IFFF 2019: Los Silencios

Im Grenzgebiet zwischen Kolumbien, Peru und Brasilien auf einer Insel mit dem im wahrsten Sinne des Wortes zauberhaften Namen Isla de la Fantasia (Insel der Fantasie) sucht eine Kleinfamilie Zuflucht vor den bewaffneten Konflikten in ihrer Heimat. Sichtbar gezeichnet von den traumatischen Erlebnissen der Vergangenheit, tut Amparo (Marleyda Soto) ihr Möglichstes, um sowohl ihre zwei Kinder als auch den Ehemann (Enrique Diaz) zu versorgen. Letzterer versteckt sich nämlich in ihrem Haus, während sie an verschiedenen Stellen als Witwe finanzielle Unterstützung ersucht.

Die titelgebende Ruhe dominiert Beatriz Seigners Inszenierung. Lange Einstellungen mit statischer Kamera, schweigende oder doch zumindest wortkarge Protagonist_innen, flirrende Musik und verstärkte Umweltgeräusche. Was an anderer Stelle strapaziös oder zäh wirken könnte, erzeugt in Los Silencios eine traumwandlerische Atmosphäre: stressfrei, aber nicht ereignislos.

© Trigon Film

Denn irgendetwas stimmt nicht an diesem Setting, an diesen Menschen, an diesem Ort. Schon von Beginn an schleichen sich in Seigners Film Irritationen ein, die jedoch zunächst wie Sand durch die Finger rinnen. Zum Teil scheinen die Menschen auf unerklärliche Weise einander vorbei zu kommunizieren. Ob das wohl auf das kollektive Trauma des kolumbianischen Guerillakriegs zurückzuführen ist? Oder steckt etwas ganz anderes dahinter?

Erfahrungen von Gewalt, dem Tod geliebter Menschen und Flucht sind in Los Silencios omnipräsent und doch niemals sichtbar. Beatriz Seigner zeigt nicht die Ereignisse selbst, sondern ihre emotionalen Folgen für die Betroffenen, das Jahrzehnte währende Trauma eines ganzen Volkes und das Ringen um Vergebung, das schließlich an den tiefen Wunden scheitern muss. Dabei liegt der Fokus der Regisseurin auf der Unterschicht, auf jenen Menschen, die lediglich Kollateralschäden, nicht aber Initiator_innen des bewaffneten Konflikts darstellen. Oder wie einer der Protagonisten es formuliert: Im Grunde kämpfen auf allen Seiten – Guerillas, Armee und Paramilitär – die Ärmsten der Armen gegeneinander in einem Krieg, der eigentlich nicht ihrer ist. Die Familie der Politker_innen, der Strippenzieher_innen – kurzum: die reichen Menschen – erleben die Gewalt des Krieges nicht aus nächster Nähe, sind nicht mit Todesangst und Trauma konfrontiert.

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Die Intensität und Authentizität des kollektiven Traumas erlangt Beatriz Seigner durch die Arbeit mit Laiendarsteller_innen, die hier zum Teil ihre eigene Geschichte von Krieg und Vertreibung erzählen. Marleyda Soto und Enrique Diaz sind die einzigen professionellen Darsteller_innen des Casts, ohne dass sie jedoch im Gesamtfilmkonzept als weniger authentisch auffallen würden. Insbesondere Soto legt ein beeindruckend subtiles, in seiner Reduziertheit unglaublich intensives, Spiel an den Tag. Es gelingt ihr, in der geduckten Körperhaltung und der auf wenige Regungen reduzierten Mimik sowohl Schwermut als auch große Stärke zu transportieren. Ähnliches vermag auch Laiendarstellerin María Paula Tabares Peña, die Amparos Tochter Nuria verkörpert, und der zur Darstellung ihrer Figur nicht einmal Sprache zur Verfügung steht.

Es ist Nuria, die den Dreh- und Angelpunkt des geheimnisvollen Anteils der Geschichte bildet. Los Silencios steht hier in der lateinamerikanischen Tradition des magischen Realismus, innerhalb dessen sich Unwahrscheinliches und Wahrscheinliches, Märchenhaftes und Naturalistisches organisch miteinander vermischen. So organisch, dass wir es über einen Großteil des Films hinweg nicht einmal merken und uns im Nachhinein die Frage stellen müssen, ob die Unterscheidung zwischen dem einen und dem anderen für das Verständnis unserer Welt tatsächlich notwendig oder auch nur zielführend sei.

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Wenn Beatriz Seigner die Grenzen zwischen der sichtbaren und unsichtbaren Welt für einen Moment deutlich zu erkennen gibt, entsteht für das Kinopublikum ein sanfter Schockmoment, ein Kloß im Hals, ein ungläubiges und betroffenes Schlucken. Was zunächst so still vor sich hinplätschert, gewinnt plötzlich eine Dramatik, die allein auf der Gefühlsebene, nicht aber der Handlungsebene stattfindet. Damit gelingt der Regisseurin das was nur das Kino vermag, aber viel zu selten tut: Ihre Geschichte auf eine Weise zu erzählen, die sich nicht verbal wiedergeben oder begreifen lässt, die eben nur durch das Zusammenspiel verschiedenster audiovisueller Eindrücke erfahrbar wird. Los Silencios ist echte Filmkunst.

Sophie Charlotte Rieger
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