Dokumentale’24: New Wave

Eigentlich will Regisseurin Elizabeth Ai mit New Wave eine Doku über den New-Wave-Trend in vietnamesisch-amerikanischen Communitys der 1980er Jahre in Kalifornien drehen. Diese Form des New Wave – eine irreführende Bezeichnung für den im Rest der Welt als Eurodisco bekannten Musikstil – erreicht dort durch Sounds von Bands und Performer*innen wie Modern Talking, C.C. Catch und Bad Boys Blue große Erfolge. Disco Beats, elektronische Drums und Synthesizer-Sounds sind für viele junge Musikliebhaber*innen nicht nur ihrer Zeit voraus, sondern auch so ganz anders als die Musik aus Vietnam, die ihre Eltern zu Hause hören. Die Liebe zu New Wave steht somit für eine Abgrenzung zur Elterngeneration, aber auch zu einer vietnamesischen Kultur, die fremd scheint, und die Chance auf ein Ankommen als Teil der US-amerikanischen Mehrheitsgesellschaft, deren soziale Normen die neue Heimat formen und bestimmen. ___STEADY_PAYWALL___

© New Wave Productions

Im Zuge des Vietnamkrieges und nach dessen Ende am 30. April 1975, erreicht eine Vielzahl von vietnamesischen Immigrant*innen und Flüchtlingen die USA. Evakuierungen per Flugzeug oder Schiff und Flucht per Boot bringen, oft über die Wege der Flüchtlingscamps südostasiatischer Länder, bis 1980 über 200.000 Vietnames*innen in die USA. Diese Zahl steigt bis 1990 auf die halbe Million. Aus den Kindern dieser  ersten großen Gruppe von Migrant*innen sind in den 1980er Jahren Teenager*innen und junge Erwachsene geworden, die in einem Land als (neue) Heimat aufgewachsen sind, das von ihnen erwartet, anders als ihre Eltern zu sein – angepasster, unabhängiger, amerikanischer. In dieser Realität zwischen Erinnerungen an Vietnam und Leben in einer noch zu erkundenden Welt begibt sich diese Generation auf die Suche nach Antworten auf Fragen der Selbstfindung („Sind wir Vietnamesisch? Sind wir Amerikanisch?“) und des Zwangs („Können sie überhaupt Amerikaner*innen sein?“) und lässt dabei neue vietnamesisch-amerikanische Identitäten entstehen. Eine sich so herausbildende tiefe Kluft der Generationen wird anhand der aufkommenden New-Wave-Community besonders deutlich: Die eine Seite wenig beeindruckt von den hochgestylten Haaren und auffälligen Partyoutfits der eigenen Kinder, die andere verständnislos gegenüber der Strenge und einer damit einhergehenden emotionalen Vernachlässigung durch die Eltern.

Im Laufe der Dreharbeiten zu ihrem Dokumentarfilm New Wave stößt Ai schließlich auf diese und andere Formen von Generationskonflikten innerhalb vietnamesischer Familien in den USA der 80er und 90er Jahre, die über verschiedene Vorlieben bei der Musikauswahl weit hinausgehen und auch das Leben der Regisseurin heute noch stark bestimmen. Bei der Entstehung von New Wave, so schildert es die Regisseurin selbst, wandelt sich der Fokus schnell von Musikdoku hin zu einer Studie über eine Generation junger Menschen, die vor den komplexen Hintergründen, die Vietnamese American überhaupt erst zur Realität werden ließen, Unabhängigkeit und Neuausrichtung einfordern. Am Ende wird Ai selbst zum Objekt ihrer Doku, die schließlich weitaus mehr als ein Einblick in eine musikalische Subkultur ist.Vielmehr ist New Wave ein Familienporträt, das aber nicht nur Einzelschicksale beschreibt.

© New Wave Productions

Ihren Dokumentarfilm hat Ai aufregend gestaltet. Gemeinsam mit den Editor*innen Samuel Rong und Christina Sun Kim hat sie eine Collage aus Archivmaterial aus Nachrichtenmagazinen, Reportagen und Berichterstattung aus den Kriegsjahren, aus Home Videos aus ihrer Kindheit und Fotos aus Familienalben sowie Video-Aufzeichnungen aus Clubs der 80er Jahre und von TV-Auftritten von namhaften Performer*innen der New-Wave-Szene geschaffen. So schildert die Regisseurin, wie schmerzhafte Aufbrüche der Evakuierung und Flucht, trotz aller Unterschiede, mit der Partystimmung und Exzentrik der New-Wave-Communitys in den USA eng verbunden sind. 

In Interviews lässt Ai außerdem bekannte Persönlichkeiten der New-Wave-Szene zu Wort kommen: Lynda Trang Đài, Tommy Ngô und DJ BPM – heute selbst Eltern von jungen Erwachsenen – erzählen, wie sich durch ihre Liebe zu New Wave, Konflikte offenbart haben. DJ BPM beschreibt, wie seinem Vater das Verständnis für das Interesse seines Sohnes an dem damals neuen Musikstil und dem damit einhergehenden Erscheinungsbildes (eine Flasche Haarspray, um die hochtoupierten Haare den gesamten Tag über perfekt in Form zu halten, musste es schon sein) fehlt und er seinen Sohn als beschämend empfindet. Lynda Trang Đài, „die vietnamesische Madonna“, findet sich während des Höhepunkts ihrer Karriere immer wieder denselben übergriffigen Fragen durch Kritiker*innen aus vietnamesischen Communities ausgesetzt: Seien ihre Auftritte nicht zu sexy? Warum sie denn überhaupt single und noch nicht verheiratet sei? 

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Während der Entstehung von New Wave wird DJ BPM schließlich Ai erzählen, dass er sich heute oft fragt, ob er und Gleichgesinnte nicht etwas zu sehr auf Biegen und Brechen versucht haben, sich den Realitäten der neuen Heimat anzupassen und die Lebensart und kulturellen Gewohnheiten der Elterngeneration fasst ein bisschen zu sehr von sich weggestoßen haben, um sich den Anforderungen der US-amerikanischen Mehrheitsgesellschaft anzugleichen. Er plädiert heute für Nachsicht von beiden Seiten. Denn als erste und älteste Ankömmlinge aus Vietnam in den USA waren diese Eltern finanziell nicht nur für sich und ihre Kinder verantwortlich, sondern auch für andere nahe wie entfernte Verwandte überall auf der Welt. Ihnen blieb wenig Zeit für ein körperliches wie mentales Ankommen in den USA und für die Verarbeitung der Erfahrungen von Krieg und Flucht. Arbeit und Geldbeschaffung standen hingegen an erster Stelle. Emotionalen Support konnten sie daher kaum bis gar nicht bieten. 

Auch Lynda Trang Đàis Karriereweg und Musikausrichtung war immer von diesem hohen Grad der Verantwortung für die Familie beeinflusst. Sie beschreibt, wie wenig Raum für eigene Entfaltung ihr als Künstlerin zustand. So blieb zum Beispiel der Sprung auf den englischsprachigen Musikmarkt aus, da dies zu arbeitsintensiv bei ihrer sowieso bereits knapp bemessenen Zeit gewesen wäre und finanzielle Unsicherheit mit sich gebracht hätte. Ihre Musikkarriere ermöglicht ihrer Familie das Überleben, aber auch ihre ständige arbeitsbedingte Abwesenheit war über die Jahrzehnte hinweg spürbar. „Er wird es eines Tages verstehen, warum ich nicht immer da sein konnte“, sagt Lynda Trang Đài über ihre Beziehung zu ihrem fast erwachsenen Sohn. 

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Die in den Erinnerungen der New-Wave Anhänger*innen gespiegelten durch Unverständnis angetriebenen Auseinandersetzungen zwischen Eltern und Kindern führen Ai schließlich auch zu ihrer eigenen Familiengeschichte. In dieser kommt Elizabeth Ais Familie 1978 in die USA. Die Regisseurin ist Teil der ersten Generation, die dort geboren wird. Dass sich Ai schließlich selbst zum Objekt ihres Dokumentarfilms, wenn auch unerwartet, macht, macht ihn äußerst persönlich. Auch weil New Wave zunächst als eine Art filmisches Fotoalbum für Ais Tochter Asa Ai Hendrickson angelegt war, um in die Geschichte vietnamesischer Menschen in den USA einzutauchen, kann sich die Regisseurin nicht mehr der Auseinandersetzung mit ihrer ihr Leben lang abwesenden Mutter verwehren. Denn diese ist für die heranwachsende Elizabeth besonders spürbar: Nur ein paar Mal im Jahr sehen sich Mutter und Tochter, die Erziehung der Kinder übernehmen die Großeltern und Tante May. 

Warum ihre Eltern und besonders ihre Mutter nicht für Ai und ihre Schwester da sein konnten, ist der Regisseurin viele Jahrzehnte nicht klar. Erst durch Interviews mit DJ BPM und Lynda Trang Đài wird sie erkennen, dass emotionale Vernachlässigung nicht nur sie betrifft, sondern ganze Generationen vietnamesisch-amerikanischer Communitys. Denn New Wave erforscht am Ende durchaus unerwartet auch die Last der elterlichen Verantwortung von Personen, die schmerzhafte Erfahrungen und Traumata durch Krieg und Flucht in sich tragen. Wie sich die Gründe für die Zerwürfnisse in ihrer Familie für Ai nach und nach offenbaren, wird im Aufbau ihres Dokumentarfilms reflektiert. Er gestaltet sich daher für das Publikum, ähnlich wie für die Regisseurin, als dynamische Erkundung vietnamesisch-amerikanischer Familiengeschichten. 

© New Wave Productions

Antworten auf Fragen, ob eine Abgrenzung zu der Elterngeneration eine forcierte Amerikanisierung widerspiegelt oder, ob sich hier eine neue Unabhängigkeit reflektiert, die für eine organische Entwicklung der ihrerzeit als Melting Pot angesehenen US-amerikanischen Gesellschaft steht, bleibt New Wave übrigens schuldig. Auch lässt die Doku eine nähere Auseinandersetzung mit der Rolle der USA im Vietnamkrieg und Rassismus gegenüber Südvietnames*innen im Land absichtlich außen vor, sondern spiegelt vor allem Ais Wunsch wider, über die Familienverhältnisse zwischen vietnamesischen Migrant*innen und ihren Nachfahren, die die USA als einzige Heimat und Vietnamese American als einzige kulturelle Identität für sich kennen, zu sprechen. 

So ruft New Wave nicht nur dazu auf, die alte Weisheit „die Zeit heilt alle Wunden“ nicht komplett abzutun, sondern plädiert auch für eine Aussprache dessen, was lange ungesagt blieb. Der Dokumentarfilm präsentiert eine visuell und erzählerisch aufregende Reise der Nachsicht, des Verständnisses und des Verstehens über Generationen, Länder und (Hass-)Liebe zur Musik hinweg.

New Wave wird bis zum 20. Oktober im Programm der Dokumentale’24 als Deutschlandpremiere gezeigt.

Sabrina Vetter
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