Petite Maman – Als wir Kinder waren

Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern ist von großer Nähe und doch von einer nicht zu überbrückenden Distanz geprägt, die sich aus dem natürlich gegebenen und nicht zu leugnenden Altersunterschied ergibt. Immerhin liegt grundsätzlich eine ganze Generation zwischen den Parteien. Dies anzuerkennen ist mit großem Schmerz verbunden, nämlich der Erkenntnis, dass wir eben aller Sehnsucht nach Symbiose zum Trotz getrennte Entitäten sind. Mama und ich sind nicht eins. Oder auch: Mein Kind ist ein eigener Mensch. Um nicht weniger als diese besondere Form des Abschieds, aber auch des sich neu Begegnens dreht sich Céline Sciammas neuer Film Petite Maman.

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Nelly (Joséphine Sanz) ist acht Jahre alt, als ihre Großmutter im Altenheim verstirbt. Gemeinsam mit Mutter Marion (Nina Meurisse) und dem Vater (Stéphane Varupenne) fährt sie zu Omas Haus, den Ort, an dem Mama aufgewachsen ist. Während ihre Mutter auf Grund von Trauer oder auch Depressionen zunächst geistig, dann auch physisch abwesend ist, verbringt Nelly Zeit im angrenzenden Wald, wo sie schließlich ein gleichaltriges Mädchen kennenlernt: Marion (Gabrielle Sanz), ihre Mutter.

Nelly liegt auf dem Bett. Davor kniet ihre Mutter und blättert in einem Heft.

© Alamode

Mit Hilfe dieser magischen Zeitreise in die Vergangenheit, findet Nelly jene Verbindung zur Mutter, die sie in der Gegenwart vergeblich gesucht hat. Alles beginnt mit dem Durchstöbern alter Bücher und Schulhefte und der Erkenntnis, dass auch Marion, wie Nelly, einmal ein kleines Mädchen gewesen ist. Und ihre gemeinsame Reise gipfelt in dem wohl zärtlichsten Mutter-Tochter-Dialog, den das Kino jemals gesehen hat, wenn Nelly und Marion kuschelnd im Bett liegen und mit kindlichem Wunderglauben ihre Beziehung verhandeln. „Ich denke jetzt schon an Dich“, ist Marions berührendes Liebesbekenntnis an ihre (zukünftige) Tochter.

Das Erstaunliche an dieser fantastischen Geschichte über eine magische Zeitreise ist, dass sie gar nicht erstaunlich, magisch und fantastisch ist. Céline Sciamma erzählt mit immenser Ruhe, wenig Musikuntermalung und Dialogen und einem reduzierten Setting mit großer Natürlichkeit von unglaublichen und doch so greifbaren Ereignissen. Vielleicht fängt sie genau damit den kindlichen Hang zur Fantasie ein, der sich eben nicht in bonbonbunten Zauberwelten manifestiert, sondern in der Selbstverständlichkeit dessen, was uns Erwachsenen unmöglich erscheint. Und gerade damit gelingt es der Regisseurin, uns Zuschauer:innen auf Nellys Reise mitzunehmen, ohne sie jemals in Frage zu stellen.

Eine kleine Hütte aus Ästen in einem Wald. Davor stehen zwei gleich große Mädchen, die uns den Rücken zudrehen und sich umarmen.

© Alamode

Mit nur fünf Darsteller:innen ist der Cast ebenso klein gehalten wie der Spielort, der sich auf das Haus von Nellys Großmutter – mal auf der einen, mal der anderen Zeitebene – und den umliegenden Wald beschränkt. Auch das Haus selbst ist spärlich eingerichtet, so dass wir uns ganz auf die Figuren konzentrieren können, ohne von Requisiten abgelenkt zu werden. Sciamma vertraut ihrem Publikum außerdem, dass es die wiederholten Zeitsprünge ohne entsprechende visuelle Effekte versteht und mitgeht. Während sie einerseits ganz auf naturalistischen Stil baut, erscheinen die Aufstellung der Figuren sowie die Bildgestaltung stets als eben jenes: eine Aufstellung, der eine subtile Künstlichkeit anhaftet, die unablässig auf das fantastische, also fiktive Moment des Werks verweist, ohne jedoch in eine Ferne, unwirkliche Welt zu entführen.

Petite Maman ist ein immens kleiner Film, der von großen Themen erzählt. Vom Tod und vom Leben, vom Abschiednehmen, von Generationenkonflikten, der Suche nach Nähe, aber auch Distanz, von Abgrenzung und Schmerz, Annäherung und Liebe. All diese kleinen Puzzlesteinchen setzen sich schließlich zu einem großen Mosaik zusammen, das am besten mit „Mutterschaft“ oder auch „Elternschaft“ zu benennen ist, wobei der Fokus durch den mehrheitlich weiblichen Cast klar auf (Groß)Müttern und Töchtern liegt.

Nelly und Marion im Alter von 8 Jahren - zwei blonde Mädchen mit langen lockigen Haaren, die sich zum Verwechseln ähnlich sehen. Eine von ihnen trägt eine blaue, die andere eine rote Jacke.

© Alamode

Céline Sciammas Film zeigt, dass eine vermeintlich überaus private Geschichte, weltumspannend sein kann. Dass es weder eine prätentiöse Inszenierung, künstlerische Experimente oder flimmernd-bunte Schauwerte braucht, um Faszination zu erzeugen. Dass es gerade der unverstellte Blick auf das Alltägliche ist, der uns berührt. Und dass auch kleine Filme wie Pétite Maman großes Kino sein können.

Kinostart: 17. März 2022

Sophie Charlotte Rieger
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