Berlinale 2019: 37 Seconds

Sich von den eigenen Eltern zu emanzipieren, ist für die meisten Menschen ein aufwendiges Unterfangen. Für die Manga-Zeichnerin Yuma, die Heldin des japanischen Films 37 Seconds, gestaltet sich diese Abnabelung deshalb besonders schwierig, weil sie auf Grund ihrer Zerebralparese zu ihrer alleinerziehenden Mutter in einem komplexen Abhängigkeitsverhältnis steht – komplex deshalb, weil nicht ganz klar ist, wer hier wen eigentlich dringender braucht. Als Yuma immer entschiedenere Schritte in die Unabhängigkeit unternimmt, eskaliert die häusliche Situation.

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Regisseurin Hikari erzählt diese Geschichte durchgehend aus Yumas Perspektive, zeigt ihren Alltag als Frau* mit einer körperlichen Behinderung, Herausforderungen, Ärgernisse und Glücksmomente und verleiht damit nicht-behinderten Menschen einen Einblick in diese Lebenswelt. Dabei ist die größte Überraschung wohl jene, dass diese Welt gar nicht so fremd ist wie gedacht. Im Grunde ist die Heldin mit denselben Problemen konfrontiert wie alle jungen Erwachsenen: Sie sucht ihren Platz im Leben, ein gesundes Verhältnis zu ihrer Mutter, eine berufliche Zukunft und auch eine gesunde Sexualität. Es ist dieses letzte Thema, das den größten Tabubruch darstellt – sowohl innerhalb der Handlung, denn der Fund eines Dildos lässt Yumas Mutter endgültig die Fassung verlieren, als auch auf einer Metaebene. Die Inszenierung behinderter Personen und Körper als sexuelle Subjekte oder auch Objekte ist im Spielfilm immer noch eine Seltenheit.

Umso bedauerlicher ist es, dass dieser Erzählstrang in den Ansätzen stecken bleibt. Hikari amüsiert uns mit einigen haarsträubenden Dating-Erlebnissen, mit denen sich wohl jede_r Tinder-Nutzer_in – ob mit oder ohne Behinderung – umgehend identifizieren kann. Die Regisseurin zeigt außerdem Sexarbeit als legitime Option körperlicher Intimität, verweigert hier ihrer Heldin jedoch leider ein befriedigendes Erlebnis. Und als wäre es damit getan, verschwindet der Erzählstrang von Yumas Sexualität schließlich auf Nimmerwiedersehen. Auch eine Liebesgeschichte bleibt ihr verwehrt.

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Grundsätzlich neigen romantische Nebenhandlungen in Geschichten von Emanzipation und Empowerment dazu, den Fokus von der Persönlichkeitsentwicklung weg und hin zur heteronormativen Paarung nach dem Märchenprinzip zu verschieben: Und dann lebten sie glücklich bis an ihr Lebensende. Im Falle von 37 Seconds jedoch gelten insofern andere Maßstände, als dass Hikari die Möglichkeit verschenkt, das Bild von Behinderung im Film durch neue Facetten zu erweitern – zumal Yumas Begegnung mit dem ebenso sympathischen wie attraktiven Toshi die perfekte Steilvorlage für eine Love Story bietet. Dieser spezifischen Figur eine Liebes- und/oder Sexgeschichte zu schenken, wäre im Kontext der heutigen Kinokultur in sich bereits ein emanzipatorischer Akt gewesen.

Statt die sexuelle Ermächtigung der Heldin weiterzuverfolgen, verstrickt sich Hikari zunehmend in einem Familiendrama, das in seiner Fülle an tragischen Wendungen schließlich an einen deutschen Fernsehfilm erinnert. Es sind einfach zu viele Themen, die sich die Filmemacherin hier vornimmt, um ihnen wirklich gerecht zu werden. So wirkt 37 Seconds insbesondere im dritten Akt bedauerlich konstruiert.

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Erstaunlicher Weise bleibt die Geschichte trotzdem fesselnd. Das ist vor allem dem überzeugenden Spiel von Hauptdarstellerin Mei Kayama zu verdanken, das große Nähe zu ihrer Leinwandfigur ermöglicht. Für diesen Part eine Schauspielerin mit Körperbehinderung zu besetzen, ist übrigens leider auch im Jahr 2019 noch kein Regelfall und somit eine Erwähnung wert. Ebenso bemerkenswert gestaltet sich die Selbstverständlichkeit, mit der sowohl der Film wie auch viele seiner Figuren dem Thema Behinderung begegnen. So betrachten auch wir Zuschauende Yuma nicht als „Behinderte“, sondern als Frau*, mit der wir uns identifizieren können und die für uns ein emanzipatorisch wertvolles Vorbild darstellt.

Unterm Strich überzeugt 37 Seconds somit auf „pädagogischer“ Ebene deutlich mehr denn als auf der filmischen. Großes Kino ist das vielleicht nicht, aber dafür ein sehr sympathisches.

Screenings bei der Berlinale 2019

Sophie Charlotte Rieger
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