FFHH 2024: Vena
Die Welt von Jenny (Emma Nova) besteht aus viel Rosa und Glitzer, aus harten Techno Bässen und Crystal Meth, aus ihrem Freund Bolle (Paul Wollin), der gemeinsamen Wohnung in der Erfurter Platte, aus ihrem Sohn Luki, der bei der Oma lebt, und Lexa, die in ihrem Bauch wächst. Und von der Jenny irgendwie nichts wissen will und irgendwie doch. Dann trudelt die „Einladung“ zum Haftantritt ein und plötzlich ist da die Angst um Lexa, vor einer weiteren Trennung von einem weiteren Kind. Und trotz ihres tiefen Misstrauens gegenüber “dem System” und einer tiefen Sehnsucht nach Verdrängung nimmt Jenny die Hilfe der Familienhebamme Marla (Friederike Becht) an und begibt sich auf die schmerzhafte Suche nach sich selbst, nach Lexa und dem, was sie mit ihr verbindet.
Vena – das ist nicht der Name einer Figur im Regiedebut von Chiara Fleischhacker, sondern ein Wortbestandteil der vena umbilicalis, der Nabelschnurvene, der biologischen Verbindung zwischen Kind und der schwangeren Person. Sie ist immer da, ganz anders als die emotionale Verbindung, die Fleischhacker in ihrem Film unter die Lupe nimmt. Mit großer Nähe zu ihrer Hauptfigur schafft die Regisseurin in Vena eine Augenhöhe über Klassengrenzen hinweg, ermöglicht Empathie mit einer Person, die in vielen Geschichten Abziehbild bleibt und über die wir uns gerne vorschnelle Urteile erlauben. So werden Gelnägel zu einem spürbaren Wellnessprogramm, mit Glitzer bestäubte Orchideen zum Ausdruck einer Fürsorge, der die Welt das Objekt genommen hat. Jennys Schmerz ist stets ebenso spürbar wie ihre Sehnsucht, wie ihre tiefe Liebe, die ins Leere zu laufen scheint, und die Angst davor, diese Liebe mit echten Menschen zu verbinden.
Auch auf handwerklicher Ebene dominiert in Vena die Nähe zur Hauptfigur durch Nahaufnahmen und eine dynamische Handkamera, die das Kinopublikum mit in eine wacklige Erfahrungswelt mitnimmt, eine temporeiche Flucht vor der Gegenwart. Je mehr Jenny im Verlauf der Geschichte zur Ruhe kommt, umso entspannter gestalten sich auch Kamera und Montage. Chiara Fleischhacker erzählt ihre Figuren über Motive, über Farben und Objekte, die diese Menschen umgeben, und das mit großer Liebe zum Detail. So kontrastiert sie beispielsweise die perfekt gepflegten und arrangierten Orchideen in Jennys Plattenbauwohnung mit traurig vertrockneten Pflanzen auf dem Fenstersims der Altbauwohnung von Familienhebamme Marla und verdeutlicht damit unterschiedliche Arten von Fürsorge. Marla mag durch ihren Beruf mehr Wissen über Schwangerschaft, Geburt und Babypflege besitzen, doch das macht sie nicht zur besseren, sondern nur zu einer anderen Mutter. Sie fungiert für Jenny nicht als Lehrerin, sondern als Begleiterin, die sie durch eine respektvolle Ansprache auf Augenhöhe zu eigenen Entscheidungen ermächtigen kann. Es ist fast ein wenig schade, dass Chiara Fleischhacker für diese Geschichte eine suchtkranke Hauptfigur in prekären Lebensverhältnissen gewählt hat, die in ihrem Kinopublikum aufbauend auf klassistischen Stereotypen unserer Medienwelt bereits die Erwartungshaltung einer problembelasteten Schwanger- und Elternschaft weckt , Denn im Grunde ist Jennys Geschichte universell, geht das Ringen um Beziehung zum eigenen ungeborenen Kind und das Trauma einer gewaltvollen Geburt und Wochenbettdepression doch weit über das portraitierte Milieu hinaus. Jenny ist nur eines von vielen Beispielen einer werdenden Mutter, die um die Beziehung zu ihrem (ungeborenen) Kind kämpft, die im Wartezimmer der Gynäkologin dem Schwangerschaftsglühen aus Glück und Liebe beschämt und schmerzerfüllt von außen zuschaut.
Deshalb ist es auch so schade, dass wir Jennys Wendepunkt nicht vollumfänglich nachvollziehen können, ihre Entscheidung gegen die Drogen und für Lexa. Ist es wirklich nur mit einem Sinneswandel getan? Es scheint unglaubwürdig, dass die durch Crystal Meth unterdrückten Traumata sich im Entzug nicht den Weg an die Oberfläche bahnen. Wo bleiben die Scham und die Trauer über das Scheitern als Mutter, wo die Ohnmacht in Anbetracht eines Systems, das an Jennys Bedürfnissen vorbeigeht, sie bestraft statt zu unterstützen. „Was habe ich getan, um das zu verdienen?“ schreit Jenny im letzten Akt einem Sozialarbeiter entgegen und bezieht sich dabei nicht nur auf ihre konkrete Situation als Schwangere in Haft, sondern auf ihre Situation als Mutter in einer patriarchalen Gesellschaft allgemein. Die ganze Welt ist ein Gefängnis, das ihr die Chance nimmt, eine fürsorgliche, liebende Mutter zu sein.
Da ist viel Schmerz in Vena, viel Wut, aber auch viel Liebe und Hoffnung. In der Frauensolidarität zwischen Marla und Jenny und in den beeindruckenden Szenen von Lexas Geburt und ersten Lebensstunden. Chiara Fleischhacker bricht nicht nur mit dem Klischee der laut kreischenden Filmgebärenden, sondern fängt mit Hilfe eines Geburtsdoubles auch die Magie eines neuen Lebens ein.
Auch an anderen Stellen konterkariert Vena Stereotype. Auffällig ist hier vor allem die Charakterzeichnung von Bolle als hart arbeitendem, suchtkrankem Menschen aus der Arbeiterklasse und liebevollen Partner, der Jenny stets mit Liebe und Respekt begegnet und immer wieder bei der Hausarbeit zu sehen ist.
In Anbetracht der Bilder in unseren Medien, dem demütigenden Zurschaustellen von Menschen in prekären Lebensverhältnissen in vermeintlich besonders realitätsnahen Fernsehformaten und den immer gleichen Abziehbildern überforderter Mütter mit Extensions und Gelnägeln in Kino- und TV-Dramen, ist es leicht aus einer klassistischen Perspektive eine suchtkranke Mutter abzuwerten, als schwach zu bezeichnen, sie zu beschämen und ihr das Recht auf Elternschaft abzusprechen. Vena aber zeigt das Gegenteil: eine starke Frau, die es mit sich selbst und einem ganzen System aufnimmt, um in Beziehung zu ihrem Baby zu treten, deren immense Kraft uns Respekt einflößt und der wir schließlich nichts sehnlicher wünschen als ein Leben mit ihren Kindern.
Kinostart: 28. November 2024
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