Berlinale 2023: Notre Corps (Our Body)

Die Gynäkologie ist ein besonderer Bereich der Medizin, nämlich der einzige, in dem Leben entsteht. Es entsteht in künstlicher Befruchtung unter dem Mikroskop, mittels vaginaler Geburten oder Kaiserschnitt. Und es entsteht in gewisser Weise auch durch Transitionen, also hormonellen beziehungsweise chirurgischen Behandlungen zur Geschlechtsangleichung. Und gleichzeitig ist die Gynäkologie ein Bereich der Medizin, in dem Leben endet – in erster Linie durch Krebserkrankungen. An keinem anderen Ort eines Krankenhauses liegen Freude und Leid, Leben und Tod so nah beieinander. Oder anders gesagt: In keinem anderen Bereich eines Krankenhauses lässt sich das Leben von Anfang bis Ende beobachten.___STEADY_PAYWALL___

Ein neugeborenes Baby mit Mützchen liegt auf der nackten Brust seiner Mutter, die liebevoll zu ihm herab sieht.

© Madison Films

Diese Erkenntnis, angestoßen durch einen langen Krankenhausaufenthalt ihrer Produzentin Kristina Larsen, inspirierte Regisseurin Claire Simon dazu, den Alltag auf einer gynäkologischen Station filmisch zu begleiten. Der Titel ihres so entstandenen Dokumentarfilms, Notre Corps (Our Body), verweist dabei auf den Fokus ihrer Arbeit. Simon geht es um Körper, die einerseits vielfältig sind und gleichzeitig geeint durch eine medizinische Kategorie, die sich an diesem Ort, der Gynäkologie eines öffentlichen Krankenhauses in Paris, manifestiert. Bis die Filmemacherin dann plötzlich selbst vor der Kamera sitzt. Als Patientin. 

Eine runzlige Hand auf einer Decke, darauf eine glatte Hand in zärtlicher Berührung. Im Hintergrund unscharf ein Oberkörper im Nachthemd, am rechten Bildrand scharf ein Teil eines weißen Kittels.

© Madison Films

Claire Simon steigt in ihren Film mit einem kurzen Intro ein, das den Ausgangspunkt ihres filmischen Unterfangens im Voice Over darlegt. Darauf folgen fast drei Stunden Beobachtung von Gesprächen zwischen Patient:innen, Ärzt:innen, dem medizinischen und Pflegepersonal der Krankenhausstation, Untersuchungen, Operationen und Szenen im Labor. Die Montage von Luc Forveille folgt einer Chronologie, jedoch nicht der vom Leben bis zum Tod, sondern entlang des Alters der Protagonist:innen. Notre Corps (Our Body) beginnt mit dem Beratungsgespräch zum Schwangerschaftsabbruch einer 15 jährigen jungen Frau und endet mit der unheilbaren Krebserkrankung einer Patientin weit fortgeschrittenen Alters. Auf dem Weg zeigt Notre Corps (Our Body) Menschen in der Transition, Endometriose-Betroffene, die vielen Schritte einer künstlichen Befruchtung und natürlich Geburten. Die Perspektive ist beobachtend, niemals wertend, ohne Dramatisierung oder kalkulierte Rührung, und doch vermitteln die Bilder Respekt vor der Kraft der Körper, Mitgefühl für Leid und Trauer sowie Rührung und Faszination für das Wunder des Lebens. Die Kamera hält oft einen gleichbleibenden Abstand, ist aber dynamisch genug, um auch in Gesprächssituationen die Körper der Menschen im Bild abzutasten, Gestik, Mimik und nonverbale Kommunikation einzufangen. Die Bilder, die Claire Simon erschafft, sind gleichzeitig von großer Natürlichkeit und doch komponiert genug, um für sich selbst zu sprechen. Die Kamera wirkt niemals aufdringlich und gerät im Gegenteil als Medium – wie auch die Filmemacherin als Autorin – zuweilen in Vergessenheit.

Soziale Fragen spielen bis auf die Szenen einer Demonstration gegen Machtmissbrauch in der Gynäkologie beziehungsweise Geburtshilfe eine untergeordnete Rolle. Simon überlässt es ihrem Publikum aus dem gesammelten Material Schlüsse zu ziehen, beispielsweise darüber wie beschwerlich der Weg Endometriose-Betroffener aufgrund fehlender Behandlungsmöglichkeiten ist, wie ungleich die Strapazen einer künstlichen Befruchtung auf die beteiligten Personen verteilt und ganz grundsätzlich welchen Herausforderungen Körper mit Uterus ausgesetzt sind. Auch die Tatsache, dass all dies in unserer Gesellschaft nahezu unsichtbar bleibt, ergibt sich nur als Zwischenton.

Eine vaginale Untersuchung: Eine Person mit langen Haaren und Brille, die wir nur von hinten sehen, schaut gebückt zwischen zwei nackte Beine. Der Intimbereich ist beleuchtet, aber durch eines der Beine verdeckt.

© Madison Films

Notre Corps (Our Body) nimmt einen ungeahnten, unplanbaren Verlauf als Claire Simon an Krebs erkrankt und sich entschließt, selbst Teil ihres Films zu werden. Und zwar als eine von vielen Geschichten. So stellt ihr Rollenwechsel zwar eine Zäsur da, verändert aber nicht den Rhythmus des Films, der sich weiterhin – als wäre nichts passiert – anderen Protagonist:innen widmet.

Der Unterschied der Perspektive von Ärzt:innen und Patient:innen ist jener, erklärt Claire Simon am Ende, dass erstere viele Geschichten erleben, während letztere nur eine einzige haben. Und vielleicht trifft genau das auch auf diesen Film zu: Wir können Notre Corps (Our Body), der mit den Worten der Filmemacherin beginnt und endet, als persönlichen Film von Claire Simon lesen. Wir können ihn aber auch als Kaleidoskop sehen, das sowohl die Facetten der Gynäkologie portraitiert wie auch die vielfältigen Körper, die diese bevölkern.

Und darin besteht am Ende vielleicht doch ein Unterschied zwischen der Künstlerin und den Portraitierten: Während der Film die Person Claire Simon im Verlauf begleitet, widmet er sich seinen übrigen Protagonist:innen nur als Momentaufnahme. Wir sehen nicht, ob das Paar nach der künstlichen Befruchtung ein Kind bekommt oder ob die Endometriose-OP der jungen Patientin ihre Beschwerden lindert. Claire Simon blickt auf Körper in einem Raum, der Gynäkologie heißt. Und die einzige Geschichte, die sie dabei erzählt, handelt davon, wie sie diesen Raum betritt und wieder verlässt.

Film-Screenings bei der Berlinale 2023

Sophie Charlotte Rieger
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