Pelikanblut
Eine Pferdeflüsterin mit Cowboyhut (Nina Hoss) lebt mit ihrer Adoptivtochter auf einem Reiterhof und bildet die Kavallerie der Polizei aus. Dabei legt sie ein besonders hohes Maß an Geduld an den Tag, mit dem sie in der Lage ist, auch den bockigsten Vierbeiner zu zähmen. Wiebke, so heißt die Heldin von Pelikanblut, glaubt nämlich an das Gute in Tier und Mensch, das im Zweifelsfall nur durch das richtige Maß an Liebe und Zuneigung zum Vorschein gebracht werden muss. Doch als sie in Bulgarien die kleine Raya (Katerina Lipovska) adoptiert, wird die nun doppelt alleinerziehende Wiebke in eben jenem Glauben an das Gute gehörig auf die Probe gestellt. Denn das ach so niedliche kleine blonde Mädchen entpuppt sich – im wahrsten Sinne des Wortes – als Nachwuchspsychopatin. Im Kampf um die verlorene Kinderseele greift Wiebke schließlich zu immer krasseren Mitteln, mit denen sie nicht nur sich selbst in Gefahr bringt.
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Auch wenn die ersten Bilder des Reiterhofs in der ländlichen Idylle überaus freundlich daherkommen, lässt Regisseurin Katrin Gebbe über ihrer Geschichte von Anfang an ein drohendes Unheil schweben. Insbesondere die Filmmusik mischt in die zuweilen fast kitschigen Momente der Kleinfamilie immer auch eine Portion düstere Vorahnung hinein. Sounddesign und Montage schließlich lassen diese Erwartungshaltung dann Wirklichkeit werden, wenn sich die Grenzen zwischen psychotischem und dämonischem Kind sukzessive auflösen. Verstärkte Atem- und Umweltgeräusche und kleine Jump Scares sorgen schließlich je nach Nervenkostüm für Beklemmung oder gar Grusel.
Trotzdem ist Pelikanblut kein klassischer Thriller oder Horrorfilm, allerdings ebenso wenig ein Drama, sondern am ehesten eine mutige Vermischung aller drei Genres. Dazu kommt eine Prise Western, die jedoch vornehmlich in Kulisse, Kostüm und englischen Fachtermini der Pferdeflüsterei angesiedelt ist und durch den Bruch mit der groben geographischen Verortung der Handlung in Deutschland einen latent surrealen Spielort kreiert. Leider geht dieser subtile Bruch zuweilen in unfreiwillige Komik über, wenn in Wiebkes Haus dann auch noch Country-Musik dudelt.
Auch in Hinblick auf den Parallelismus, den Katrin Gebbe zwischen Tieren und Kindern konstruiert, wäre weniger mehr gewesen. So entwickelt das diffuse Ineinanderfließen von Pferde-Wiehern und Wut-Geschrei beispielsweise deutlich mehr Kraft als die auf der Plotebene mit dem Holzhammer verabreichte Parallele zwischen dem bockenden Pferd „Top Gun“ und der kleinen Raya. Das fügt sich auf traurige Weise in die Tradition des deutschen (Über)Erklärkinos, das seinem Publikum chronisch zu wenig Eigenleistung zutraut, und raubt dem als bewusst ambivalent und rätselhaft angelegten Konzept seinen Charme.
Schade, denn Pelikanblut hat mehr zu erzählen als das eben erwähnte Erklärkino, in dessen Natur es liegt, sich selbst auf eine einzige Aussage zu reduzieren. Denn in Pelikanblut geht es nicht nur um die auf der narrativen Ebene erörterte Frage, wie ein eskalierendes Kind unter Kontrolle zu bringen sei, sondern im Subtext vor allem um einen umstrittenen Aspekt des Themas Mutterschaft. Im Gegensatz zu dem Film Systemsprenger, der seine Geschichte aus der Perspektive des zornigen Kindes erzählt, nimmt Pelikanblut durchgängig Wiebkes Blickwinkel ein und formuliert damit die Frage, wie weit die Opferbereitschaft eine Mutter zum Wohl ihrer Kinder gehen sollte. Dass es sich bei Raya um ein Adoptivkind handelt, nimmt dabei den Schuldaspekt aus der Gleichung, denn die Kindheitstraumata, die das kleine Mädchen aus der Fassung bringen, haben ihre Wurzel in einer anderen Familienkonstellation. Wie weit also soll Wiebke gehen? Kann sie Raya in eine stationäre Behandlung geben, wenn sie dem ehemaligen Heimkind doch versprochen hat, es niemals im Stich zu lassen?! Wie viele Opfer muss Wiebke bringen, um dieses Versprechen zu halten, um eine gute, eine „echte“ Mutter zu sein?
So spannend diese Frage in Verbindung mit der sich steigernden Bedrohung auch sein mag, so enttäuschend fällt zumindest aus feministischer Sicht die Antwort aus, die uns Pelikanblut schließlich nahelegt. Das Ende ist zwar offen genug, um verschiedene Deutungen zuzulassen, doch lässt das Drehbuch von Katrin Gebbe ein spürbares Misstrauen gegenüber dem medizinisch-psychiatrischen System durchblicken, das in Anbetracht der Gefahr für Leib und Leben – nicht nur für Wiebke, sondern auch ihre erste Adoptivtochter Niko – ein wenig unangemessen scheint.
Pelikanblut hat reichlich Ecken und Kanten, auf inhaltlicher wie auch konzeptioneller Ebene. Mit Blick auf Katrin Gebbes ersten, ebenfalls recht unangepassten Film Tore Tanzt hat dies jedoch vermutlich System. Denn wie in eben jenem findet sich auch in Pelikanblut eine sehr spezielle Wucht, die ihre Wurzel nun vor allem in der überragenden Inszenierung von Kinderdarstellerin Katerina Lipovska hat. Gebbe inszeniert die Kleine stetig oszillierend zwischen schutzbedürftig, psychotisch und dämonisch als weit mehr denn nur als „anstrengendes“ Kind. Lipovska ist wahrhaft furchteinflößend und verstört damit nicht nur ihre Adoptivmutter Wiebke, sondern auch das Kinopublikum. Wieder einmal also begibt sich Katrin Gebbe auf die Suche nach dem Bösen im Menschen. Und das geht vermutlich einfach nicht mit einem aalglatten und gefälligen Genre-Film. Dazu braucht es Ecken und Kanten, die pieksen und irritieren, vielleicht sogar nerven, aber eben vor allem im Gedächtnis bleiben.
Kinostart: 24. September 2020
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