FFMOP 2025: Noch lange keine Lipizzaner

Welche Auflagen muss ich erfüllen, um die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen zu bekommen, um untermalt von den Klängen der Bundeshymne und mit dem Blick auf die Rot-Weiß-Rot-Flagge meinen Schwur auf dieses Land zu leisten? Regisseurin Olga Kosanović hat bereits eine beträchtliche Menge ihrer Lebenszeit mit Behördengängen und Anträgen verbracht, als sie beschließt, Noch lange keine Lipizzaner zu drehen. Selbst in Österreich geboren und mit serbischen Eltern aufgewachsen, nimmt sie uns mit auf einen informativen, kritischen, persönlichen und höchst unterhaltsamen Ritt, der den Weg zur Staatsbürgerschaft nicht nur nach ihren zum Teil absurden Amtsregeln beforscht, sondern auch deren Bedeutung in Hinblick auf das Identitätsgefühl von in Österreich lebenden Menschen. 

„Bin ich integrierbar?“, fragt Kosanović zu Beginn aus dem Off und wir erfahren von ihrem gescheiterten Antrag auf die Staatsbürgerschaft. Grund dafür war keine Verwaltungsstrafe – dass Falschparken oder das Überqueren des Fußwegs bei roter Ampel einer der festgeschriebenen Gründe für eine Ablehnung sein können, erfahren wir später auch – sondern ihre summierten Auslandsaufenthalte seit ihrem zehnten Lebensjahr. 88 Tage zu viel und die Zählung der Aufenthaltstage bzw. -jahre in Österreich beginnt bei Null. Also nochmal auf Anfang, wie in einem Brettspiel. Sie besucht eine Informationsveranstaltung und taucht erneut in die Tiefen der Bürokratie ein. Als die Filmemacherin als Diskutantin in einer ORF-Sendung zum Thema Staatsbürgerschaft auftritt, durchforstet sie danach die Kommentarspalte des Online-Portals. Was sich hier so alles  findet, lässt sich gleich erahnen, doch tatsächlich bleibt eine besonders absurde Formulierung hängen. ___STEADY_PAYWALL___

© Kasper

„Wenn eine Katze in der Hofreitschule Junge wirft, sind das noch lange keine Lippizaner“, schreibt eine*r User*in. Eine herabwürdigende Aussage, die an verstaubte, elitäre Traditionen anknüpft, um ein Othering zu betreiben, das auf Stolz auf die eigene Geburt und einem Gefühl von Nationalismus beruht. Grund für die Filmemacherin, sich dem Thema kreativ und experimentierfreudig zu widmen. Sie besucht die Hofreitschule, das Wiener Innenstadt-Domizil dieser gezüchteten Pferde, und zeigt, erneut mit einer taktvollen Portion Humor, deren Herkunftsgeschichte auf. Die Lipizzaner werden zum Symbolträger des Films. Lippizaner, Kaffeehaus, Gemütlichkeit, Berge, Neujahrskonzert – machen diese „Kulturgüter“ die österreichische Identität aus, also Dinge, die eigentlich gar nichts mit uns als Individuen zu tun haben müssen? Wer sind überhaupt „wir“? Und welche Gründe für die unterschiedlichen Spaltungen eines solchen „wir“, einer Gemeinschaft von Menschen, die in einem Land leben und arbeiten, dort Steuern zahlen, gibt es?

© Kasper

Nicht nur Kosanović selbst denkt über diese und weitere Fragen nach, gallopiert von einer zur nächsten Station, sondern interviewt auch eine Vielzahl von Leuten, die vor einfarbigen Hintergründen in Orange oder Blau sprechen. Einen roten Faden bildet außerdem ein Brettspiel, in dem die Figuren, gelangen sie ins Ziel, die Staatsbürgerschaft erhalten. Jeder Zug ist mit dem Abheben einer Aktions- oder Quizkarte verbunden, die wiederum einen neuen Aspekt des Filmthemas einläutete. Die Montage (Jan Zischka) der Szenen und Momente könnte stimmiger nicht sein, auch leidet das Narrativ trotz der Vielgestaltigkeit und breiten Aufbereitung nicht an Überladung oder Ungenauigkeit. Schnipsel fiktionaler Szenen finden sich außerdem darunter, etwa mit einem Auftritt von Toxische Pommes, deren empfehlenswerter Debütroman Ein schönes Ausländerkind erst letztes Jahr herauskam. Gespräche mit Wissenschaftler*innen und Fachleuten bilden weitere Achsen, die die Themen Heimat, Nationalstaat, Othering oder Wahlrecht mit Expertise beleuchten. Und wenn Ausschnitte aus Fernsehsendungen zu sehen sind, sind diese etwa gegengeschnitten mit den gemalten und animierten, prägnanten Figuren von Alexander Gratzer, deren Reaktionen eine*n zum Schmunzeln bringen.

© Kasper

Noch lange keine Lipizzaner ist einer dieser seltenen Filme, von denen eine*r sich wünschen würde, dass jede*s ihn sieht, vor allem jene Menschen, die sich des Privilegs ihrer Staatsbürgerschaft kaum bewusst sind. Nicht nur bestimmt diese das österreichische Wahlrecht, sondern auch das Gefühl von Zugehörigkeit und Abgrenzung vieler Menschen: Sie ist somit wesentlicher Bestandteil demokratischer Strukturen. Dass Demokratie außerdem nicht nur von Gesetzen und Wahlverhalten geprägt ist, sondern auch von Stimmungen und Gefühlen, laut oder leise: auch das machen Kosanović und die Gedanken ihrer Gesprächspartner*innen deutlich. Gerade in politisch düsteren Zeiten bringt diese Erkenntnis unwiderlegbare Brisanz mit sich.

Bis zum 2. Februar im Streaming-Angebot des Filmfestival Max Ophüls Preis zu sehen.

Bianca Jasmina Rauch
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