FFMOP 2025: Lonig & Havendel

Eine Frau sitzt in einem Gasthaus und blickt in die hügelige, winterliche Landschaft. Während ihres Telefonats auf Vietnamesisch machen ihre Beschreibungen der Natur und ihrer neuen Sinneseindrücke eine Faszination und Begeisterung für die Berge um sie herum deutlich. Während ihres leidenschaftlichen, zugleich ruhigen Monologs rückt das Bild immer näher an sie heran, zoomt abwechselnd in die Ferne und an ihr Gesicht heran. Die beiden, sie und die Hügel da draußen, rücken näher aneinander, aber sind doch getrennt. Mit diesem Stilmittel wird Lonig & Havendel auch in späteren Szenen noch arbeiten, um eine Atmosphäre zu erzeugen, die einerseits mystisch und positiv-spannungsgeladen wirkt, andererseits auch beklemmend, wie eine düstere Prophezeiung, der keine*r ausweichen kann. In ihrem Langfilmdebüt, das in Saarbrücken seine Weltpremiere feierte, verwebt Claudia Tuyết Scheffel Mysteryelemente mit einem märchenhaften Narrativ, dessen gesellschaftspolitische Hintergründe vietnamesisch-deutsche Lebenserfahrungen im Erzgebirge mit sächsischer Geschichte und Geschichten verbinden.___STEADY_PAYWALL___

© Claudia Tuyet Scheffel

Im Zentrum von Lonig & Havendel steht zunächst Trúc (Nano Nguyen). Gemeinsam mit anderen Teenagerinnen wohnt sie in einer Herberge; erst später erfahren wir, dass sie eine Berufsschule besucht und nun eine Weile in Deutschland verbringt. Als sie mit ihren Kolleginnen eine Bergwerksbesichtigung unternimmt, entfernt sie sich plötzlich von der Gruppe und verliert sich in den Tiefen eines Tunnels. Sie gelangt in eine Parallelwelt, in der sie bei einer erneuten Führung durch die Stollen versucht, wieder in die alte Realität zurückzufinden. Doch die Angestellten hindern sie daran zu entkommen, halten sie in Gewahrsam und rufen beim vietnamesischen Imbiss des Ortes an – aufgrund des Verdachts, es handle sich um die Schwester von Duc, dem Sohn der Inhaber*innen. Duc (Tri An Bui) taucht auf und verneint. Schnell entsteht eine stille Allianz zwischen Duc und Trúc, auch wenn letztere irritiert und zeitweise apathisch erscheint. Kein Wunder, denn ein Wald-Mephisto hat ihr kurz zuvor auch noch die Bedingung gestellt, innerhalb von drei Jahren eine Person auszuwählen, die sterben soll, wenn sie nicht selbst in einen Baum verwandelt werden möchte. Ihre Auswahl soll sie mit einem Kuss signalisieren.

© Claudia Tuyet Scheffel

Scheffel kreiert einen Film, der seinesgleichen sucht. Nächtliche Aufnahmen, Close-Ups eines zerstörten Honigglases, Wolfsgestalten (Kamera: Yunus Çağ Köylü) und ein eindrücklicher Soundtrack (Florian Illing), etwa mit experimentierfreudigen Zitterstücken, erzeugen eine ganz eigene Atmosphäre. Hinzu kommt eine Portion Body Horror. So bekommt die Landschaft einerseits etwas bedrohliches, andererseits nimmt der Film das Erzgebirge und somit das ländliche Sachsen als Region auch ernst – eine Seltenheit im Kino. Denn Lonig & Havendel wirft keinen verächtlichen oder bedauernden Blick auf die dortigen politischen Verhältnisse, sondern zeichnet seine Figuren differenzierter. Das Sprechen im Dialekt wirkt nicht aufgeladen, nicht (nur) instrumentalisiert für komische Momente. Scheffel gelingt es, den Landstrich, in dem die Geschichte spielt, und seine autochthonen Bewohner*innen in keine Schubladen zu stecken. Alltagsrassismus paart sich mit Freundlichkeit, erfährt dadurch aber keine Entschuldigung. Durch Szenen mit Ducs Freund*innen wird außerdem deutlich, dass die Frage nach dem Umzug in die Stadt das Leben vieler junger Leute begleitet. Denn Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten sind in ländlichen Gebieten, deren wirtschaftliche Blütezeit weit in der Vergangenheit zurückliegt – etwa durch den Bergbau –, deutlich begrenzt.

© Claudia Tuyet Scheffel

Auch der Imbiss spielt als Ort eine wichtige Rolle, denn hier finden die Familiengespräche statt: Auf Duc lastet der Druck seiner Eltern mit seinem Sound-Design-Studium keine Berufssparte anzustreben, von der in der Familie mit Stolz berichtet werden kann. Andere Szenen zeigen das schwierige Austarieren zwischen den in erster Generation migrierten Eltern und ihren Kindern, die sich an deren Wunschvorstellungen reiben, hin- und hergerissen zwischen Pflichtgefühl und dem Bestreben, den eigenen Zielen zu folgen. Und dazwischen kommt immer wieder das Thema der Wölfe mit hinein: Holen sich die Tiere ihre Reviere zurück, wenn sie immer öfter in bewohnten Gebieten ihre Präsenz markieren? Warum glauben wir Menschen, Besitzansprüche auf jegliche Territorien stellen zu können? Wie prägen Landschaften und Orte unsere Identitäten? Lonig & Havendel gelingt es, Fragen aufkommen zu lassen, die über den Film selbst hinausführen. Scheffels Debüt ist wahrlich eine Entdeckung, die nicht nur formal und inhaltlich sehenswert ist, sondern auch von seinen beiden Hauptdarsteller*innen sowie von autobiografischen Erfahrungen der Regisseurin profitiert.

Lonig & Havendel ist im Rahmen des Max-Ophüls-Festivals 2025 zu sehen.

Bianca Jasmina Rauch
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