Spielfilm zu werten. Die Figurenzeichnungen der strauchelnden und im Grunde ihres Herzens einsamen Karrierefrau* und ihrer psychisch kranken Schwester sind es jedoch weniger.

Auf persönliche Umstände kann keine Rücksicht genommen werden – so die Devise, wenn Lola und ihre Kolleg_innen die Personalstruktur eines Unternehmens optimieren. Und mit eben jener Einstellung begegnen sich die Berater_innen auch selbst und untereinander. Ein knallhartes Business, in dem kein Raum für Emotionen bleibt und das letztlich – ähnlich wie die Psychiatrie – ein Gefängnis darstellt, in dem sich psychisch kranke Menschen versammeln. Denn auch Elise nimmt Psychopharmaka, nur eben nicht gegen Wahnvorstellungen, sondern zur Bewältigung des immensen Leistungsdrucks.

„Nur weil Du eine Kreditkarte hast und ich nicht, bin ich nicht weniger wert“, behauptet sich Conny gegenüber ihrer erfolgreichen Schwester und trifft damit den Nagel auf den Kopf. Die Triebfeder für Lolas Ehrgeiz, so legen die zahlreichen Referenzen auf ihre unglückliche Kindheit nahe, ist der Versuch sich und ihrem Leben einen Sinn und damit auch eine Daseinsberechtigung zu geben. Kann frau nur nach Karriere streben, um eine innere Leere zu füllen statt aus purer Freude an der Tätigkeit selbst?

© Juhani Zebra / Novotnyfilm

Grundsätzlich ist an der Charakterzeichnung des Karrieremenschen ja erst einmal nichts auszusetzen und es ist auch nicht ganz fair, von Lola auf alle Karrierefrauen* dieser Welt zu schließen. Zumindest ist dies ganz klar nicht Marie Kreutzers Ansinnen, der es nach eigener Aussage vor allem darum ging, einen Blick in die Berufswelt junger Unternehmensberater_innen zu werfen. Vor dem Hintergrund aber, dass beruflich erfolgreiche Frauen* im Kino – wenn überhaupt vorhanden – gerne als schlechte Mütter, verbitterte Dauersingles oder ähnlich problembeladene Figuren auftreten, fügt sich Lola leider in ein etabliertes Klischee. Die Probe aufs Exempel ist schnell durchgeführt: Würden wir eine solche Geschichte auch über einen Mann* erzählen? Nein, denn dass dieser seine Familie für den beruflichen Erfolg vernachlässigt, liegt als Versorger vermeintlich in seiner Natur. Zudem bräuchte sein krankhafter Ehrgeiz keine Erklärung durch ein Kindheitstrauma.

Aber Der Boden unter den Füßen hat noch ein an anderes, viel gravierenderes Problem als die feministische Angriffsfläche. Während Marie Kreutzer ihren Film mit einem Schreckmoment und düsterer Musikuntermalung beginnt und damit ein langsam heranrollendes Unheil ankündigt, geht diese Spannungsdramaturgie im Laufe der Handlung verloren. Schade, denn die Passagen, in denen Kreutzer mit ihrer Nähe zur Hauptfigur das Publikum mitten hinein in Lolas psychische Verunsicherung zieht, sind fesselnd und verstörend, lassen einen Psychothriller mit überraschenden Twists vermuten. Doch dieses Versprechen wird nicht eingelöst. Die Regisseurin kann die Intensität ihrer Inszenierung nicht über die Laufzeit ihres Films aufrechterhalten. Das Rätsel um die Anrufe und Briefe, die Lola vermeintlich von ihrer Schwester erhält, wird niemals aufgelöst, die Andeutung einer eigenen Psychose verläuft im Sand. Was ein Psychothriller hätte werden können, bleibt schließlich doch in erster Linie ein Drama.

© Juhani Zebra / Novotnyfilm

Und so ist am Ende auch die Stoßrichtung der Erzählung unklar. Worum geht es denn in Der Boden unter den Füßen wirklich? Es bleibt vor allem der Blick auf Lola als ehrgeizige Business-Frau* kurz vor dem Burnout, die von ihrem eigenen schlechten Gewissen verfolgt wird – getarnt als Anrufe und Briefe ihrer psychisch kranken Schwester. Es ist die Vermischung dieser beiden Themen, mit denen sich Marie Kreutzer selbst ein Bein stellt. Die Verbindung zwischen dem erbarmungslosen Berufsalltag der Unternehmungsberatung und dem Krankheitsbild der paranoiden Schizophrenie mag nicht recht aufgehen und schwächt zudem die als emanzipierte und im positiven Sinne ehrgeizig angelegte Hauptfigur beträchtlich. Nicht mehr der Mikrokosmos Unternehmensberatung mit seinen unmenschlichen Naturgesetzen steht nun im Fokus, sondern das Psychogramm einer von Beruf und Privatleben überforderten Frau*. Und das wiederum haben wir schon viel zu oft gesehen.

Kinostart: 16. Mai 2019

Sophie Charlotte Rieger
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