Berlinale 2023: Elaha

Die Idee der weiblichen Jungfräulichkeit ist eine Ausgeburt des Patriarchats, die Herrschaftsverhältnisse sichern soll. Sie steht der körperlichen Selbstbestimmung von Menschen mit Vagina im Weg und konsolidiert gleichzeitig Macht- und Besitzstrukturen durch die Be- bzw. Abwertung von weiblich gelesenen Personen. Leider hilft es auch nicht, dass Eleha – Titelheldin in Milena Aboyans erstem Langspielfilm – vom Unsinn des Hypes um weibliche Unschuld weiß. Die Gesellschaft, in der sie lebt, in diesem Fall ihre kurdische Familie und die ihres zukünftigen Ehemanns, wissen es nicht. Deshalb beginnt für Elaha (Bayan Layla) eine Reise, die sie durch eine Hymen-Rekonstruktion vermeintlich wieder zu Reinheit führen soll, sie aber über Umwege tatsächlich zu neuem Selbstwert und -bewusstsein bringt.

Gesicht einer jungen Frau mit erstem, nach innen gerichteten Blick.

© Christopher Behrmann / Kinescope

Ein stimmiges, konsequent umgesetztes Farbkonzept, das mit der abgebildeten gesellschaftlichen Enge korrespondierende 4:3-Format und eine insbesondere in der langen ungeschnittenen Eingangsszene beeindruckenden Kameraarbeit zeugen davon, dass Elaha nicht nur ein Themenfilm, sondern ein handwerklich rundum durchdachtes Stück Filmkunst darstellt. In einer Welt, die Filmen über die kollektive emotionale Erfahrung von Frauen aus einem patriarchalen Beißreflex heraus gerne den künstlerischen Wert abspricht – siehe die teils vernichtenden Kritiken zu dem Film 24 Wochen – stellt Milena Aboyan auf diese Weise sicher, dass Publikum und Kritik sie als Filmemacherin ebenso ernst nehmen werden wie das Thema ihres Spielfilmdebüts. ___STEADY_PAYWALL___

Doch noch eine andere Reaktion scheint vorprogrammiert. Durch den ausschließlichen Fokus auf kurdische Figuren deutet sich ein Othering an, also die für die deutsche Mehrheitsgesellschaft beruhigende Annahme, Sexismus, sexualisierte Gewalt und Unterdrückung habe nur etwas mit „den anderen“ zu tun. Milena Aboyan versucht durch einen Dialog zwischen Elaha und ihren Freundinnen nach einer gescheiterten Partynacht zu verdeutlichen, dass die Tabuisierung weiblicher Sexualität bei gleichzeitiger Zelebrierung der männlichen ein gesamtgesellschaftliches Problem darstellt. „Das Patriarchat macht keinen Unterschied“, sagt eine von ihnen. Und während sie recht hat, sehen wir in Elaha doch ausschließlich kurdische Männer, die ihre Freundinnen unterdrücken oder gar sexualisierte Gewalt ausüben, kurdische Familien, die von einer Braut einen medizinischen Beweis für ihre „Jungfräulichkeit“ einfordern, und kurdische junge Frauen, die ihre Sexualität heimlich und unter dem Schatten schwerwiegender Konsequenzen ausleben.

Drei junge Frauen tanzen ausgelassen in einem in dunkles Blau getauchten Zimmer.

© Christopher Behrmann / Kinescope

Elaha wirft – ob nun bewusst oder unbewusst – dabei die große Frage nach dem gesellschaftlichen Kontext eines Films auf und inwiefern dieser auch in seine Einordnung und Bewertung mit einfließen darf, soll oder gar muss. Eleha existiert nicht im luftleeren Raum – nicht die Figur, die nur im Kontext der Traditionen und Restriktionen ihrer Herkunftsfamilie agieren kann, und ebenso wenig der Film, der in Deutschland nur vor einem von rassistischen Strukturen geprägten Publikum laufen kann, das Aboyans Appell für körperliche Selbstbestimmung paradoxer Weise als Bestätigung der eigenen Vorurteile gegenüber einer marginalisierten Gruppe liest. Insofern ist Elaha neben einem feministischen Statement auch eine Erinnerung an unsere kolonialen Blick und eine Mahnung und Aufforderung, diesen endlich zu ver-lernen.

Screenings bei der Berlinale 2023

Sophie Charlotte Rieger
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