Aftersun – Charlotte Wells im Interview

In ihrem Debütfilm Aftersun erzählt die schottische Regisseurin Charlotte Wells von der elfjährigen Sophie (Frankie Corio) und ihrem Vater Callum (Paul Mescal). Mitte der 90er-Jahre machen die beiden Urlaub in einem türkischen Ferienort. Als Erwachsene erinnert sich Sophie an ein halb hinter Baugerüst verstecktes Hotel, ein winziges Zimmer und einen großen Pool. Sie erinnert sich an Callum, wie er in der Hotellobby Tai Chi übte. Sie erinnert sich an seine eingegipste Hand und wie er sie sicher im Arm hielt. Sie erinnert sich an seine bedingungslose Liebe und daran, dass ihn ab und zu eine merkwürdige Schwere umgab. In der Gegenwart versucht Sophie, sich ihrem Vater als Erwachsene zu nähern, ihn durch den Nebel ihrer Kindheitserinnerungen als Person zu sehen, sucht ihn in Urlaubsvideos und auf Schnappschüssen, doch er entzieht sich ihrem Blick.

Regisseurin Charlotte Wells und das Aftersun-Filmplakat © Paula Woods / MUBI

Charlotte Wells © MUBI / Sarah Makharine

Aftersun ist berührend, aufwühlend, schön – und zeigt einen Vater, der behutsam und weich mit seiner Tochter umgeht – jenseits von gegenderten Elternrollen. In einem Medium, das besessen ist von emotional erstarrten Männern, von abwesenden, kalten und strengen Vätern, ist Aftersun eine kleine Revolution.

Im Interview mit Filmlöwin erzählt Charlotte Wells von Tochter-Vater-Beziehungen, dem Wunsch, Figuren zu schreiben, die so komplex und intuitiv handeln wie echte Menschen und dem Drang, Filme zu drehen, die ausdrücken, was Worte und Bilder allein nicht können.___STEADY_PAYWALL___

Aftersun Film Still: Callum und Sophie in der Hotellobby © MUBI / Sarah Makharine

© MUBI / Sarah Makharine

Du hast Aftersun als ‘emotional autobiografisch’ beschrieben. Was bedeutet das für dich?

Der Begriff erfolgt mich ein bisschen… Ich dachte mir, ich könne damit die Frage, ob der Film autobiografisch sei, vermeiden, aber es hatte genau den gegenteiligen Effekt. Weil der Film sich wie eine Erinnerung anfühlt, nehmen die Leute, die ihn sehen, an, es sei meine Erinnerung – was es aber nicht ist. Ich kann gut nachvollziehen, dass Zuschauer:innen den Film mit der Person in Verbindung bringen wollen, die ihn gemacht hat. Aber als Autorin habe ich eine ganz andere Beziehung dazu. Der Film ist nicht meine Erinnerung – ich war nie in diesem Urlaub, den Callum und Sophie machen – aber die Beziehung zu meinem Vater ist die Grundlage für diese fiktive Geschichte.

Als Zuschauerin kann ich diesen Impuls, den Film mit der Person in Verbindung bringen zu wollen, die ihn gemacht hat, sehr gut nachvollziehen.

„Callum ist ein guter Vater, das ist das, was er im Leben am besten kann”

Der Begriff ‚emotional autobiografisch‘ bedeutet ja nicht unbedingt, dass das, was im Film passiert, dir passiert ist, sondern dass du den Prozess des Erinnerns, das Gefühl, sich zu Erinnern festhältst.

Genau. Das Gefühl im Film ist meins, es ist ein ehrlicher Ausdruck von Gefühlen, die ich habe, und darauf wollte ich mit dem Begriff hinaus.

Es gibt viele Filme über Väter und Töchter, aber nur sehr wenige davon werden aus der Perspektive der Tochter erzählt. War das etwas, woran Du beim Schreiben des Drehbuchs gedacht hast, wolltest Du einen Film über eine Vater-Tochter-Beziehung aus weiblicher Perspektive erzählen?

Ich hatte vor allem diese Art der Beziehung zwischen einem Vater und einer Tochter noch nicht gesehen. Also eine Beziehung, die zumindest im gegenwärtigen Moment positiv ist. Callum ist ein guter Vater, das ist das, was er im Leben am besten kann – alles andere scheint ein Fiasko zu sein. Wenn ich den Film in einen größeren Zusammenhang einordnen würde, dann eher aus diesem Blickwinkel.

Aftersun Film Still: Callum und Sophie entspannen im Hotel. Im Hintergrund pinker Rhododendron © MUBI / Sarah Makharine

© MUBI / Sarah Makharine

Anfangs wollte ich die Geschichte zwischen beiden Charakteren ausgeglichen erzählen. Im Laufe des Schreibens begann ich dann, die Erzählperspektive auf Sophie einzuschränken, die sich als Erwachsene an diesen Urlaub erinnert. Das bot einfach eine nuanciertere und sinnlichere Erkundung dieses Übergangs zwischen Kindheit und Jugend, an dem Sophie mit elf Jahren steht.

Als Erwachsene erkennen wir oft, dass unsere Eltern auch nur Menschen sind. Gleichzeitig ist es recht schwer, ihnen als Mensch und nicht nur als Elternteil zu begegnen. Für Sophie ist das noch schwieriger, weil Callum in der Gegenwart nicht mehr da zu sein scheint.

Ich denke, es ist unmöglich, seinen Eltern als Menschen zu begegnen. Je besser sie die Elternrolle ausgefüllt haben, desto unmöglicher ist das. Die Eltern als Menschen zu sehen hängt ja oft damit zusammen, dass sie einen irgendwie enttäuschen. Ich glaube, es ist unmöglich, sie komplett loszulösen von der Rolle, die sie im eigenen Leben spielen. Das bedeutet, dass diese Rolle in gewisser Weise immer an erster Stelle steht oder zumindest die Art und Weise prägt, in der wir sie als Menschen wahrnehmen.

„Man muss nicht immer körperlich anwesend sein, es geht eher darum, emotional präsent zu sein”

Callum geht sehr zärtlich und liebevoll mit Sophie um. Das sehe ich nur selten in Filmen. Dort sind Väter normalerweise abwesend oder emotional unzugänglich. Es war seltsam bewegend, einen Vater so dargestellt zu sehen.

Der abwesende Vater ist definitiv der am häufigsten dargestellte. Ich schätze, dass Callum in mancherlei Hinsicht auch abwesend ist, zum Beispiel lebt er getrennt von Sophie. Wobei Abwesenheit nicht unbedingt bedeutet, physisch nicht da zu sein. Man muss nicht immer körperlich anwesend sein, es geht eher darum, emotional präsent zu sein.

Auf frühere Versionen des Films erhielt ich das Feedback, die Spannungen in der Beziehung von Callum und Sophie zu verstärken. Das zielte darauf ab, eine Geschichte über einen abwesenden Vater zu erzählen, der im Laufe des Films präsenter wird. Mir wurde dann aber klar, dass ich genau das Gegenteil wollte. Also habe ich die ganze Anspannung aus der Beziehung herausgenommen. Es gibt zwar Spannungsmomente wie in der Karaokeszene, aber das hält sich im Rahmen des Normalen. Diese Momente wollte ich nicht übermäßig dramatisieren.

Sophie und Callum auf einem Boot, Sophie schaut aufs Wasser © MUBI / Sarah Makharine

© MUBI / Sarah Makharine

Im Drehbuch gibt es ganz am Anfang, als die beiden mit dem Bus vom Flughafen zum Hotel fahren, eine Zeile, die beschreibt, wie sein eingegipster Arm auf ihr ruht: ‚mit müheloser Innigkeit‘. Und von der ersten Einstellung an sollte ihre Beziehung genau so rüberkommen.

Callum ist kein perfekter Vater – das ist niemand, es gibt keine perfekten Eltern. Aber wenn wir in Büchern, Filmen oder im Fernsehen über Elternschaft sprechen, ist das oft moralisch aufgeladen. Wir sprechen von richtig und falsch – Aftersun tut das nicht.

Ich bin nicht nur beim Thema Elternschaft, sondern auch wenn es um Charaktere im Allgemeinen geht, immer daran interessiert, Figuren zu schreiben, die kompliziert und widersprüchlich sind – so wie alle Menschen. Aber das ist schwierig, weil Figuren meist in eine ganz bestimmten Form gepresst werden, mit ganz bestimmten Abgrenzungen und Moralvorstellungen, denen Menschen nicht wirklich entsprechen.

„ …die meisten von uns handeln nach Gefühl, ohne unbedingt ein tiefes intellektuelles Verständnis unserer Beweggründe zu haben”

Menschen sind ja viel mehr als das. Sie werden durch Normen und Regeln beschränkt, aber sie sind mehr als das…

…und sie versuchen ständig, aus diesen Normen auszubrechen, auch auf Wegen, die sie vielleicht selbst nicht ganz verstehen. Das ist etwas, das Paul Mescal, der Callum spielt, angesprochen hat. Wir beide brauchten ein klares Verständnis von Callum, auch wenn auf der Leinwand nicht immer klar erkennbar ist, was genau mit ihm nicht stimmt. Und Paul sagte, dass Callum selbst nicht wirklich weiß oder versteht, was los ist. Das hat mir sehr gefallen, denn die meisten von uns handeln nach Gefühl, ohne unbedingt ein tiefes intellektuelles Verständnis unserer Beweggründe zu haben. Aber wenn wir Filme schauen, sind wir daran gewöhnt und erwarten, dieses tiefe intellektuelle Verständnis von allen Dingen haben zu können.

Aftersun Film Still: Callum umgeben von Teppichen, klein im Hintergrund © MUBI / Sarah Makharine

© MUBI / Sarah Makharine

Paul Mescal und Frankie Corio, die die junge Sophie spielt, sind großartig. Es fühlt sich wirklich an, als würden wir zwei Menschen im Urlaub begleiten. Wie hast du dich auf den Dreh mit ihnen vorbereitet und wie sah der Prozess am Set aus?

Am Set war es meine Aufgabe, ein Umfeld zu schaffen, in dem Frankie sich wohlfühlen und Spaß haben konnte, um ihr volles schauspielerisches Potenzial zu entfalten. Deshalb haben Paul und ich uns vorher viel per Telefon ausgetauscht.

Bevor wir mit den Dreharbeiten begannen, hatten wir zwei Wochen Zeit eingeplant und ich hatte die utopische Vorstellung, diese zwei Wochen mit Frankie und Paul zu arbeiten. Aber während dieser Zeit war ich fast den ganzen Tag mit dem Aussuchen und Vorbereiten der Filmlocations beschäftigt. Wir hatten lediglich morgens eineinhalb Stunden, während derer wir ein bisschen an einzelnen Szenen gearbeitet haben.

Aftersun Film Still: Callum und Sophie üben Tai Chi © MUBI / Sarah Makharine

© MUBI / Sarah Makharine

Den Rest der Zeit haben Frankie und Paul zusammen verbracht. Sie haben im Grunde zwei Wochen lang zusammen Urlaub gemacht. Paul wurde wirklich zu einem Teil von Frankies Familie, sie gingen alle gemeinsam zum Strand, sie spielten am Pool – sie hatten Spaß und lernten sich kennen. Während des Drehs hatten sie dann weitere sechs Wochen Zeit, sich kennenzulernen. Als wir schließlich die Aufnahme im Bus drehten, wo sein Arm mühelos auf ihr ruht, war es einer der letzten drei Drehtage und das war wichtig, denn wir hätten die Szene nicht am ersten Tag drehen können.

„Die Arbeit mit der Kamera, … ist für mich der kreativste Teil des Filmprozesses”

Auch die Kameraführung und die Bilder sind fantastisch. Viele Einstellungen sind ziemlich bewegend, einfach durch die Art, wie sie aufgenommen und gestaltet sind. Wie sah die Zusammenarbeit mit Kameramann Gregory Oke aus?

Greg und ich sind zusammen auf die Filmschule gegangen, wir kennen uns schon sehr lange und verstehen uns sehr gut als Menschen und als Filmschaffende. Wir teilen einen ähnlichen, aber nicht den exakt gleichen Geschmack und haben teilweise ganz unterschiedliche Instinkte – das ergänzt sich sehr gut. Greg war die erste Person, der ich das Drehbuch gezeigt habe. Er war also schon sehr früh involviert und wir haben gemeinsam ein Verständnis für die visuelle Landschaft des Films entwickelt.

Frankie im Hotelzimmer © MUBI / Sarah Makharine

© MUBI / Sarah Makharine

Die Erzählperspektive ist stets eine große Herausforderung. Der Camcorder, mit dem Sophie und Callum ihren Urlaub filmen, ist ein Werkzeug, um dieser Herausforderung zu begegnen. Greg fasste unsere gemeinsamen Überlegungen schließlich so zusammen, dass die erwachsene Sophie eine übergreifende, aber nicht absolute Perspektive darstellt. Darunter gibt es die allwissende Erzählperspektive des Films. Außerdem gibt es Szenen aus dem Blickwinkel von Sophie als Kind, die aus großer Nähe aufgenommen und fast bruchstückhaft sind, so als wären es Bilder, die die Grundlage für Sophies Erinnerungen bilden. Und schließlich gibt es Aufnahmen von Callum allein, die Greg stets mit mehr Abstand zur Kamera gefilmt hat. Oft ist die Sicht auf Callum hier versperrt und er entzieht sich unserem Blick. Die Arbeit mit der Kamera, die Arbeit mit Greg ist für mich der kreativste Teil des Filmprozesses, ich freue mich, dass das im fertigen Film rüberkommt.

Frankie und Callum liegen vor dem Pool auf dem Rücken © MUBI / Sarah Makharine

© MUBI / Sarah Makharine

Du hast das Filmemachen als eine Möglichkeit beschrieben, das auszudrücken, was du nicht in Worten oder in Bildern ausdrücken kannst. Bist du daran interessiert, das auch in anderen Projekten fortzuführen?

Ich glaube, es ist eher ein Drang oder eine Notwendigkeit als ein Interesse. Der Ausgangspunkt für meine Filme ist immer, dass ich etwas sagen möchte. Ich bin selbst gespannt, wie es sich weiter entwickeln wird, aber ich möchte keine Filme nur um des Filmemachens willen machen. Solange ich meine Miete irgendwie bezahlen kann, möchte ich Filme machen, weil ich eine Meinung habe oder etwas ausdrücken möchte. Ich glaube, für etwas anderes könnte ich das nicht tun.

Kinostart: 15.12.2022

Theresa Rodewald