An einem schönen Morgen: Mia Hansen-Løves verletzliches Lied

Ein Mensch stirbt, ein Kind wird überfahren, ein Abendessen wird serviert, eine Familie löscht sich aus, Mama liest in einem Buch, während Papa die Milch überkochen lässt. Keine dieser Szenen lassen sich in Mia Hansen-Løves in Cannes prämiertem Film An einem schönen Morgen finden, jedoch macht die Regisseurin frühestens seit Le Père de mes enfants (2009) es zur Gewohnheit, das Alltägliche und das kaum Überwältigende sorgfältig zu verbinden, ja sie so sehr zu integrieren, dass die Selbstverständlichkeit, mit der das Geschehene stattfindet, plump aussehen mag -nicht aber in Hansen-Løves Welt. Geführt von der verletzlichen und sentimentalen schauspielerischen Leistung von Lea Seydoux als Sandra ist An einem schönen Morgen eine offenherzige Familiengeschichte, die auf zwei Ebenen geführt wird. Sandra als eine alleinerziehende Mutter und Frau, deren Bedürfnisse sie zu einer unkonventionellen, aber sehr für französische Filme typischen Situation bringt und Sandra als Tochter und Familienmitglied, bedrückt von der  Verantwortung gegenüber ihrem an einer neurodegenerativen Krankheit leidenden Vater.

© Les Films Pelléas

Gemeinheit ist bekanntlich das Arbeitsmittel einer Generation Arthaus-Regisseure (bewusst nicht gegendert), die ihre Protagonist:innen durch Leid und Trauern zu bringen für angebracht halten: Im Namen der Kunst werden, so klischeehaft es klingen mag, Figuren und Körper bestrafen. Die Grausamkeit ist der Punkt; Leiden sieht künstlerisch aus. Jenes mittlerweile veraltete Verfahren, das einmal unter dem legitimierenden Namen “transgressivdurch Filmtheorie-Bücher kursierte, darf ruhig die Zombie-Gehirne des Festivalbetriebs immer noch imponieren, ja sie vor der zum Spektakel gewordenen Not zur Ekstase zu bringen, wird aber prächtig durch andere Ansätze entgegengewirkt, die sowohl auf das Elend als auch auf das Glück fokussieren, die beide zusammenhalten.___STEADY_PAYWALL___

Gehörend zu diesem Kreis ist Hansen-Løves sorgfältige Herangehensweise. Die Liebe und die Aufsicht auf den Tod prallen aufeinander, nicht zum ersten oder letzten Mal in der filmischen Welt. Doch die wahre Herausforderung, die einzige, die zählt, ist: inwiefern lässt sich das ganze variieren, welche Stilmittel dabei behilflich sein können, sogar die klischeehaftesten Elementen zu vermischen, dass sie nie wieder erkennbar werden? Hansen-Løves Antwort mag doch vereinfacht scheinen, entpuppt sich aber als ihre wahrste Willenserklärung: vertrauen auf die Schauspieler:innen, vertrauen auf das Drehbuch. Stilmittel gibt es in großen Mengen, was am Ende zählt ist, wo und wann sie eingesetzt werden können, so dass die Filmthese sich ausdrücken lässt.

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Das passendste Wort, um die Verfahrensweise einer Regisseurin zu beschreiben, die sich den kleineren Dramen des Alltäglichen gewidmet hat, wäre zärtlich, wenn das nicht reduzierend klänge, oder vielleicht verwundbar wie die versierteste Forscherin über Hansen-Løve, Kate Ince, hinweist. Doch was strahlt aus den alltäglichen Aufnahmen des französischen Lebens einer anders konfigurierten Familie ist der Mangel an Überheblichkeit von Protzigkeit, dass die Regisseurin in ihre Kompositionen einfließt. Die meiste Zeit wird mit einer statischen Einstellung verbracht, die durch Sandra (Seydoux), ihr Liebhaber Clément (Melvil Poupaud), ihr Vater Georg (Pascal Greggory, bekannt durch seine Rolle in den Filmen von Erich Rohmer) und ihre Tochter Linn (Camille Leban Martins) beseelt wird, dabei spielt die verwunderliche französische Sonne eine Hauptrolle strahlend auf die Gesichter der Figuren (Denis Lenoirs Kinematographie); je mehr die Kamera statisch bleibt, desto mehr lassen sich die kleinere Bewegungen bemerken, die Augenblicke der Großzügigkeit, die die Regisseurin ihren Figuren verleiht, erweisen sich als ausreichend, um ihre Emotionen zu verwickeln, ja sie in ihrem Ausmaß zu verstehen. Georg, Sandras kranker Vater und Philosophieprofessor, zeichnet sich angesichts seiner Kondition als Aphorismengeber aus, er verändert sich nicht so sehr, sondern die Dinge um ihn herum verändern sich. Sandras Aufgabe ist es, sich um ihn zu kümmern, und sowohl auf der filmischen als auch auf der Meta-Ebene ist sie bestrebt, ihm Raum zu geben, auch wenn sie ihn letztendlich verlassen muss.

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Es ist deswegen angemessen, dass es die kleinsten Offenbarungen ist, die dem Film  Form gibt. Hansen-Løve hat sich seit langem in dieser Gestenform spezialisiert, hier zeigt sie sich jedoch beredter, fähiger und zuversichtlicher als je zuvor, Ihr Mangel an explosiven oder offensichtlich dramatischen Momenten zeigt eine Regisseurin, die Vertrauen in die Kraft ihres Handwerks gefasst hat – sowohl ihre Filmarbeit als auch ihre Schauspieler:innen verhalten sich unauffällig, bis sie es nicht mehr sind. Aufgrund dessen sollte es keine Überraschung sein, dass Hansen-Løve auf der von vielen Filmemachern begehrten Stufe angekommen ist, auf der alle ihre Filme sehenswert sind und deren nächste Filme mit Spannung erwartet werden. Ihr Autorenstil ist zwar von vielen beeinflusst, die sich mit den Tugenden und Ablenkungen der Liebe und ihrer Entfaltung im Kontext der Familie beschäftigt haben, dennoch singt sie ein behutsames Lied, das eindeutig ihr eigenes ist. An einem schönen Tag bestätigt ihren Song erneut als einen der melodischsten des Jahres.

Giancarlo M. Sandoval
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